Zweiter unter Gleichen

Der Tod von Raymond Poulidor, der achtmal auf dem Podium der Tour de France stand, ohne zu gewinnen, vereinte die Radsportwelt in Trauer. Procycling blickt zurück auf die Karriere des „ewigen Zweiten“, der einer der beliebtesten Fahrer aller Zeiten war.

 

Raymond Poulidors Tod am 13. November war das Ende einer Ära. So wie Gino Bartalis Ableben im Mai 2000 der Punkt war, an dem der italienische Radsport seine sichtbarste Verbindung zu seiner Vergangenheit verlor, bedeutet der Tod von „Poupou“, dass der französische Radsport den Mann verloren hat, der den Zenit der Popularität der Tour de France in ihrem Heimatland in den 1960ern und 1970ern mehr als jeder andere verkörperte. Dass ein Fahrer, der nie das Gelbe Trikot getragen hat – und übrigens auch nicht das Regenbogentrikot –, der wohl beliebteste Fahrer aller Zeiten wurde, ist eine immense und paradoxe Errungenschaft. So wie Bartali nicht der letzte Große der Ära Coppi war, der verschwand – Fiorenzo Magnis Ende kam 2012 –, war Poulidor nicht die letzte lebende Ikone der goldenen Jahre des Radsports. Raphaël Géminiani, André Darrigade, Rik Van Looy und Federico Bahamontes weilen glücklicherweise alle noch unter uns. Aber keiner von ihnen genoss auch nur annähernd Poulidors öffentliches Profil – etwas, das der frühere Kleinbauer so bewusst und gewissenhaft kultivierte wie seine Eltern ihre paar Hektar Land im Limousin. Als seine Popularität nach seiner Aufgabe bei der Tour 1968 – die eine, die er, wie alle seine Fans glauben, hätte gewinnen können und müssen – ihren Höhepunkt erreichte, bekam er jeden Tag 3.000 Briefe, so viele wie Brigitte Bardot. Selbst kurz vor seinem Tod, als seine Karriere 40 Jahre zurücklag, bekam er noch vier oder fünf am Tag.

Eine von mehreren Biografien, Poulidor, par Poulidor, die er gemeinsam mit dem Journalisten Jean-Paul Brouchon schrieb, verkaufte sich 60.000 Mal, eine beeindruckende Summe für ein Radsportbuch in Frankreich. Sein Rekord bei einer seiner vielen Buch-Autogramsstunden lag bei 550 an einem Tag in einem Supermarkt in Vélizy am Rande von Paris, bei der  – wenig überraschend – seine Hand einschlief. Jeder Star oder sein Verlag wäre zufrieden mit der Hälfte davon. Am Ende gab er fröhlich Autogramme für Jugendliche, deren einziges Wissen über ihn von ihren Eltern kam. Poulidors poupoularité, wie der Schriftsteller Antoine Blondin es nannte, bedeutete ihm mehr als seine Resultate. „Wissen Sie“, sagte er 2018 zu Jean-Luc Gatellier von L’Equipe, „ich habe es nicht absichtlich gemacht, aber ich bin fast froh, dass ich die Tour nicht gewonnen habe, denn hätte ich das, würde mich heute niemand erkennen.“ Aber so wurde er bis zum Tag, an dem er starb, auf der Straße angesprochen. Im Gegensatz dazu ging, wie der Schriftsteller Geoffrey Nicholson erzählte, der fünffache Toursieger Jacques Anquetil bei der Tour 1976, nur sieben Jahre nach seinem Karriereende, in eine Bar und kam mit einem Einheimischen ins Gespräch, der – nicht ahnend, mit wem er sprach – klagte, dass früher, als sich Anquetil und Poulidor bekämpften, alles besser gewesen sei. 2015, fast 40 Jahre nach Poulidors Rücktritt und 39 Jahre nach seinem letzten Podiumsplatz bei der Tour, wurden die Leser der Zeitung Le Parisien aufgerufen, den Rennfahrer zu wählen, der für sie den größten Einfluss auf die Grande Boucle hatte. Poulidor erhielt 45 Prozent der Stimmen, deutlich vor den Fünffachsiegern Bernard Hinault (29 Prozent) und Jacques Anquetil (23 Prozent) und dem dreifachen Sieger Louison Bobet. Das war wirklich Ruhm ohne Gelbes Trikot, um den Titel seiner ersten Biografie, La Gloire sans Maillot Jaune, zu zitieren.

