Titelthema: Peter Sagan

Peter Sagan konnte bei der diesjährigen Tour de France machen, was er wollte – er gewann einfach keine Etappe. Fünfmal landete der Tinkoff-Saxo-Profi auf dem zweiten Platz, geschlagen von schnelleren Sprintern oder leichteren Kletterern.  Und doch konnte er am Ende des Rennens ein viertes Grünes Trikot sein Eigen nennen und stand bei den Fans extrem hoch im Kurs – dank seines Stils auf dem Rad und seines Humors abseits der Straße. In einer verdrießlichen Tour lieferte er die nötige Portion Leichtigkeit. Seine Vielseitigkeit ist beispiellos. „Ich bin ein besonderer Fahrer“, sagt der Slowake. Aber was muss er tun, um zweite Plätze in Siege zu verwandeln?

 

Ende Juli wandte sich Peter Sagan zum ersten Mal seit zwei Jahren den Nach-Tour-Kriterien zu. Es war nicht der Wirbelwind von 2012, bei dem die Kasse klingelte, als er acht oder neun dieser Kirmesrennen fuhr. Er bestritt nur drei, aber das reichte, um zu bestätigen, was wir alle schon wussten: dass die Popularität des 25-Jährigen neue Höhen erreicht hatte. Das wurde perfekt eingefangen vom Foto der Siegerehrung beim Kriterium in Aalst am Montag nach der Tour. Mit einem Feier-Bier strahlte er von der obersten Stufe des Podests in die Kameras und eine gewaltige, angeheiterte Menschenmenge. Zu seiner Linken der belgische Meister, zu seiner Rechten das Gelbe Trikot von 2015. Wenn Kriterien Beliebtheitswettbewerbe sind – und das sind sie –, war dies eine hervorragende Momentaufnahme seines gegenwärtigen Status als marktfähigster Star des Radsports. Und das, obwohl Sagan seit 2013 keine Tour-Etappe mehr gewonnen hat. Er ging aus dem diesjährigen Rennen mit elf Top-Five-Plätzen (darunter fünf zweite Plätze), einer Reihe von löblichen Erwähnungen nach Auftritten in Ausreißergruppen und natürlich seinem vierten Grünen Trikot in Serie hervor. Wenn er das Ganze nur mit einem Etappensieg hätte krönen können … Sagan ist nicht der Erste, der die Wirkung des Verlierer-Paradoxes zu spüren bekommt. Roger Federer, der wohl beste Tennisspieler aller Zeiten, sagte, seine Popularität sei gestiegen, nachdem Rafael Nadal ihn im Wimbledon-Finale 2008 geschlagen hatte. In seiner Heimat hatte auch Fabian Cancellara dieses Gefühl: Heldenhafte Niederlagen bringen mehr Fans als tatsächliche Siege. Sagans Erfahrung in jüngerer Zeit zeigt, dass der Schweizer kein Monopol auf den Status des liebenswerten Underdogs hat. In der Slowakei lautete die denkwürdige Überschrift einer Zeitung: „Die Leute erinnern sich immer an die Sieger und an Peter Sagan.“ Seine Freundin, Katarina Smolkova, brachte es in einem Interview mit dem belgischen Fernsehen auf den Punkt: „Dass er Zweiter ist, ist vielleicht sogar noch besser für ihn, denn diese zweiten Plätze machen ihn berühmt. Er wird immer populärer, die Leute beten, dass er gewinnt.“ Wenn Smolkova das erkennt, wird es auch Sagan nicht entgangen sein.

Procycling trifft den 25-Jährigen am Vorabend der Vuelta auf der heißen Veranda eines Golfhotels. Es ist sein erstes richtiges Rennen nach der Tour und er erklärt, sich seiner Form nicht sicher zu sein und das Rennen in Spanien als Vorbereitung für sein drittes und letztes Ziel der Saison zu nutzen: die Weltmeisterschaft. Bei einem Kaffee sagt er scherzhaft, er habe die Tour, die Reihe von zweiten Plätzen und das Trikot schon vergessen. „Das war vor einem Monat und jetzt schaue ich nach vorn. Ja, ich bin zufrieden mit meiner Tour de France und was ich erreicht habe, aber ich bin auch froh, dass ich sie beendet habe“, erklärt Sagan etwas kryptisch. Froh, dass er es bis nach Paris geschafft hat, oder froh, dass sie vorbei ist? Er führt es nicht weiter aus. Wir fragen, wann er aufgehört hat, die Fragen, die nach noch einem zweiten Platz immer wieder gestellt werden, zu beantworten oder überhaupt zur Notiz zu nehmen. „Seit letztem Jahr!“, sagt er prompt, bevor er das raue Lachen loslässt, das jeden seiner Scherze begleitet. Und davon gibt es viele. Er nimmt regelmäßigen Englisch–Unterricht, seit er bei Tinkoff-Saxo ist, erfahren wir, und er hat deutliche Fortschritte gemacht.

