Schöne neue Welt

Wie kann der Radsport der Zukunft aussehen? Ganz anders, sollten sich die Gegner der UCI durchsetzen. Ein Ausblick.

 

Die viertägige Indian Classic, Neu Delhi, 2022
Zwei 22-jährige Radprofis, Luke Armstrong und Charlie Vaughters, steigen aus ihrem Teambus aus, schauen nach, ob die winzigen Kameras, die in ihrem Rahmen eingebaut sind, nicht verdeckt sind, und radeln dann an den höflichen Fans vorbei, die sich im Fahrerlager – pardon, im Village Départ, herumtreiben. Obwohl Französisch noch immer die offizielle Sprache des Radsports ist, wirkt sie im Indien des Jahres 2022 etwas affektiert. In Delhi stehen die Busse im Village Départ – nicht draußen, wo sich die gewöhnlichen Fans tummeln, sondern tatsächlich innerhalb des exklusiven Bereichs, zu dem nur VIPs und zahlende Kunden Zutritt haben. Diese Leute können mit den Fahrern sprechen, die da draußen nicht.

Sie bleiben stehen, um sich fotografieren zu lassen und Autogramme zu geben, dann setzen Armstrong und Vaughters, die zwei Jungstars des Radsports, jene alte Fehde zwischen ihren Vätern Lance und Jonathan fort, indem sie sich aus dem Weg gehen. Die heutige Etappe ist flach und sollte dem Sprinter Rick Zabel liegen, obwohl der Veteran Mark Cavendish, der seine letzte Saison bestreitet, ihm in die Quere kommen könnte. Am Vorabend ist ein Zeitfahren ausgetragen worden, das der erfahrene Taylor Phinney gewonnen hat; morgen steht vormittags ein Mannschaftszeitfahren und nachmittags ein Kriterium auf dem Programm. Übermorgen wird eine Bergetappe im Himalaya den Schlusspunkt des viertägigen Rennens bilden.

 

Keiner dieser Fahrer steht in den Diensten eines „Trade Teams“, wie man das früher nannte. Sie fahren für sogenannte „Franchises“ mit Phantasienamen – Slipstream, La Vitesse, Strada Alta (ein italienisches Team, dessen Name ein klares Plagiat des alten, leider aufgelösten Highroad-Teams ist). Sponsoren kommen und gehen, aber Franchises bleiben. Und die Fahrer stehen meist besser da – zumindest finanziell. In der von 14 Teams ausgetragenen World Series Cycling (WSC) gibt es ein Mindestgehalt, ein rücklagenfonds stellt sicher, dass die teams stabiler sind als in den alten Zeiten, wo sie komplett von einem titelsponsor abhingen. Dazu ist der Radsport wirklich global geworden.

Doch all das hatte seinen Preis. Zwar gibt es nach wie vor die drei großen Landesrundfahrten in Frankreich, Italien und Spanien, auch die fünf Monumente Mailand – San Remo, die Flandern-Rundfahrt, Paris – Roubaix, Lüttich – Bastogne – Lüttich und die Lombardei-Rundfahrt werden noch ausgetragen. Aber andere alte Rennen sind veschwunden, der europäische Kalender wurde dezimiert. Klassiker wie Gent – Wevelgem und San Sebastián überleben nur dank der Bemühungen der örtlichen Organisatoren und Sponsoren, aber sie haben einen regionalen Charakter. Von den Etappenrennen im Frühjahr spielt nur noch Paris – Nizza eine Rolle. Die WSC-Teams und -Fahrer sind eher in Indien, China oder Brasilien unterwegs als in der Toskana, Katalonien oder der Romandie.

Und die Straßenweltmeisterschaft der UCI? Es gibt sie noch, aber sie hat ein ähnliches Schicksal erlitten wie der FA Cup, jener Pokalwettbewerb im englischen Fußball, der in den 90er-Jahren finanzstarke Konkurrenz durch die Premiership und Champions League bekam und immer mehr an Prestige verlor. Seit Einführung der WSC ist das Regenbogentrikot wie der FA Cup zu einem Symbol für Geschichte und Tradition geworden statt zu einer harten Währung. Und im neuen Radsport gibt Geld den Ton an.

