Die rechte Hand

Der Österreicher Bernhard Eisel spricht über die vergangene Saison und seine gemeinsame Zukunft mit Mark Cavendish beim Team Sky

 

Bernhard Eisel durchlebte eine bemerkenswerte Evolution, einige würden sagen, Metamorphose, seit er 2001 mit 19 Jahren Profi bei Mapei wurde. Nachdem er in seinem letzten Amateur-Jahr in Italien vor allem als Sprintanfahrer für seine Teamkollegen Angelo Furlan und Luciano Pagliarini zum Einsatz gekommen war, galt Eisel nicht gerade als Kandidat für einen Vertrag bei einem großen Team, als er bei der Weltmeisterschaft 2000 in Plouay antrat. Doch der Teenager hatte eine Vision. Er hatte erlebt, dass sein Bruder Arnold – „eine Eins-zu-eins-Kopie von mir“ – internationale Rennen wie die Tour de Suisse und die Österreich-Rundfahrt mit Erfolg bestritten hatte, ohne je den Sprung ins Oberhaus zu schaffen. Aber genau dort wollte Bernie hin.

„Das Problem im österreichischen Radsport war lange, dass du mit Rennen auf nationaler Ebene zu viel Geld machen konntest. Aber das wollte ich nicht“, blickt er Jahre später, am Ende der Saison 2011, zurück. In Plouay wurde er dem italienischen Radsport-Agenten Alex Carera vorgestellt, der wenig später einen Test im Mapei-Trainingszentrum in Castellanza bei Varese arrangierte. Eisel nimmt den Faden wieder auf: „Meine Testergebnisse waren sehr gut, und sie wollten mich nehmen, hatten aber schon 40 Fahrer. Mehr wollte [der Mapei-Eigentümer] Dottore Squinzi nicht haben, also bin ich enttäuscht nach Hause gefahren. Aber ein paar Tage später klingelte das Telefon. Es war Aldo Sassi. Er sagte: ‚Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die gute ist, dass du einen Vertrag hast. Die schlechte ist, dass du morgen um zehn Uhr am Lago Maggiore sein musst, zu deinem ersten Trainingslager.‘“

Kaum hatte Eisel den Hörer aufgelegt, rief er seinen alten Freund und Rivalen Filippo Pozzato an, den sich Mapei ein Jahr zuvor als Teenager geschnappt hatte. In den nächsten zwei Jahren sollten diese beiden und Fabian Cancellara gute Freunde werden und den Kern dessen bilden, was wie die nächste Generation von Mapei-Stars aussah. Bis der Sponsor im Juni 2002 seinen Ausstieg aus dem Radsport bekanntgab.

Ende September saß Eisel in einer Abflughalle irgendwo im tiefsten Frankreich. Gerade war er Zweiter bei Paris – Corrèze geworden, hatte aber immer noch keinen Vertrag für das folgende Jahr in Aussicht. Dann kam der Française-des-Jeux-Sprinter Jimmy Casper auf ihn zu. „Bis dahin waren die einzigen Worte, die ich je mit ihm gewechselt hatte, wütende Streitereien im Peloton gewesen“, erinnert sich Eisel mit einem Maschinengewehr-Lachen, das seinen Redefluss regelmäßig  unterbricht. „Er sagte, dass er mit Marc Madiot reden und mir einen Vertrag besorgen würde. Ein paar Wochen später war der Deal unterschrieben.“

Eisel verbrachte vier glückliche Jahre bei FDJ. Man kann sich auch nicht vorstellen, dass der Fahrer, den Cavendish einmal als „menschliches Antidepressivum“ bezeichnet hatte, irgendwo Trübsal bläst. Nach einem hervorragenden Start in die Saison 2003 zerriss Madiot seinen Vertrag, um ihm einen lukrativeren anzubieten, wie er es bis Ende 2004 zwei weitere Male machen sollte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich Eisel als einer der vielversprechendsten Klassiker-Spezialisten des Pelotons etabliert. Er analysierte den Team-Veteranen und früheren Paris – Roubaix-Sieger Frédéric Guesdon, „eine Legende“, und machte sich im Kopf Notizen. Er beobachtete auch andere Teamkollegen und war zunehmend frustriert. „Ich habe Madiot keinen Vorwurf gemacht. Es waren einfach die Fahrer, die er auswählte“, sagt Eisel. „Er hatte Carlos da Cruz, der so gern die Tour de France fuhr, weil das Essen dort umsonst war! Also bitte! Sie haben nicht verstanden, dass das ihr Job war. Sie waren einfach zufrieden damit, dass sie jeden Tag Rad fahren konnten.“

Sein Frust über den Minderwertigkeitskomplex der französischen Teamkollegen und ihr Unvermögen, technologische Fortschritte zu nutzen, führten schließlich dazu, dass Eisel ein Angebot des von Olaf Ludwig gemanagten T-Mobile-Teams annahm. Wenige Wochen später verschwand Ludwig beim Großreinemachen nach der Operación Puerto, das auch das Ende der Karriere von Jan Ullrich markierte. Eisels Vertrag hingegen wurde eingehalten.