Um auf seine Resultate bei der diesjährigen Tour de France zurückzukommen – haben ihn all diese zweiten Plätze frustriert? „Nein. Nun ja, es hängt davon ab, wie du den zweiten Platz siehst“, erklärt er. „Wenn du der Beste bist und Zweiter wirst, dann ist es natürlich schlecht. Aber wenn du Zweiter wirst und der Erstplatzierte hat mit einigem Abstand gewonnen, dann ist der zweite Platz auch gut.“ Es ist eine Antwort, die Licht auf die starke Selbstkritik wirft, die er übte, nachdem er auf der 13. Etappe in Rodez einem anderen ewigen Zweiten unterlag, Greg Van Avermaet. „Es ist kein Pech, es war ein Fehler“, sagte er an jenem Tag, nachdem er zu früh Tempo rausgenommen hatte. „Ich bin sauer.“ Auf der anderen Seite war er stolz auf seinen zweiten Platz hinter Rubén Plaza drei Tage später in Gap. Das war Sagan in Bestform. Man erinnere sich an seine rasante und gefährliche Abfahrt vom Col de Manse, bei der die Fans seine Courage und Radbeherrschung anbeteten. Er klopfte sich auf der Linie auf die Brust – sein fünfter zweiter Platz. Er kam an dem Tag 30 Sekunden hinter Plaza ins Ziel, aber sorgte für die meiste Furore. „Ich habe alles versucht“, sagte er. „Ich wusste, dass ich in der Abfahrt alles geben musste, auch wenn ich dabei hätte sterben können.“ Auf der Veranda sagt Sagan hinter seiner verspiegelten Oakley: „Vielleicht habe ich zu viel von mir erwartet und es fehlte mir etwas. Einmal kämpfe ich gegen die Sprinter, das nächste Mal ist es ein Kletterer und dann ist es eine kleine Gruppe oder ich bin in einer Ausreißergruppe. Jeder Tag war anders und es war sehr schwer zu sagen, was ich ausrichten kann. Ich ergreife einfach jede Chance.“  

Sagan brachte mehr mit zur Tour als einen glühenden und letztlich unerfüllten Wunsch, Etappen zu gewinnen. Sein wohl größter Beitrag war sein Flair und Stil auf dem Rad und sein Humor und Charisma abseits der Straße. Sporttheater, zumindest das von der unterhaltsamen Sorte, war bei der Tour Mangelware, aber seine originellen Bemerkungen waren ein erfrischend komisches Element in einem ansonsten verdrießlichen und schlecht gelaunten Rennen. Seine schiere Klasse, die unermüdlichen Angriffe und seine wahnsinnigen Abfahrten belebten eine Etappe nach der anderen. Wenn der Pressecorps es leid war, von Spekulationen über Chris Froomes Wattzahlen zu berichten, hatte Sagan immer ein Bonmot für uns … wie nach der 16. Etappe, als er gefragt wurde, warum er am dritten Tag in Folge in eine Ausreißergruppe gegangen sei. „Weil ich große Eier habe“, sagte er vergnügt. Ob er technisch anspruchsvolle Abfahrten herunterschoss – eine Fähigkeit, die auf seine früheren Zeiten als Mountainbiker und Cyclocrosser zurückgeht – oder Froome in der Mixed Zone wegen der Embleme auf seiner Kappe aufzog, seine Omnipräsenz war köstlich. Sagan versichert, dass diese exhibitionistische Strähne keine Angeberei um ihrer selbst willen oder Selbsterhöhung sei – sie diene nur der Unterhaltung. „Ich mache mein eigenes Ding“, sagt er. „Ich lebe mein Leben, nicht das eines anderen. Wir fahren für die Leute, die uns zuschauen. Wenn ich etwas Lustiges mache, ist es für sie.“ Sein Hang, Mätzchen zu machen, wenn die Kameras auf ihn gerichtet sind, ist weder neu, noch kommt sie bei allen gut an. Schon 2008 schaute er bei der MTB-Europameisterschaft der Junioren die Zielgerade herunter, als hielte er Ausschau nach dem Zweiten. Als er 2012 ähnlich theatralisch feierte, nachdem er seinen dritten Tour-Etappensieg in sieben Tagen geholt hatte und der jüngste Etappensieger seit fast 20 Jahren geworden war, fanden einige seine Forrest-Gump- und Hulk-Nummern respektlos. Das Gefühl herrschte auch 2013 vor, als Sagan es mit den Albernheiten etwas übertrieb und einem Podiumsmädchen in den Hintern kniff. Sein Rivale Fabian Cancellara sagte, Sagan müsse „noch viel lernen“. Das war Sagan, Version eins. Nach einem Teil unseres Interviews sagt Sagan: „Bei diesem Sport geht es um Respekt.“

