Sicherheit versus Spektakel

Die Route des Giro d’Italia 2011 bewegte sich auf einem schmalen Grat zwischen Dramatik und Gefahr. Welche Lehren können wir aus dem Tod von Wouter Weylandt ziehen?

 

Das Profil der 3. Etappe des Giro d’Italia 2011 erschien harmlos. Die Strecke führte allmählich bergan und auf den 957 Meter hohen Passo del Bocco, wo eine Abfahrt folgte. Auf der einfachen Grafik sah es aus wie ein schroffer Abhang, aber der konnte doch nicht gefährlich sein, oder? Vielleicht doch. „Wir wussten, dass diese Abfahrt technisch sehr schwer war“, sagt der Italiener Marco Pinotti, der den Giro für HTC-Highroad bestritt. Und doch findet Pinotti, die Abfahrt vom Passo del Bocco sei nicht per se gefährlich gewesen – es war ihre Position im Rennen. Sie kam in einer Situation, in der die Fahrer wegen dem, was vorausgegangen war, zu einer riskanten Fahrweise gezwungen waren.

Pinotti hatte am Anfang der Abfahrt einen Defekt. Er wechselte sein Hinterrad und fuhr weiter, nur um festzustellen, dass auch sein Vorderrad einen Platten hatte. Mit nunmehr über einer Minute Rückstand und ohne Begleiter war die Abfahrt nicht gefährlich für ihn. Aber er hatte die Positionskämpfe im Anstieg gesehen und mitbekommen, mit welchem Tempo das Peloton die andere, viel steiler abfallende Seite in Angriff nahm. „Als wir in die Abfahrt gingen, war es noch ein großes Feld, das in einer Linie aufgereiht war“, sagt Pinotti. „Aber als ich alleine die Straße runterfuhr, sah ich den Auto-Konvoi vor mir, dann ein gerades Stück Straße, und ich sah, dass jemand gestürzt war. Ich sah einen Motorradfahrer mitten auf der Straße, der mir sagte, dass ich langsamer fahren solle. Und da lag dieser Typ auf der Straße. Er bewegte sich überhaupt nicht.“

Es war Wouter Weylandt. Wie Pinotti anmerkt, war der 26 Jahre alte Belgier auf einem harmlos aussehenden geraden Abschnitt gestürzt. Aber er war mit dem Gesicht aufgeprallt. Später hieß es, Weylandt habe sich an dem Punkt, wo er die Kontrolle verloren hat, umgedreht. Der normale Reflex, sein Gesicht zu schützen, habe womöglich erst eingesetzt, als es zu spät war. 20 Minuten lang versuchten die Ärzte ihn zu retten, sie behandelten Weylandt mit einem Defibrillator und machten eine Herzmassage. Dann wurde er mit einem Hubschrauber weggeflogen. Aber es war zu spät. Im Ziel der Etappe, als Ángel Vicioso seinen ersten Tagessieg bei einer großen Rundfahrt errang und David Millar das Rosa Trikot des Gesamtführenden übernahm, wurde die schreckliche Nachricht bekannt: Weylandt war gestorben. 
 
In Rapallo wiederholten die Giro-Organisatoren nicht den Fehler, den die Tour de France 1995 gemacht hatte, als Fabio Casartellis Tod den Fahrern zunächst nicht mitgeteilt wurde. Wie Weylandt starb Casartelli an seinen Kopfverletzungen, in seinem Fall nach einem Sturz auf der Abfahrt vom Col de Portet d’Aspet. Aber während am 9. Mai 2011 in Rapallo eine düstere Stimmung herrschte, spielte sich 16 Jahre zuvor in Cauterets eine haarsträubende Szene ab: Richard Virenque feierte seinen Etappensieg und sprühte Champagner in die Menge. Erst danach erfuhr der Franzose von Casartellis Tod.