Um zu verstehen, warum Poulidor so beliebt war, müssen wir zurückreisen in das Herz der 1960er und die Seifenoper untersuchen, die begann, als er Anquetil 1962 erstmals den Fehdehandschuh hinwarf, und endete, als 1969 Merckx’ Dominanz begann. „So berühmt wie Tom und Jerry“, sagte Nicholson über Anquetil und Poulidor. Es war eine Rivalität, die in den Geschichtsbüchern der Tour schwer zu überbieten sein wird hinsichtlich ihrer Dauer und Intensität oder der Art, wie sie das Publikum fesselte. Anquetil hatte einen Vorsprung gegenüber Poulidor, war schon in jüngeren Jahren ein frühreifes Talent. Er war Olympionike mit 18, Profi mit 21, Toursieger mit 23 im Jahr 1957. Zu jenem Zeitpunkt begann Poulidors Amateurkarriere gerade erst. Wenn Anquetil als Rennfahrer welterfahrener war, dann hatte das einen guten Grund. Wie der verstorbene Pierre Chany erzählte, fuhr Poulidor 1955 mit 19 Jahren das erste Mal mit dem Zug. In diesem Alter hatte Anquetil schon an den Olympischen Spielen in Helsinki teilgenommen, eine Medaille gewonnen, einen Profivertrag unterschrieben und den GP des Nations gewonnen.

1961 gewann Poulidor Mailand–San Remo und die französische Meisterschaft. Im folgenden Jahr ging er mit gebrochenem Finger in die Tour und wurde Gesamt-Dritter, wobei er die Bergetappe nach Aix-les-Bains gewann. Am nächsten Tag zog Anquetil beim Zeitfahren von Bourgoin nach Lyon nach weniger als der Hälfte der 68 Kilometer an Poulidor vorbei und nahm ihm drei Minuten ab. Das Bild von ihm, wie er vergeblich versuchte, an „Meister Jacques“ dranzubleiben, war eine vielsagende Erinnerung an die Überlegenheit seines Rivalen im Zeitfahren. In jenem Jahr verdiente er sich den Spitznamen, der ihn bis zum Ende seiner Karriere begleiten und das nächste halbe Jahrhundert auf Plakaten am Straßenrand zu sehen sein sollte: „Poupou“, geprägt von dem Journalisten Emile Besson. Dabei bevorzugte der Fahrer anfangs das formellere „Pouli“; Poupou war fast kindisch, klang ein wenig wie das französische Wort poupée  für Puppe. Und es reimte sich auf chouchou, „Liebling“. Anquetil wurde den respektvolleren, aber distanzierten Spitznamen „Maître Jacques“ nie los. Französische Philosophen wie Roland Barthes legten viel Wert auf Spitznamen. Für Barthes war der Moment, in dem ein Tourfahrer einen Spitznamen bekam, der Moment, in dem er wirklich ein Darsteller in dem Sommerepos wurde. Es wurde immer unterstrichen, dass es bei der Tour um die Schaffung von mythischen Figuren geht, die das Publikum einen, indem sie ihm eine gemeinsame, geteilte Geschichte geben. Der epi­-sche Mythos von Poupou und Meister Jacques brachte das französische Publikum zusammen wie kein anderer.