Vielleicht haben zwei weitere Jahre Erfahrung und die scheinbar endlose Reihe von zweiten Plätzen seine raueren Kanten etwas abgeschliffen. Aber was in der Version 2.0 nicht verloren ging, ist seine Verspieltheit. Er sagt: „Viele Fahrer nehmen den Radsport sehr ernst und es gibt viel Stress in der Gruppe – keinen Spaß. So kann man auch an das Leben herangehen. Du kannst frustriert sein oder du siehst es von der anderen Seite und es ist immer noch gut und macht Spaß und vielleicht ist dieser Moment an mir vorbeigegangen.“ Er ist jetzt auch ein etablierterer Fahrer mit wohl stärkeren und breiteren Freundschaften im Peloton. „Wir haben viel Zeit in der Gruppe verbracht“, bestätigt er. „Wir waren 21 Tage lang vielleicht fünf Stunden zusammen und ich rede mit allen in der Gruppe. Wenn ich möchte, dass sie mir einen Gefallen tun, tun sie es, und wenn sie mich um einen Gefallen bitten, erwidere ich ihn.“ Spricht man mit den Mitarbeitern seines Teams, wird klar, dass das Mantra „er hat einfach Spaß am Radfahren“ weit verbreitet ist. Der Pressesprecher seines Teams zeigte uns ein Video von Sagan in nonchalanter Bestform, wie er beim Training in einer schnellen Abfahrt mit seinem Hinterrad eine fallende Trinkflasche wegzufegen versucht. Stefano Feltrin, Tinkoff-Saxo-Manager, sagte uns: „Er liebt es, Rad zu fahren, liebt es, mit seinen Teamkollegen zusammen zu sein. Ich würde sagen, er ist sich selbst treu. Es gibt keinen Unterschied zwischen dem öffentlichen Peter und dem privaten Peter.“  

Apropos Teammanagement: Sagan musste sich in seinem ersten Jahr bei Tinkoff-Saxo einige ungnädige  Bemerkungen anhören von … Oleg Tinkow, dem vermeintliche Teameigentümer, der von Feltrin „Anteilseigner“ genannt wird. Im Mai, einen Tag, bevor Sagan die Kalifornien-Rundfahrt gewann, wurde Tinkow von der Gazzetta dello Sport zitiert, er berate sich mit Anwälten, wie er die angeblichen vier Millionen Euro, die Sagan im Jahr verdient, reduzieren könne. „Wenn sie gewinnen, ist es okay, sie bekommen immer mehr Prämien und die Teams erhöhen sie sogar während der Saison. Das passierte bei meinen Fahrern im letzten Jahr“, sagte Tinkow über seine Preise für die Klassiker. „Leider kannst du ihr Gehalt nicht reduzieren, aber sie bekommen einen Bonus, wenn sie gewinnen. Wenn nicht, kosten sie trotzdem noch sehr viel und das tut wirklich weh.“ Aber zwei Monate später, nachdem Sagan den dritten von vier Tagen in Folge in der Ausreißergruppe war, ruderte Tinkow schleunigst zurück und nannte Sagan den stärksten Fahrer des Pelotons. Stärker als Froome. „Ach, er hat viel gesagt“, relativiert Sagan die Kommentare von Tinkow. Neben ihm lächelt der Pressesprecher des Teams mitfühlend. Sie haben alle gelernt, mit den vollmundigen Äußerungen des Russen zu leben. Sagan geht nicht auf sein Verhältnis zu Tinkow ein und weist darauf hin, dass auch andere Leute zu beurteilen haben, was er könne und ob er das Etikett „stärkster Fahrer“ verdient habe. Man bekommt den Eindruck, dass Sagan trotz der Launenhaftigkeit seines Teamchefs das Leben bei Tinkoff-Saxo wirklich genießt. „Es ist sehr gut, die Gruppe von Fahrern hier, und es ist ein sehr nettes Team“, sagt er. „Vieles ist hier anders als bei Cannondale. Es ist viel internationaler, das Budget ist größer und der Support besser.“ Und nie habe er sich in den letzten neun Monaten gewünscht, in einem anderen Team zu sein, versichert er.