Glücklicherweise ist der Sport seit 1995 in vielerlei Hinsicht reifer geworden. Helme sind seit 2003 Pflicht, wobei diese Vorschrift nicht nach Casartellis Tod eingeführt wurde, sondern erst, als der Kasache Andrej Kiwilew 2003 bei Paris – Nizza tödlich verunglückt war.  Die Reaktion der Giro-Organisatoren auf den Tod von Weylandt war angemessen. Als Erstes wurde die Siegerehrung abgesagt. Dann wurde der neue Monte-Crostis-Anstieg mit seiner tückischen Abfahrt aus der 14. Etappe herausgenommen, wenn auch erst nach einigem Zögern des Giro-Direktors Angelo Zomegnan, der wenig später entlassen wurde. Auch die Fans waren enttäuscht und zeigten das sehr deutlich, aber schon vor dem schrecklichen Ereignis auf der 3. Etappe hatten viele Fahrer Bedenken wegen der abschüssigen und schmalen Abfahrt und den steil abfallenden Hängen.

Während die Organisatoren pragmatisch mit der Tragödie umgingen, reagierten die Fahrer emotional. Die 4. Etappe nach Livorno wurde neutralisiert und glich einem 216 Kilometer langen Trauerzug. Jede Mannschaft fuhr zehn Kilometer an der Spitze, bis sich drei Kilometer vor dem Ziel Weylandts Leopard-Trek-Teamkollegen vom Peloton absetzten. In ihrer Mitte fuhr Tyler Farrar, der Garmin-Cervélo-Sprinter und Weylandts Freund und Trainingspartner. Es war ein bewegender Tribut, der daran erinnerte, wie das Motorola-Team am Tag nach Casartellis Tod geschlossen über die Ziellinie in Pau gefahren war.

„Es war unglaublich im Peloton“, sagt Mark Cavendish. „Alle waren schockiert, und es war total still. Auf dem ganzen Weg wurde nicht gesprochen, kein Wort. Es war unheimlich. Es war einfach … jedem ging es schlecht. Es hat mich sehr getroffen. Wouter ist zur selben Zeit Profi geworden wie ich, er war gleich alt, er war Sprinter, wir haben uns gut verstanden …“ Wie bei Casartelli, wie bei Kiwilew und wie bei Weylandt – die Frage, die danach gestellt wurde, drehte sich um die Sicherheit. War die Abfahrt zu gefährlich gewesen? Waren die Fahrer gezwungen, unnötige Risiken einzugehen?

Leider wurde die Frage einen Monat später wieder gestellt, als der kolumbianische Kletterer Mauricio Soler auf der 6. Etappe der Tour de Suisse über eine Unebenheit im Straßenbelag stürzte, mit einem Zuschauer kollidierte und mit dem Kopf gegen eine Absperrung prallte. Soler, der die 2. Etappe gewonnen hatte und Gesamt-Zweiter war, erlitt eine Schädelfraktur und Gehirnblutungen und wurde in ein künstliches Koma versetzt, in dem er fast drei Wochen blieb. Vier Monate nach der schweren Beeinträchtigung seiner Hirnfunktionen macht er weiter langsame Fortschritte. Er kann sprechen und laufen, aber eine Rückkehr aufs Rennrad ist unwahrscheinlich.

Nach zwei so schweren Unfällen in so kurzer Zeit wurde die Debatte wieder neu entfacht. Ein ähnliches Phänomen war im Oktober im Motorsport zu beobachten, als es innerhalb von einer Woche zwei prominente Todesopfer gab: den britischen IndyCar-Piloten Dan Wheldon und den italienischen MotoGP-Star Marco Simoncelli.

Aber trotzdem: Ist es – so unsensibel das auch angesichts dieser Tragödien erscheinen mag – eine überflüssige Diskussion? Sportarten, die mit Geschwindigkeiten und Risiken verbunden sind, werden immer gefährlich sein. Im Grunde ist das eigentlich Bedenkenswerte, nachdem wir Zeit hatten, über Weylandts Tod nachzudenken, dass solche Tragödien nicht häufiger passieren. Radprofis üben einen gefährlichen Beruf aus, und selbst wenn sie keine Rennen fahren, gehen sie Risiken ein – genau wie alle Radfahrer, die auf öffentlichen Straßen trainieren.