1963 fuhr Poulidor auf der Etappe nach Chamonix eine Reihe furioser Attacken, bevor er am Ende einbrach und acht Minuten und jede Chance auf den Gesamtsieg verlor; er wurde schließlich Achter. Im folgenden Jahr erreichte die Rivalität ihren Höhepunkt, aber obwohl das Bild, das dieses Rennen – und ihre Rivalität – definierte, am Puy de Dôme entstand, wo die beiden Ellbogen an Ellbogen fuhren und um jede Sekunde kämpften, war die Realität, dass Poulidor zu diesem Zeitpunkt ohne eine Reihe von bizarren Patzern und ungewöhnlichen Pechsträhnen in Gelb gewesen wäre. Auf der 14. Etappe nach Toulouse zum Beispiel brach ihm, nachdem er Anquetil am Port d’Envalira in Schwierigkeiten gebracht hatte, eine Speiche, dann prallte er mit dem Mechaniker zusammen, der das Laufrad wechselte, und stürzte. Das Peloton war gnadenlos und die Direktoren von Pelforth und Saint-Raphaël blockierten die Straße, damit kein Konvoi ihm helfen konnte; so verlor er zwei Minuten. Am nächsten Tag, auf dem Weg nach Luchon, verkürzte er mit einer heroischen Solo-Attacke seinen Rückstand auf Anquetil auf elf Sekunden. Was den Pûy de Dôme angeht, war ihm angeboten worden, den Anstieg vor der Tour zu erkunden, doch er hatte sich stattdessen für einen lukrativen Start bei einem Kriterium entschieden. An jenem Tag hatte er die falsche Übersetzung gewählt und verpasste eine offensichtliche Chance, Anquetil zu vernichten. Angesichts eines bevorstehenden Zeitfahrens brauchte er mindestens 90 Sekunden Vorsprung auf Anquetil. Am Ende fuhr er auf einem einzigen Kilometer, als sein Rivale eingebrochen war, 42 Sekunden heraus – und Anquetils Kollaps war dramatisch; die Zuschauer fragten sich, ob er noch genug Kraft habe, um sich auf dem Rad zu halten. Dabei hatten Poulidor und sein Mercier-BP-Team zwei Fahrer entkommen lassen, um den Etappensieg auszufechten und die wichtigen Zeitgutschriften zu holen. All das zählte wenig, verglichen mit der eksta­tischen Reaktion auf das Kopf-an-Kopf-Rennen. „Grandios, unversöhnlich und ergreifend war der Kampf – ein Nahkampf in einer Stille, die einer immensen Herausforderung des Leidens und der Strategie zwischen zwei Kämpfern von gigantischer Statur angemessen ist“, schrieb Tour-Direktor und L’Equipe-Chefredakteur Jacques Goddet. „Nie waren zwei Männer, die erbittert um die seltenste und schönste Trophäe kämpften, so eng im Kampf verschränkt gewesen. Die letzten fünf Kilometer waren eine Etappe für sich.“

1965 sah Anquetil keinen Sinn darin, einen sechsten Toursieg anzustreben – vielleicht, weil er wusste, dass Poulidor ihn schlagen könnte. Der Weg war frei für Poupou, aber trotz eines Zeitfahrsiegs in der Bretagne und eines epischen Etappensiegs am Mont Ventoux konnte er Gimondi nicht bezwingen, während spekuliert wurde, dass der Italiener auf einer entscheidenden Etappe zum Mont Revard in den Alpen von einer Allianz profitiert hatte, die Anquetils Vertrags­manager Daniel Dousset eingefädelt hatte. 1966 startete Anquetil wieder bei der Tour, begünstigte fast bösartig einen Überraschungssieg für seinen Teamkollegen Lucien Aimar und hielt Poulidor in Schach, bevor er in den Alpen mit einer Bronchitis ausstieg (Anquetil zog, nachdem er vom Rad gestiegen war, gerne einen Kamm aus der Tasche und machte sich für die Fotogra­fen das Haar zurecht). Im abschließenden Zeitfahren legte Poulidor mit Schallgeschwindigkeit los und schien sich den Toursieg noch schnappen zu können, bevor er auf der zweiten Hälfte der Etappe einbrach. 1967 konnte Poulidor das Rennen wieder nicht an sich reißen und ließ seinen französischen Nationalmannschaftskollegen Roger Pingeon früh einen Vorsprung herausfahren, den er nie aufgab, sodass Poupou eine Mannschaftsrolle spielte und sich mit einem Sieg beim abschließenden Zeitfahren zufriedengab. Als Anquetil sein Rad 1968 an den Nagel gehängt hatte, wurde damit gerechnet, dass Poulidor die Tour jenes Jahres gewann. Nachdem er die Pyrenäen in guter Form überlebt hatte, hatten er und seine französische Mannschaft das Rennen auf der Etappe nach Albi gesprengt, nur damit ein Motorrad Poulidor vom Rad stieß, als es die führende Windstaffel 50 Kilometer vor dem Ziel überholte. Seine Rivalen warteten nicht; die Attacken waren unmittelbar und brutal, und Poupou verbrachte das Finale mit einer vergeblichen Aufholjagd. Am nächsten Tag gab er auf.