Die Frage, die Sagan seit zwei Jahren beschäftigt, ist, warum er bei seinem enormen Talent nicht mehr große Rennen gewinnt. Monumente, Tour-Etappen? Manch einer hält Sagan für taktisch naiv. Mailand – San Remo in diesem Jahr war ein solcher Fall: Am Poggio preschte er voran, konnte sich in der Abfahrt aber nicht entscheidend absetzen. Zwei Kilometer vor dem Ziel war er an der Spitze des Feldes, um Vierter zu werden. Als er letztes Jahr bei Tinkoff-Saxo für drei Jahre unterschrieb, schien die Paarung mit dem taktisch gerissenen Bjarne Riis die Lösung des Problems zu sein. „Er muss noch viel über die taktischen Aspekte des Radsports lernen, um seine Kraft voll nutzen zu können, aber ich bin überzeugt, dass wir ihm dabei helfen können und er noch besser wird“, sagte Riis in einer Pressemitteilung im August 2014. Dann allerdings wurde der Däne gefeuert und Sagans Serie von zweiten Plätzen setzte sich fort. Doch der Fahrer sieht das anders: „Es geht nicht darum, wie ich die Waffen einsetze“, sagt er. „In den ersten zwei Jahren kannte mich keiner, da war es leicht. Na ja, nicht leicht, aber anders“, stellt er klar. „Weißt du, ich konnte attackieren und alleine ins Ziel fahren. Jetzt greife ich an und es sind gleich zehn Fahrer hinter mir. Das ist der Unterschied jetzt. Es ist Radsport, das ist Sport, und daran muss man sich gewöhnen“, sagt er. Feltrin deutete dagegen an, dass die taktische Angreifbarkeit geblieben ist. „In diesem Jahr hat es einige Rennen gegeben, wo er ein besseres Ergebnis hätte holen können, und er hat zugegeben, dass die Niederlagen manchmal sein Fehler waren und manchmal nicht.“

 

Es ist ein Dilemma, von dem Fabian Cancellara ein Lied singen könnte. Bei den Frühjahrsklassikern 2011 konnte der Schweizer keinen einzigen Antritt machen, ohne von einer Schar von Konkurrenten verfolgt zu werden. Obendrein tendierte er dazu, sich als Zugpferd zu betätigen und bei der Aufholjagd eine ganze Gruppe hinter sich herzuziehen. Sagan scheint es genauso zu ergehen. Aber mit einem Tick mehr Vielseitigkeit und weniger schieren PS als der Schweizer ist er anfälliger dafür, Hinterradlutscher anzuziehen. Cancellaras Lösung war teilweise, den Fuß vom Gas zu nehmen und andere zum Handeln zu zwingen – das Privileg eines früheren Siegers vielleicht, und Sagan folgt diesem Muster möglicherweise in Zukunft. Feltrin zufolge will das Team seine taktischen Optionen diversifizieren. „Wir haben gesehen, dass uns etwas fehlte. Andere Mannschaften sind besser aufgestellt als wir und man kann wohl sagen: Wenn du heute einen Fahrer wie Peter hast, ist es wie bei Cancellara vor wenigen Jahren, das heißt, dass alle gegen ihn fahren. Für nächstes Jahr wollen wir an einem Plan B arbeiten. Wenn alle auf Plan A schauen, welche Alternative haben wir?“