Es ist jedoch auch gefährlich, die Risiken zu akzeptieren, ohne gleichzeitig auf die Verantwortung der Organisatoren hinzuweisen, den Sport so sicher wie möglich zu machen. Die Tatsache, dass der Straßen-Rennsport gefährlich sein kann, gibt den Veranstaltern keine Lizenz, die Rennen gefährlicher als nötig zu machen oder den Radsport in ein Vabanque-Spiel zu verwandeln – wie Zomegnan vorgeworfen wurde, weil er den Monte Crostis auf den Streckenplan setzte und eine technisch so schwere Abfahrt wie den Passo del Bocco so früh im Giro einbaute.

 

Auch wenn wir akzeptieren können, dass die Gefahr nicht ausgeschaltet werden kann, lohnt es sich, zum Passo del Bocco und dem Ort von Weylandts Tod zurückzukehren, um herauszufinden, welche Lehre wir aus der Tragödie ziehen können. Dass die Abfahrt nicht so offensichtlich gefährlich war wie einige andere und dass Weylandt auf einem geraden Stück der Straße stürzte, wurde als Beweis dafür herangezogen, dass es einfach ein sehr unglücklicher Unfall war. Aber war es das?

Pinotti ist sich nicht sicher. „So wie ich die Abfahrt heruntergefahren bin – allein –, war es nicht gefährlich. Der Abschnitt, wo er stürzte, war gerade: Es war nicht gefährlich. Aber alle wussten aus dem Streckenbuch, dass die Abfahrt technisch schwer war und danach nur noch 20 Kilometer auf schmalen Straßen zu fahren waren. Und der Anstieg war überhaupt nicht selektiv, die ganze Zeit nur drei Prozent. Also fuhren alle Vollgas, weil jeder als Erster in diese Abfahrt wollte, um Stürzen aus dem Weg zu gehen, deswegen war es ein sehr großer Kampf. Und das verursachte viel Stress im Peloton.“

Man darf auch nicht vergessen, dass es die 3. Etappe war und dass die ersten Tage einer großen Rundfahrt immer besonders nervös sind. Tatsächlich sorgte die Abfahrt vom Passo del Bocco für die erste wirkliche „Selektion“ beim Giro 2011.
„Manchmal“, sagt Pinotti, „sind die Abfahrten so selektiv, dass du weißt, dass es Lücken im Peloton gibt, also drehst du dich um, um zu sehen, ob da ein Loch hinter dir ist. Ich glaube, das hat Weylandt gemacht. Das Rennen war in vollem Gange. Ich glaube, er hat sich umgedreht, um zu sehen: Wie groß ist die Lücke? Wo sind die Verfolger?

Die Abfahrt war selektiv, und das ist gefährlich. Meiner Meinung nach war es gefährlich mit dieser Abfahrt – ohne große Anstiege davor, und danach nur noch 20 Kilometer. Die Abfahrt selbst mag nicht das Gefährlichste gewesen sein, aber der Kontext kann es gefährlicher machen.“ Pinotti stürzte selbst in der letzten Giro-Woche, als er und Craig Lewis es mit einer anderen Gefahrenquelle zu tun bekamen: Straßenausstattung. Der Italiener brach sich das Becken und musste drei Monate pausieren, als die zwei gegen eine Verkehrsinsel prallten.

Das Problem von Hindernissen, schmalen Straßen und nervösen Fahrern war auch das Hauptthema der ersten Woche der Tour de France, wo die zahlreichen Stürze das Feld in eine rollende Notaufnahme verwandelten. Sky-Fahrer Geraint Thomas fachte die Diskussion wieder an, nachdem sein Kapitän Bradley Wiggins sich bei einem Sturz das Schlüsselbein gebrochen hatte, und twitterte: „All dieses Gerede über die Sicherheit der Fahrer … Es liegt an uns! Es sind einige Deppen im Peloton, sogar die Klassementfahrer!!“