Könnte der Radsport im Zeitalter der World Series Cycling – oder wie auch immer die abgespaltete Liga heißen könnte – so aussehen? Hört man Jonathan Vaughters zu, Manager von Garmin-Barracuda und Präsident der Fahrervereinigung AIGCP, wenn er beschreibt, was ihm ein Blick in seine Kristallkugel verrät, könnte ein Bild entstehen, das dem oben beschriebenen ähnelt.Johan Bruyneel von RadioShack-Nissan ist ein weiterer Teamchef, der auf Veränderungen drängt, die den Teams wesentlich mehr Macht und zwangsläufig mehr Geld geben sollen. Es wurden Vergleiche gezogen mit Fußball-Ligen und der Formel 1, die in eigener Regie als äußerst lukrative Unternehmen betrieben werden und von ihrem traditionellen Verband mehr oder weniger unabhängig sind.Daher ist es kein Wunder, dass der Radsport-Weltverband, die UCI, Angst hat. Als im März 2011 zum ersten Mal Pläne für eine autonome Liga bekannt wurden, veranlasste das den UCI-Präsidenten Pat McQuaid zu einer wütenden Reaktion. Er schrieb einen offenen Brief, vordergründig über eine andere Kontroverse, das Funkverbot, fügte aber hinzu, er und die UCI seien „fest überzeugt, dass dies kein Streit um den Funkverkehr, sondern um Macht und Kontrolle ist. Die UCI weiß, dass von einigen Teammanagern Schritte zum Aufbau einer privaten Liga außerhalb der UCI unternommen werden. Ich frage mich, ob die finanziellen Vorteile, die sie verfolgen, Ihnen, den Fahrern, zugute kommen werden. Irgendwie glaube ich das nicht. Ich zitiere Johan Bruyneel: ‚Ich habe die Grundlagen für etwas Großes gelegt …‘“

Im Jahr zuvor, während der Frühjahrsklassiker 2010, hatte Bob Stapleton davon gesprochen, dass größere Veränderungen in der Struktur des Profi-Radsports wünschenswert seien. Wie bei Bruyneel klang es bei Stapleton nicht so, als ob die Revolution eine vage Möglichkeit wäre – eher, als stünde sie bevor. 18 Monate später ist Stapleton nicht mehr da, sein überaus erfolgreiches HTC-Highroad-Team wurde Ende 2011 aufgelöst. Aber vielleicht veranschaulicht das nur den Standpunkt, den er, Vaughters und Bruyneel vertreten – dass das gegenwärtige „Modell“ für den Profi-Radsport zu labil ist, zu sehr von den Launen der Sponsoren abhängt und letztlich nicht haltbar ist.

18 Monate nach ersten Meldungen über eine mögliche eigenständige Liga nahm das Vorhaben konkretere Züge an. cyclingnews.com berichtete über Einzelheiten einer vorgeschlagenen „World Series Cycling“ (WSC), für die Anfang 2011 Pläne gemacht wurden. Die WSC sei als ein Joint Venture von 14 führenden Teams, der Rothschild-Gruppe und der Londoner Gifted Group geplant. Ziel sei der „Aufbau eines neuen, wirklich globalen Rennbetriebs – der WSC – mit 14 Radsportteams beziehungsweise Franchises in zehn neu zu gründenden Rennen.“ Die WSC würde „die Teams in den Mittelpunkt stellen“, wobei es neben den großen Landesrundfahrten, fünf Monumenten und weiteren acht Rennen in Europa zehn neue viertägige Rennen in den „neuen Märkten“ des Radsports außerhalb Europas geben solle. Recht ehrgeizig wurde in dem Vorschlag 2013 als erstes Jahr der WSC genannt.

Der Weltverband reagierte aufgebracht, McQuaid nannte die Pläne „undurchführbar“. Aber für so unausführbar hielt man sie offenbar nicht, denn die UCI beeilte sich, sich verschiedene Domain-Namen (worldseriescycling.com, worldseriescycling.net und worldseriescycling.org) zu sichern, die für das neue Joint Venture hätten attraktiv sein können. Das dürfte nicht reichen, um die Pläne von Vaughters, Bruyneel, Rothschild und Jonathan Price sowie Thomas Kurth von der Londoner Gifted Group zu durchkreuzen, die bekannt dafür sind, sich mit Sportverbänden anzulegen. Kurth ist der frühere Chef der G14, in der die reichsten Fußballclubs der Welt zusammengeschlossen waren.