Beim Trainingslager seines neuen Teams im Januar 2007 auf Mallorca erlebte Eisel einen dicken und unfitten Mark Cavendish zum ersten Mal in Aktion. „Er quälte sich in dem Trainingslager, aber an einem Tag haben wir Sprintzüge trainiert“, erzählt Eisel. „Beim ersten Mal war er schnell. Beim zweiten Mal hatte ich so etwas noch nie bei einem jungen Fahrer gesehen.“

Er wusste es damals nicht, aber indem er Cavendish im April 2007 beim Grote Scheldeprijs zwei Kilometer vor dem Ziel aus dem Niemandsland in der Mitte des Pelotons rettete, stieß Eisel das Fenster zu Cavendishs und seiner eigenen Zukunft auf.

79 Siege später, 20 davon bei der Tour de France, ein Grünes und ein Regenbogentrikot, ist Eisel die lebende, atmende und wassertragende Definition des „Super-Domestiken“ geworden. Ausreichend talentiert, um es in seiner Karriere selbst auf 16 Siege zu bringen, darunter Gent –Wevelgem 2010, ist er auch vielseitig genug, um seinen Kapitän in jedem Kontext, auf jedem Terrain zu unterstützen: im Flachen, im Sprint, in den Bergen und natürlich, wenn Cavendish im Teamhotel einen Ratgeber braucht.
 
Bernhard Eisel würde jedem widersprechen, der behauptet, dass Mark Cavendishs annus -mirabilis 2011 im vergangenen Januar begann oder gar mit seinem ersten Saisonsieg bei der Tour of Oman am 20. Februar. Nein, versichert der Österreicher uns im November 2011, es fing genau zwölf Monate früher an. Die beiden hatten beschlossen, sich auf das erste Winter-Camp ihres Teams im kalifornischen Morgan Hill mit einem eigenen vierwöchigen Training in den Hügeln um Los Angeles vorzubereiten. Es gab nur ein, nein, zwei Probleme, als Cavendish in der Ankunftshalle des internationalen Flughafens von L.A. auftauchte: Er trug mehrere Kilo Körpergewicht zu viel mit sich herum, aber kein Fahrrad.

 

Das zweite Dilemma hatte Specialized, der neue Ausrüster von HTC, der etwas weiter oben an der Küste ansässig ist, rasch gelöst. Sich um das Problem mit dem Winterspeck von Cavendish zu kümmern, war wesentlich zeit- und arbeitsaufwendiger. Als seine anderen Teamkollegen schließlich ankamen, sagte er ihnen, er habe sich im Dezember noch nie fitter gefühlt, und Journalisten erzählte er, er sei „im Begriff [in der folgenden Saison], Geschichte zu schreiben“. Beide Gruppen reagierten mit verwunderten Blicken. „Alle machten mir fast Vorwürfe, fragten mich, was zum Teufel wir da gemacht hatten“, erzählt Eisel. „Ich sagte, wir haben trainiert und uns den Arsch aufgerissen. Ich meine, Cav war immer noch ziemlich dick, aber viel dünner als vorher.

Das Ding bei Cav ist, dass es nichts bringt, sich Sorgen zu machen. Du weißt, dass er eine gute Saison haben wird. [Die HTC-Highroad-Sportdirektoren] Rolf Aldag und Valerio Piva sagten dasselbe. Das einzige Ding bei Cav ist, dass er, wenn er wirklich nicht in Form ist, mit sich selbst unzufrieden ist und das an allem auslässt – seinem Bike, dem Wetter, was auch immer. Aber du weißt, dass du bei den großen Rennen, seinen großen Zielen, auf ihn zählen kannst.“