Das war so in etwa seine letzte Chance, die Tour zu gewinnen. 1969 tauchte Merckx auf. An seinen guten Tagen konnte er klettern wie Bahamontes; er konnte fast so schnell sprinten wie die Spezialisten und zeitfahren wie Anquetil. Und er war hungriger als alle. 1973 fehlte Merckx, aber Luis Ocaña war in bestechender Form; 1974 errang Poulidor einen gefeierten Bergetappensieg in Pla d’Adet in den Pyrenäen, und sein zweiter Gesamtrang hinter Merckx, der seinen fünften Sieg feierte, zementierte seinen Ruf bei den einheimischen Fans. Zwei Jahre später errang er in Abwesenheit von Merckx einen letzten Podiumsplatz hinter Lucien Van Impe und Joop Zoetemelk im Alter von 40 Jahren, wobei er sich knapp gegen Raymond Delisle als bester Franzose behauptete. Als er seine Karriere Ende 1977 bei einem Cyclo­cross-Rennen beendete, war die Rede von einem weiteren französischen Star: einem jungen Bretonen, der die Crème der flämischen Klassiker-Spezialisten geschlagen und Gent–Wevelgem und Lüttich–Bastogne–Lüttich gewonnen hatte und der auf dem Weg zu einem Dauphiné-Libéré-Sieg in eine Schlucht gestürzt war. Poulidor war der Inbegriff von Langlebigkeit; er fuhr als Amateur, als Louison Bobet und Fausto Coppi noch aktiv waren, und hörte in den Jahren des „Dachses“ Bernard Hinault auf, der so borstig und frech war wie Poupou kuschelig und scheu. Merckx, Hinault, Bobet und Coppi spielen fast Nebenrollen in der Poupou-Geschichte. Poulidor wurde durch Anquetil definiert und umgekehrt. „Jenseits von ihrem gemeinsamen bäuerlichen Hintergrund gibt es einen deutlichen Kontrast in ihrer Persönlichkeit, ihrem Lebensstil und natürlich ihrer körperlichen Erscheinung“, schrieb Nicholson. Anquetil hatte mehr Sinn für Geschäft­liches, war empfänglicher für die Insignien des Ruhms und machte viel Aufhebens um seinen hedonistischen Lebensstil. Poulidor war viel diskreter, viel bescheidener. Und er galt als knauserig.