Vaughters scheint sich vom Widerstand der UCI nicht beeindrucken zu lassen. „Die kritische Masse, die erforderlich ist, um einen positiven Wandel herbeizuführen, ist da“, sagt er zu Procycling. „Es gab in den letzten Jahren genügend Vorfälle, die genügend Parteien erzürnt und aufgebracht haben, sodass ich glaube, dass die Leute einen positiven Wandel wollen. Sie wollen, dass der Sport professioneller gemanagt wird.“Aber nicht nur die UCI hat eine mögliche Abspaltung kritisiert. Viele Fans sind skeptisch, was die Motive der treibenden Kräfte – das heißt der Teams – angeht. Vaughters, der weniger negative Presse gewöhnt ist als Bruyneel, bleibt gelassen. Aber er gibt zu, dass es Zeit braucht: „Es ist ein sehr langfristiger Prozess und muss sehr sorgfältig durchdacht werden.“

Bei jedem Gespräch über eine eigenständige Liga ist die Beteiligung der Organisatoren der wichtigen Rennen der springende Punkt. Aber warum sollte die A.S.O., die die Rechte an der Tour de France besitzt und gute Gewinne damit macht, für eine Veränderung sein, vor allem, wenn diese darauf abzielt, dass die Profite breiter verteilt werden, wie etwa die Einnahmen aus den Fernsehrechten? Für Vaughters würde ein „professioneller gemanagter Sport, im Gegensatz zum jetzigen Modell, wo er im Prinzip als Amateursport mit professionellem Aspekt betrieben wird, allen zugute kommen. Aber er gibt zu, dass die A.S.O. nicht so leicht zu überzeugen sein wird.
„Die A.S.O. verdient viel Geld mit der Tour de France“, betont er. „Ist es in ihrem Interesse, diesen Weg einzuschlagen? Ich glaube ja. Aber glaube ich, dass es einiger Überzeugungsarbeit bedarf? Absolut. Im Moment sehen sie nicht, dass sie, wenn sie Geschäftspartner der Teams werden, den Fans mehr Zugang geben und zusammen an neuen Rennen arbeiten, dazu beitragen, den ganzen Sport voranzubringen, und am Ende mehr haben als vorher.
Stattdessen denken sie: ‚Moment mal, ihr wollt etwas von unserem Geld?‘ Die kurzfristige Aussicht ist, dass sie nicht darauf anspringen. Aber meine langfristige Hoffnung ist, dass sie überzeugt sein werden, dass es in ihrem eigenen Interesse ist.“

Ein Vorteil für alle, so Vaughters, wäre „mehr Stabilität bei den Parteien, mit denen man arbeitet“. Das heißt, dass die Teams nicht so anfällig für die Wechselfälle des wirtschaftlichen Klimas und die Launen der Sponsoren sind. Und es bedeutet, dass die Teams nicht mehr ausschließlich von einem Titelsponsor abhängen, sondern sich aus einer Reihe von „stabilen Quellen [finanzieren]: Fernsehrechte, Merchandising, Ticket-Verkauf, Sponsoren.“ Zudem will Vaughters einen unabhängig verwalteten Rücklagenfonds von 30 bis 40 Millionen Euro, der Schutz davor bietet, dass das erfolgreichste Team – er nennt das Beispiel HTC-Highroad – über Nacht verschwindet.

Was den Vergleich mit der englischen Premier League und der Formel 1 angeht, so schaut Vaughters lieber weiter nach Westen. „Ich sehe die englische Premier League als etwas, das man vermeiden sollte. Sie wird nur größer und größer, aber sie ist kein Beispiel für ein verantwortliches Geschäftsmodell, weil die Teams eine hohe Schuldenlast zu tragen haben. Ich schaue mehr auf das amerikanische Sportmodell und ihr Ertragsmodell, wo der Ticketverkauf wichtig ist, aber nicht das große Ding: Der größte Teil der Erträge sind die Fernsehrechte.“

Es gibt andere Gründe, weswegen einige fürchten, dass der Radsport den Weg der Formel 1 beschreitet, die für Außenstehende in einer Blase des Reichtums und der Exklusivität existiert. Als im vergangenen Jahr der erste Grand Prix in Indien ausgetragen wurde, wurde kritisiert, dass er die einheimische Bevölkerung nicht erreichen würde.