Bei unserem Redaktionsschluss stand der Kader des russischen Rennstalls für 2016 noch nicht fest, aber Feltrin versprach, dass es keine radikalen Änderungen geben würde. „Wir haben sehr gute Fahrer, die zusammenpassen, und unser erstes Ziel in der nächsten Saison ist, das beizubehalten und neue Fahrer zu holen, die gut in die Gruppe passen“, erklärte er. Es spricht für Sagans Talent und seine Ambitionen, dass er seit drei Jahren einem Sieg bei einem Monument hinterherjagt – seit er 22 ist. Für einige Beobachter sind die vielen knappen Niederlagen – sechs Top-Five-Plätze bei zehn Frühjahrsklassikern, die er seit 2012 bestritten hat – alarmierend. Für andere ist die Frage nicht ob, sondern wann. Vergleiche zwischen Cancellara und Sagan werden häufig angestellt und man darf nicht vergessen, dass der Schweizer Fahrer sein erstes Monument mit 25 gewonnen hat (Roubaix 2006). Sagan wird 26 sein, wenn die nächste Klassiker-Saison beginnt – kein großer Altersunterschied. Er hat noch viel Zeit, um dem Radsport seinen Stempel aufzudrücken. Sagan selbst lässt sich von den ausbleibenden Siegen nicht beirren und schöpft Mut aus seinem seltenen hybriden Talent. „Es ist ein Spiel. Ich sehe meine Charakteristika“, sagt er. „Ich bin ein spezieller Fahrer. Viele Fahrer sind Kletterer, viele sind Sprinter, aber es ist sehr schwer, mit den Sprintern und den Kletterern mitzuhalten. Vorne zu sein und gegen beide zu kämpfen, ist etwas Besonderes, denke ich.“ In diesem Jahr kam der beste Ausdruck seines Allround-Talents bei der Kalifornien-Rundfahrt – ein Rennen, bei dem er, seit er Profi ist, jedes Jahr mindestens eine Etappe gewonnen hat. Insgesamt hat er dort 13 Tagesabschnitte für sich entschieden. In diesem Jahr setzte er noch einen drauf und gewann die Gesamtwertung dank einer Kombination aus einem Zeitfahrsieg, einer starken Vorstellung im Anstieg zum Mount Baldy und zu allerletzt einem Sprint, der ihm die entscheidende Zeitgutschrift für den Sieg brachte. Es war die Kletterpartie, die für die meiste Furore sorgte: Sagan wurde Sechster mit 45 Sekunden Rückstand – auf einem Anstieg, der sich 25 Kilometer lange hinzog und dessen letzte fünf Kilometer besonders steil waren. Sagan war selbst überrascht. „Ich hatte nichts zu verlieren. Es ist nicht meine Art von Rennen. Ich hätte nie gedacht, dass ich es gewinnen kann“, sagte er. Er spielte seine Leistung herunter und behauptete, der Anstieg sei nicht so schwer gewesen. Trotzdem blieb er auf Tuchfühlung zu Sergio Henao und Joe Dombrowski und schlug auf die Gesamtwertung fahrende Bergspezialisten wie Haimar Zubeldia, Robert Gesink und Laurens ten Dam. Es war ein klassisches Beispiel dafür, dass das Leadertrikot seinem Träger Flügel verleihen kann.

Was Sagan amüsiert, ist, dass er gehört hat, das Rennen sei schwerer gemacht worden, um es nicht zur „Peter Sagan Show“ werden zu lassen. „Vor drei Jahren habe ich dort fünf Etappen in acht Tagen gewonnen. Und nach dem Rennen hat ein amerikanisches Team gesagt, es sei zu leicht gewesen, wegen all der Etappen, die ich gewonnen hatte, also haben sie diese Berge eingebaut, um das Rennen schwerer zu machen. Jetzt habe ich drei Jahre später die Gesamtwertung gewonnen“, erzählt er lachend. Nach seinem Sieg machte der Slowake ein zweiwöchiges Höhentrainingslager in Utah, sodass er über einen Monat in den USA war. Er hat eine Affinität zu dem Land und dort viele Fans. Außerdem mag er den Tapetenwechsel. „Ich trainiere gerne in Amerika. Ich habe zu Saisonbeginn viel in Kalifornien trainiert und war vor der diesjährigen Tour in Utah. Es ist sehr nett, auf neuen Straßen und in einer anderen Umgebung zu fahren. Es ist ruhig. Es ist gut“, sagt er.