Das erste große Rennen des Briten in der Saison, Mailand – San Remo, war für ihn persönlich ein Flop, für das Team hingegen ein Triumph dank des Sieges von Matt Goss. Als Nächstes kamen die Kopfsteinpflaster-Klassiker und damit Eisels jährliche Gelegenheit, auf eigene Rechnung zu fahren. Auf den siebten Platz bei Gent –Wevelgem folgte ein 14. bei der Flandern-Rundfahrt. „Das war ein bisschen enttäuschend in meinem Lieblingsrennen. Ich habe mich geärgert, dass ich auf der Muur van Geraardsbergen nicht die Beine hatte“, sagt er. Die Wiedergutmachung folgte sieben Tage später mit einer starken Vorstellung bei Paris – Roubaix von Eisel, der Siebter wurde, und seinen HTC-Teamkollegen. „Bei Roubaix waren wir stark und fast den ganzen Tag vorn“, bemerkt er. Cavendish war Flandern übrigens zum zweiten Mal gefahren. Sein 110. Platz war zumindest eine Verbesserung gegenüber dem Vorjahr, als er das Rennen nicht beendet hatte.

Glaubt der Steirer, dass sein Teamkollege die Ronde weiter in Angriff nehmen sollte, um eines Tages auf den Kopfsteinpflaster-Rampen und dem Pavé konkurrenzfähig zu sein? „Ich glaube nicht, dass das Sinn macht“, sagt er ohne zu zögern. „Ich meine, wir gehen jetzt zu Sky, jetzt gibt es keine One-Man-Show mehr. Er wird der Sprinter Nummer eins sein, das ist klar, aber bei HTC wollte er die Klassiker teilweise deswegen fahren, um in der ersten Phase des Rennens helfen zu können, während es bei Sky bessere Leute dafür gibt.“

Nach den Klassikern fuhr Cavendish den Giro und Eisel legte eine Pause ein; dann traten die HTC-Boys bei der Tour de Suisse, und natürlich der Tour de France, wieder zusammen an. Wie in jedem Jahr seit 2008 war der schwierigste Aspekt der Grande Boucle (ganz zu schweigen vom Kampf um das Grüne Trikot) nicht, die Sprints zu gewinnen, sondern, auf den Bergetappen das Zeitlimit zu überleben. „Der schwerste Tag war die Etappe zum Plateau de Beille“, sagt Eisel. „Auf der letzten Abfahrt vor dem Plateau de Beille sprang meine Kette ab, dann stürzte Cav, und plötzlich war das Gruppetto außer Sichtweite. Valerio Piva in unserem Mannschaftswagen sagte uns, dass sie anderthalb Minuten weg waren, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es drei waren. Danny Pate und Lars Bak kamen zurück, um uns zu helfen, und wir fuhren 20 Kilometer lang Vollgas bis zum Fuß des Plateau de Beille. Wenn wir gesprintet wären, hätten wir das Gruppetto dort einholen können, aber wir wussten, dass wir schon am Limit waren, also fuhren wir weiter ein gutes Tempo und holten sie langsam ein. An jenem Tag war es ganz schön brenzlig.“

Es sollte noch mehr Schrecken in den Alpen geben, als die Rennkommissäre die Karenzzeit ausdehnten, aber denjenigen Punkte für das Grüne Trikot abzogen, die – wie Cavendish – von ihrer Barmherzigkeit profitiert hatten und im Rennen geblieben waren. Beide Maßnahmen wurden kritisiert, Erstere vor allem von Cavendishs Rivalen, Letztere von seinen Anhängern. Eisel, der auch inoffizieller Zeitnehmer des Gruppettos war, gehörte natürlich zum zweiten Lager. „Es gibt Leute wie Oscar Freire, die sagen, dass man bestraft werden sollte, wenn man die Karenzzeit überschreitet, aber ich verstehe nicht, warum sie sich nicht ein bisschen schonen und mit uns im Gruppetto fahren“, argumentiert er. „Sie wissen, wie es funktioniert. Außerdem: Wenn sich das Reglement tatsächlich ändern würde, würden wir das Rennen sowieso anders fahren.“
 
Die Vuelta a España war die dritte große Rundfahrt der Saison, bei der Cavendish startete, und die zweite, die er ohne Eisel in Angriff nahm. Zuhause vor dem Fernseher sah der Österreicher, wie sein Freund 40 Kilometer vor dem Ende der 4. Etappe in die Sierra Nevada in  den Mannschaftswagen einstieg und erinnerte sich sofort an seine ersten Fahrten mit einem übergewichtigen Cavendish in Kalifornien. Er griff zum Telefon und rief die HTC-Sportdirektoren in Spanien und Freunde im Peloton an. „War Cav wirklich so schlecht drauf?“ Dann sprach er mit ihm selbst. „Ich bleibe hier und trainiere ein paar Tage mit David Millar in Girona. Ich bin gar nicht so schlecht unterwegs“, versicherte ihm sein Freund.
Eisel war skeptisch. „Die Leute bei der Vuelta sagten, du wärst gekrochen …“ „Nein, nein, nein! Es läuft ganz gut“, protestierte Cavendish wieder.