Der Unterschied in ihrer Fahrweise war offensichtlich, ebenso der Kontrast zwischen ihren jeweiligen Fans, wie Nicholson schrieb. „Anquetil war subtil und berechnend; er benutzte seinen Kopf. Poulidor nutzte seine rohe körperliche Kraft, erzwang eine Konfrontation, in der er Minuten herausfahren oder untergehen konnte. Oft war es Letzteres. Anquetil wurde von anderen Rennfahrern wegen seiner puren Geschwindigkeit und der mechanischen Effizienz seines Fahrstils bewundert, von urbanen jungen Männern für seine Cleverness und zahlreichen Siege. Aber er rief nie dieselbe Gefühlswärme hervor wie Poulidor, vor allem auf dem Lande.“ Nicholson bemerkte auch, dass, während Anquetil zu Unrecht als berechnender Zeitfahrer stigmatisiert wurde – „Ein Mann, der mit seinen Körnern knauserte, hätte nie fünf Frankreich-Rundfahrten gewinnen können“ – Poulidor sentimentalisiert wurde. „Er ist nicht desinteressiert an Geld (eine Eigenschaft, die die Leute ihm nicht vorwarfen; ganz im Gegenteil). Und bei seinen späteren Frankreich-Rundfahrten entwickelte er einen Hang zur vorsichtigen Unentschlossenheit, was in der autorisierten Version der Legende nicht vorkommt.“ Als unglücklicher Verlierer verdiente er viel mehr bei Kriterien als jeder andere französische Fahrer, auch mehr als Anquetil, sehr zum Missfallen des Normannen, hatte also keinen Grund, große Risiken einzugehen. Wie Poulidor selbst sagte: „Ich hätte nicht mehr Geld verdient, wenn ich die Tour gewonnen hätte, von daher …“ Vielleicht hat er deswegen nie den Drang verspürt, Amphetamine in einem Maße zu konsumieren wie Anquetil oder Tom Simpson.

„Poulidor ist einer der Kleinbauern, einer von den Jungs“, sagte sein britischer Zeitgenosse Vin Denson. „Ein Stallbursche, der in einer Hecke ein altes Fahrrad fand, draufsprang und versuchte, den großen Champion zu schlagen.“ Das ist eine der großen Radsporttraditionen, geteilt mit anderen ländlichen Helden auf zwei Rädern wie Coppi, Hinault, Sean Kelly und Miguel Indurain. Aber es gab Wesenszüge bei Poulidor, die jeden französischen Arbeiter ansprachen, nicht nur die, die in den verschlafenen Nestern von La France Profonde die Schaufel schwangen. Anders als Anquetil mit seinem Jetset-Lebensstil schien Poulidor seine ländlichen bäuerlichen Wurzeln nie zurückzulassen. Er gab nie damit an, Champagner runterzukippen und Austern zu schlürfen. Während Anquetils Frau Janine ständig von sich reden machte, tauchte Madame Poulidor, Gisèle, eine frühere Briefträgerin, erst 1968 in der Öffentlichkeit auf. „Im gaullistischen Frankreich, einem Land, wo ländliche Betriebe schrumpften und konsolidiert wurden, wo die industrielle Entwicklung vorangetrieben wurde, vertrat Poulidor ein Frankreich, das in der Hierarchie weiter unten war: Arbeiterklasse, Ladeninhaberklasse, die durchschnittlichen, vergessenen Leute, die sich in ihm sahen“, schrieb Philippe Brunel. „Seine Missgeschicke waren Trost für ihr eigenes Unglück.“

 