Was ist also mit der unmittelbaren Zukunft für Sagan? Der erhoffte Sieg bei einem Frühjahrsklassiker ist ausgeblieben. Das Grüne Trikot holte er unangefochten – was umso beeindruckender war, als er wenig Unterstützung von seinem Team hatte, das sich auf das Projekt Gesamtsieg mit Alberto Contador konzentrierte. Also konnte er doch insgesamt zufrieden sein, als er sich auf sein drittes und letztes Ziel der Saison vorbereitete. Als Procycling zu Beginn der Vuelta mit Sagan sprach, sagte er, sie sei Teil seiner Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft in Richmond, wo er auf dem technisch anspruchsvollen Klassiker-Kurs, der sogar Kopfsteinpflaster habe, als einer der  Top-Favoriten gelte. Als wir auf die Weltmeisterschaft zu sprechen kommen, scheint sich Sagan eine Scheibe von seinem Teamkollegen Contador abzuschneiden und tiefzustapeln: Wo seine Form nach kurzer Post-Tour-Pause liege, wisse er nicht (letztes Jahr machte er zwischen Tour und Vuelta ein Höhentrainingslager, nach dem er geplättet war), und den Kurs in Richmond habe er sich nicht angeschaut, trotz seines Aufenthalts in den USA. Ohnehin, sagt er, gewinne man ein Rennen nicht, nur weil man die Strecke kenne, wenn man nicht die Beine dafür habe. „Wir werden sehen, welches Niveau ich erreichen kann und in welcher Verfassung ich jetzt bin“, sagt er. „Wir werden nur drei Slowaken sein und deswegen ist es eine echte Lotterie. Du kannst gut abschneiden oder auch nicht. Es hängt vom Rennen ab“, sagt er vage und offenbar nicht geneigt, über die WM zu spekulieren. Aber er hat recht, es ist ein Lotteriespiel. Seit 2000 ist der Weltmeister aus einem Team mit acht Fahrern oder dem Maximum von neun Fahrern gekommen – mit drei Ausnahmen: Roman Vainsteins (Lettland) 2000, Thor Hushovd (Norwegen) 2010 und Rui Costa (Portugal) 2013. Aber zufälligerweise war jeder dieser Sieger auch in einem dreiköpfigen Team. Natürlich geht es dabei nicht nur um den persönlichen Ruhm. Es ist die Chance, als erster Slowake das Rennen zu gewinnen. Bisher hat kein Landsmann überhaupt das Podest geschafft, also stehen die Chancen gut, dass er eine neue Flagge auf die Siegerliste setzt und dem Radsport in seinem Heimatland weiteren Aufwind verleiht.

In Großbritannien kennt man die enorme Wirkung, die Bradley Wiggins auf den Status des Radsports in dem Land gehabt hat, und Sagan hat in der Slowakei einen ähnlichen Boom ausgelöst. Er hat den Radsport dort groß gemacht. Die diesjährige Landesmeisterschaft auf der Straße – ein Rennen für Tschechen und Slowaken – fand in seiner Heimatstadt Žilina vor beeindruckender Kulisse statt. Sagan wurde zum fünften Mal in Folge Landesmeister auf der Straße und zum ersten Mal auch im Zeitfahren. Das Rennen wurde zum ersten Mal in seiner Geschichte live im Fernsehen gezeigt. Das ist die reinste Form des Sagan-Effekts. „Wenn man in der Slowakei fährt, gibt es nur meinen Namen“, sagt er. „Selbst wenn die Leute einen Amateur sehen, rufen sie: ‚Peter, Peter!‘“ Aber durch den sportlichen und finanziellen Erfolg, den Sagan in sechs Jahren erzielt hat, scheint er nicht überheblich geworden zu sein. Und die ausbleibenden Siege haben ihn auch nicht verbittert gemacht, vor allem, weil er nicht viel darüber nachdenkt. Er ist einfach erwachsen geworden und hat immer noch Spaß daran, Rennen zu fahren. Wie er schon einmal gesagt hat, hat der Radsport ihm alles gegeben.     Kurz darauf ist unser Interview vorbei. Ein paar Fotos mit Tim De Waele … und weg ist er, bekommt noch eine Massage und hält eine kurze Siesta, bevor die Mannschafts-Präsentation der Vuelta ansteht. Auf dem Weg zu seinem Zimmer sprechen ihn eine Mutter und ein kleiner Junge an, die sich am Pool mit ihm fotografieren lassen wollen. Er tut ihnen den Gefallen und legt seinen Arm um die Schulter des Kindes. Das erinnert uns an etwas, das er gerade gesagt hat: „Ich versuche nur, freundlich zu sein. Es ist schön, wenn ich das für jemanden tun kann, denn sie freuen sich vielleicht sehr über ein Foto mit mir.“ Es ist diese Bescheidenheit und dieser Humor, die Sagans Stern noch höher hat aufgehen lassen – auch wenn seine Siegesrate abgenommen hat.



Cover Procycling Ausgabe 140

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 140.

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