„Ich habe gelesen, was Thomas gesagt hat“, sagte Pinotti, „aber es ist sehr schwierig. Wenn du vorsichtig bist, wenn du vernünftig bist – wenn du langsamer fährst –, wird jemand deine Vernunft ausnützen. Ich wäre der Erste, der das täte!“
Mit anderen Worten: Die Verantwortung für die Schaffung einer möglichst sicheren Umgebung liegt bei den Rennorganisatoren. Aber Pinotti macht eine andere interessante Feststellung, die auch eine Erklärung für die offensichtliche Zunahme von Stürzen sein kann: „Die Unsicherheit in unserem Job nimmt zu, und du spürst mehr Anspannung im Peloton. Wenn ein Fahrer einen langfristigen Vertrag hat, kann er sich auf seine langfristigen Ziele konzentrieren, aber jetzt, wo es kurzfristige Verträge gibt und Teams verschwinden, gehen die Fahrer größere Risiken ein. Auf der einen Seite kann es das Risiko sein, dass ein Fahrer verbotene Substanzen nimmt. Auf der anderen Seite bedeutet das, dass sie auf der Straße mehr Risiken eingehen.“

Genau wie Doping ist eine riskante Fahrweise in einer Abfahrt ein gewagtes Spiel, von dem einige glauben, dass es sich lohnt. „Dieses Gefühl habe ich“, sagt Pinotti, dessen eigenes Team trotz zahlreicher Siege am Ende der Saison aufgelöst wurde. Er hat für 2012 bei BMC unterschrieben.

„Wenn jeder einen sicheren Platz im Peloton hat, wird niemand sein Leben aufs Spiel setzen“, sagt er. „Wenn sie Probleme haben, wenn ihre Zukunft unsicher ist, gehen die Fahrer vielleicht mehr Risiken ein.“
 
Ein Fahrer, den Weylandts Tod besonders traf, ist Pedro Horrillo. Der Spanier wurde beim Giro 2009 Opfer eines Sturzes, der seine Karriere beendete – und beinahe sein Leben beendet hätte. Horrillo fiel 80 Meter tief in einen Abgrund und erlitt dabei 35 Knochenbrüche: einen Oberschenkelknochen, alle Rippen, beide Schlüsselbeine, ein Schulterblatt und sechs Wirbel. Seine Lunge wurde von den gebrochenen Rippen durchbohrt und füllte sich mit Blut.

Horrillo wurde wahrscheinlich nur dank einer Innovation gerettet, die viele – darunter auch die UCI – ablehnen, aber die von der Mehrheit der Fahrer aus Sicherheitsgründen befürwortet wird: den Funkverkehr. Horrillo war selbst gegen den Funkverkehr, glaubte, dass er einen negativen Einfluss auf den Radsport hat, sagte aber, dass er vielleicht sein Leben gerettet hat. „Bei Unfällen wie meinem zählt jede Sekunde, und der Funkverkehr kann den Ausschlag über Leben und Tod geben“, sagt Horrillo. „Ich kann nicht sagen, dass es in meinem Fall so war, weil ich versucht habe zu überleben, aber nach dem, was meine Teamkolllegen mir erzählt haben, war der Funkkontakt entscheidend für meine Rettung.“

Als er von Weylandts Tod hörte, hatte Horrillo sofort wieder seinen eigenen Unfall vor Augen. Der Spanier, der heute als Journalist arbeitet und wieder Rad fährt, dachte darüber nach, wie viel Glück er hatte. Aber als er sich daran erinnerte, was sein eigener Unfall für seine Familie bedeutete, waren Horrillos Gedanken auch bei Weylandt und seiner Familie. Die Freundin des Belgiers, An-Sophie, war mit ihrem ersten Kind schwanger, als er starb, und brachte Anfang September die Tochter Alizée zur Welt.

Sieben Monate nach der Tragödie sind Horrillos damalige Worte immer noch treffend: „Es ist traurig, dass jetzt im Moment jeder bei Weylandts Familie ist, aber es werden ein paar Monate vergehen, dann ein oder zwei Jahre, und niemand wird mehr an sie denken. Aber Wouters Fehlen wird sie für den Rest ihres Lebens begleiten.“



Cover Procycling Ausgabe 95

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 95.

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