Drei Wochen später, bei der Großbritannien-Rundfahrt, ließ der Sprinter seine Beine sprechen. Am zweiten Abend versprach Eisel jedem, der zuhören wollte, dass es am nächsten Tag in Stoke nur einen Sieger geben könne, egal, wie schwer der Anstieg im Finale sei. Er lag daneben, aber nur knapp – Cavendish wurde Fünfter. Jetzt machte Eisel eine andere Vorhersage: Cavendish würde auf jeden Fall in Kopenhagen gewinnen.
„Es gibt Fahrer wie Cancellara und Hushovd, die, wenn sie sich wirklich auf ein Ziel konzentrierten, dort antreten und so gut sind, dass es fast irreal ist. So wird Cav auch“, erklärt er.

In Dänemark, wo sie sich am Morgen des Rennens und in der neutralisierten Zone unterhielten, wirkte Cavendish „konzentriert“. Das Rennen begann, und Eisel bemerkte schnell seine Taktik, sich auf dem Anstieg des Rundkurses jedes Mal zurückfallen zu lassen, um Energie zu sparen. „Lass dich auf dem Anstieg nicht zu weit zurückfallen, sonst kannst du Probleme bekommen“, warnte Eisel Cavendish und seinen Begleiter Jeremy Hunt.

Leider folgte Eisel seinem eigenen Rat nicht: Bei dem Sturz, der Hushovd seinen Platz im Sprint kostete, blieb auch Eisel auf der Strecke. Und so verschwand „eine der sehr wenigen Chancen, die ich je in meiner Karriere haben werde, im Finale einer Weltmeisterschaft etwas auszurichten“. Cavendishs Triumph war ein Trost, nicht nur für Eisel, sondern auch für den Rest des HTC-Highroad-Teams, das vor der Auflösung stand. „Ich glaube, dass Bob Stapleton am Ende zu Recht einen Schlussstrich gezogen hat“, blickt Eisel zurück. „Sie hätten sich vielleicht noch ein Jahr über Wasser halten können, aber es hat keinen Sinn, wenn man als WorldTour-Team so am finanziellen Limit ist.“

Zu dem seit Langem andauernden Disput zwischen Cavendish und Stapleton, der letztlich wohl zum Ableben des Teams führte, sagt Eisel neutral: „Ich glaube, beide Seiten haben recht und auch unrecht. Cav bekam nicht das Gehalt, das er verdiente, aber er hat diesen Vertrag unterschrieben.“

All das ist mittlerweile Geschichte. Eisel hätte mit einem weiteren Cavendish-Gefolgsmann, Mark Renshaw, zu Rabobank gehen können, war sich aber immer ziemlich sicher, dass er bei dem Mann von der Isle of Man bleiben wollte. Die Sky-Bosse haben ihn außerdem schon nach seinen eigenen Ambitionen gefragt. „Ich glaube, ich bin bei den Klassikern ein beschützter Fahrer“, sagt er. „In dieser Zeit muss ich in Topform sein. Das ist sicher.“

Was auch immer passiert, Eisel kann bereits auf eine beachtliche Karriere und denkwürdige fünf Jahre im Dienst des schnellsten Sprinters der Welt zurückblicken, die ausgerechnet von einem Sieg gekrönt wurden, bei dem Eisel keine Rolle spielte – Cavendishs Weltmeistertitel in Kopenhagen.

Es wird mehr Siege, mehr Aufopferung und Hingabe und ohne Zweifel mehr zu lachen geben. Bei der Großbritannien-Rundfahrt im September sorgte Eisel für einige Verwirrung und viel Heiterkeit, als er auf dem Gipfel eines Bergs vom Rad stieg und sich unter die Zuschauer mischte, um mit ihnen dem vorbeifahrenden Peloton zu applaudieren. „Ich weiß nicht, warum ich das getan habe“, gibt er heute zu. „Ich fand damals einfach, dass es eine lustige Idee war. Ich glaube, ich habe es vorher schon ein paar Mal gemacht.“ Auch wenn die Bewunderung des Publikums keine Priorität für ihn hat, hat er, wie es aussieht, alles richtig gemacht, um bei Fans und Fahrern gut anzukommen.



Cover Procycling Ausgabe 96

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 96.

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