In Zeiten des schnellen Wandels – les Trente Glorieuses, wie die 30 Jahre des Nachkriegs-Wirtschaftswachstums genannt wurden –, verkörperte Poulidor den mythischen Geist des Frankreichs der kleinen Leute, das fast über Nacht verschwand, eine Gegenreaktion auf die zunehmende urbane Blasiertheit. Er trug nie ein Gelbes Trikot, aber in gewisser Weise könnte er für die heutigen Gelbwesten stehen. Gegenüber dem Schriftsteller Jacques Augendre erinnerte sich Poulidor einmal an seine frühen Zeiten im Radsport, als ihm nichts anderes übrig blieb, als das schwere Fahrrad seiner Mutter zu benutzen. Sein Vater schlug die Hände über dem Kopf zusammen, schrieb Nicholson, als Poulidor sich ein Rennrad wünschte – „als hätte sich Raymond einen Ferrari gewünscht“. Poulidor erzählte Augendre, dass er an der Bäckerei des Orts vorbeifuhr und sich die Kuchen im Schaufenster anschaute, sodass ihm das Wasser im Mund zusammenlief – doch ein Stück tartelette aux pommes konnte er sich nie leisten. Poulidor war bekannt dafür, dass ihm das Geld nicht locker saß. Er fuhr seinen Mercedes, bis der eine Million Kilometer auf dem Tacho hatte; angeblich trug er ein Paar Schuhe 30 Jahre lang und zahlte in einem Wirtshaus in Châteauroux immer mit Scheck, weil er wusste, dass die Eigentümer ein Stück Papier mit seinem Autogramm darauf nicht einlösen würden. Seine Freunde scherzten, dass er nie einen ausgab. Er ist nicht der einzige Rennfahrer mit einem ländlichen Hintergrund, der auf den Centime achtete. Einer, den ich kenne, wurde gefragt, ob es stimmen würde, dass er sich 15 Jahre lang keine Socken gekauft habe, und er brummte nur: „Mannschafts-Outfit“. So wie Anquetil mit seinen Körnern nicht so geizte, wie es die Legende will, war Poulidor bei Weitem kein schlechter Zeitfahrer und sicher nicht der Bauerntölpel, für den viele ihn hielten. Meine Lieblingsgeschichten über Poulidor bezogen sich auf seine Pokerkünste. Der Überlieferung zufolge richtete er im Trainingslager an der Côte d’Azur eine Pokerschule ein und verdiente damit genug Geld, um das Hotel für die 14 Tage zu bezahlen. Einer anderen Geschichte zufolge nahm er einen Flug mit Merckx und Anquetil und knöpfte ihnen bis zur Landung alles Geld ab. „Mein größter Sieg“, soll er gescherzt haben.

Poulidor hatte jene Art draufgängerischen, aber letztlich erfolglosen Elans, den die Franzosen lieben. Tatsächlich ist es heute unmöglich zu sagen, ob sie diese Qualität wegen Poulidor lieben oder ob er einfach etwas ansprach, was in ihrem nationalen Charakter liegt. Aber dieser Geist lebt weiter, und zwar nicht nur im Radsport: beispielsweise auch in der Debatte des französischen Rugbys über die Vorzüge eines „frei fließenden“, charaktervollen Rugbys, das die Herzen und Köpfe begeistert, auch wenn es nicht unbedingt für Siege sorgt. Seit Poulidor hat sich so gut wie jeder erwähnenswerte französische Rennfahrer diesen Poupou-Geist zunutze gemacht, von Hinault bei der Tour 1986 – als der Dachs wusste, dass eine tapfere Niederlage einen Sieg darstellen würde – über Richard Virenque mit seinen melodramatischen Mätzchen bis zu den zum Scheitern verurteilten Versuchen kleinerer Lichter wie Thomas Voeckler oder François Simon, sich Lance Armstrong zu widersetzen. Dank Poupou wissen die französischen Rennfahrer, dass ihnen Anmut in der Niederlage, stoisches Akzeptieren von Missgeschicken und mutige, wenngleich erfolglose Attacken gut zu Gesicht stehen. Den Geist von Poulidor heraufzubeschwören ist ein Hauptthema der französischen Radrennkultur. Man spekuliert, dass Poulidor mehr und größer hätte gewinnen können, wenn er sich mehr an den zwei Unterströmungen beteiligt hätte, die dazu beitrugen, die Radsportkultur der 1960er zu diktieren: Doping und Kaufen von Rennen. Er scheint nicht dieselbe Vorliebe für Amphetamine gehabt zu haben wie der erfrischend offene Anquetil; er gab irgendwie halb zu, bei Rennen ein bisschen Speed eingeworfen zu haben, aber er war bei der Tour 1966 der erste Fahrer, der eine Dopingprobe abgab, und er machte sich unbeliebt, als er sich am folgenden Tag zurückhielt, als das Peloton aus Protest gegen die Tests streikte.