„Der Radsport findet auf öffentlichen Straßen statt“, betont Vaughters. „Vielleicht könnte man für einige Abschnitte der Straße Tickets verkaufen, aber das ist nicht das, was der Radsport braucht, um seine wirtschaftliche Plattform zu stabilisieren. Wir wollen, dass der Sport offen für jeden ist, der zuschauen möchte – darin sind sich alle einig.“

Eine weitere Kritik an der geplanten Liga ist, dass sie den Schwerpunkt auf die Teams legt. Die WSC-Pläne sehen eine Zukunft vor, in der die Fans ihre Lieblings-Mannschaft unterstützen, nicht einen Fahrer – eine Vorstellung, die vielen unrealistisch erscheint. Trotzdem muss ein inhärentes Problem gelöst werden: dass der Radsport – was vielleicht einzigartig ist – eine „individuelle Mannschaftssportart“ ist. „So lange wir uns auf den Einzelnen konzentrieren, werden die Sponsoren sagen: „Warum soll ich ein Team sponsern?’“, argumentiert Vaughters und klingt, als würde er aus Erfahrung sprechen. „Damit der Radsport wirklich eine Mannschaftssportart wird, muss es Budget-Obergrenzen und mehr Angleichung bei den Gehältern geben“, fährt er fort. „Die Stars werden natürlich besser bezahlt, aber die Leute erkennen den Wert der Arbeitsbienen. Um ein Team aufzubauen, das sich nicht auf den Einzelnen konzentriert, muss mehr Betonung auf der Marke und dem Image des Teams liegen. Nur so bekommen wir mehr Sponsoren-Dollars rein.“

Wenn Charlie Vaughters also alt genug ist, um (theoretisch) als Profi in der wunderbaren Welt der World Series Cycling zu fahren, was würde sein Vater dann gerne sehen? „Meine Idealvorstellung ist, dass es einen 30 bis 40 Millionen Euro umfassenden Rücklagenfonds gibt, der unabhängig verwaltet wird“, sagt Vaughters. „Das Ertragsmodell der Teams hat sich geändert, ungefähr 40 bis 50 Prozent ihres Budgets kommen von Sponsoren und 50 bis 60 Prozent aus anderen Quellen: Fernsehrechte, Merchandising, gemeinsame Marketingaktivi- täten, Erträge aus neuen Rennen an neuen Orten. Die Teams, die an den Top-Events teilnehmen, sind etabliert und stabil, sodass sie eine solide Fan-Basis aufbauen können. Sie müssen nicht jedes Jahr um eine Lizenz kämpfen. Es wird eine bessere Dopingbekämpfung in puncto Technologie und Umsetzung geben. Und schließlich gibt es eine Budget-Obergrenze für die Teams, ein Mindestgehalt und mehr Gleichheit bei den Gehältern, sodass der Radsport wirklich eine Mannschaftssportart wird.“

Dann gibt es kleine Details – längst überfällige Innovationen bei der Übertragung, wie etwa Kameras an den Rennrädern. Vaughters glaubt, dass in diesem Bereich keine Fortschritte gemacht werden, weil die Anreize für die Teams fehlen. „Wenn jemand eine Kamera an ein Rad schrauben will und nur die Sendeanstalt und der Organisator davon profitieren, ist das ein bisschen unfair“, erklärt er. „Die Reaktion ist: Nein, ihr könnt keine Kamera an meinem Rad oder in meinem Auto anbringen.“ Und er stellt sich vor, dass aus dem Village Départ mehr gemacht wird, es Privilegien für Leute gibt, die Tickets gekauft haben. Das wird einigen nicht behagen, doch Vaughters besteht auf dem Prinzip, dass Straßenradsport kostenlos zu sehen sein muss.

Die Vision ist langfristig angelegt und teilweise diffus, aber es lässt sich ein klarer Umriss erkennen. Es scheint sicher, dass die UCI jegliche Abspaltungsversuche weiter bekämpfen wird, und ein schwerer Konflikt könnte ausbrechen. Der dürfte aber kaum Konsequenzen haben: Die große, entscheidende Frage ist, ob die A.S.O. überzeugt werden kann, mit an Bord zu kommen. Wenn das gelingt, könnte der Fokus in zehn Jahren in Indien, China oder Brasilien wieder auf dem Sport liegen und darauf, ob Charlie Vaughters sich gegen Luke Arm-strong durchsetzt oder ob Rick Zabel schneller ist als der alte Schützling seines Vaters, der grauhaarige Veteran Mark Cavendish.



Cover Procycling Ausgabe 97

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 97.

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