Poulidor hinterlässt einen Rekord an Podiumsplätzen der Tour, aber er sollte auch für seinen Rekord bei einem anderen großen Rennen in Erinnerung bleiben: Paris–Roubaix. Er fuhr die „Hölle des Nordens“ von 1960 bis 1977 ganze 13-mal zu Ende und kam zehnmal auf einen fünften bis 13. Rang. Wohl genauso beeindruckend fuhr er Paris–Nizza erstaunliche 18-mal in Serie, gewann es zweimal, kam elfmal in die Top Ten und – außer bei seinem Debüt 1960, wo er 22. wurde – immer in die Top 20.
Viele glauben, dass Poulidor die Dienste anderer Fahrer bei der Tour und anderen großen Rennen hätte kaufen können oder sollen, aber einfach kein Geld dafür lockermachen wollte. Das am häufigsten genannte Beispiel kommt von einem Rennen 1976, wo er 40 war und im Begriff, seine Karriere zu beenden. Er war in der entscheidenden Ausreißergruppe und sah seinen Teamchef Claude Sudres das Victory-Zeichen machen. Das bedeutete, dass Poulidor seinen Fluchtgefährten zwei Millionen alte Francs anbieten konnte, wenn sie ihm den Sieg überließen. Poulidor bot weniger an und gewann das Rennen nicht. Ungeachtet der vielen Drehungen und Wendungen, die das Schicksal für ihn bereithielt, scheint Poulidor am Ende seines Lebens nicht viel bereut zu haben. „Mein Leben hat durch den Radsport eine Wende genommen“, sagte er. „Der Radsport hat mir alles gegeben: ein sorgenfreies Leben, Komfort, Beliebtheit und einen Zugang zu einer Welt, die ich mir nie hätte träumen lassen, als ich zur Schule ging, als der Horizont meines Lebens begrenzt war auf die Hecke um unser Feld. Ich bin so viel gereist. Ich habe so viele berühmte Leute kennengelernt. Wenn Pech mich der Rennen beraubt hat, die ich hätte gewinnen sollen, hat der Radsport insgesamt mir viel mehr gegeben, als er mir genommen hat.“

Für Poulidor zählte dieser Ruhm ohne Gelbes Trikot wirklich. Er maß seinen Erfolg an seiner poupoularité, nicht an seinen Resultaten, trotz aller Kisten mit Medaillen im Keller seines Hauses in Saint-Leonard-de-Noblat (200 Kilo laut einer Schätzung). Er ließ sein Radsportpublikum nie hinter sich, schloss nie das Kapitel ab wie
andere. „Ich habe Angst, dass man mich nicht mehr erkennt“, sagte er. „Wenn mir keiner schreiben würde oder das Telefon nicht klingeln würde,“ – seine Nummer stand im Telefonbuch – „wäre ich unglücklich.“ Der Tag, an dem ich zu Hause bleibe, nicht rausgehe und Leute treffe, da bin ich tot.“ Das Gefühl zwischen Poupou und seinem Heimatland war beiderseitig. Als er im Oktober 1977 seine Karriere beendete, widmete ihm die Zeitung Libération eine Art „Ende einer Ära“-Nachruf, der 40 Jahre später im November immer noch richtig klang. „An diesem Morgen haben wir Poulidor verloren. Wir werden lernen müssen, ohne ihn zu leben. Monsieur Poulidor war ein Mann, den wir hoch schätzten. Nicht wegen der Art, wie er sich von einem Peloton absetzen konnte, sondern wegen dem, was er symbolisierte. Wir müssen uns jetzt anschauen, was uns geblieben ist: die Baskenmütze, Beaujolais, das Baguette, Camembert. Dass ganz Frankreich in einem einzigen Mann zusammengefasst werden kann, ist schon etwas Besonderes.“