Keine Ruhe für den Sieger

Primož Roglič hatte ein denkwürdiges Jahr. Er gewann mit der Vuelta a España seine erste große Rundfahrt und beendete die Saison als Weltranglisten-Erster. Procycling hat den Slowenen getroffen, dessen Leben nicht mehr dasselbe ist.

 

Primož Roglič ist ruhelos. Er greift immer wieder nach einer Karte, die ihm Jumbo–Visma für den Tag gegeben hat, und klemmt sie sich zwischen die Finger, bevor er sie auf Augenhöhe hält und in die Ferne starrt, während er spricht. Als er damit fertig ist, wendet er sich seinem Glas zu, das er ausgetrunken hat, und klopft es sachte kopfüber auf den Tisch. Dann zieht er zwei Mobiltelefone aus der Tasche und dreht sie, zwischen kurzen Blicken auf das Display, immer wieder um. Er gähnt. Das Ende der Saison steht bevor, und er ist so unruhig wie ein Kind am letzten Schultag. Es ist kein Wunder, dass Roglič aufhören will. Er fuhr im Februar mit der UAE Tour, die er gewann, sein erstes Rennen, und hielt nicht inne, bis er vier Tage vor unserem Treffen Ende Oktober das Chrono des Nations bestritt, wo er Dritter wurde. Dazwischen lagen der Giro d’Italia, den er als Dritter beendete, und die Vuelta a España, die er gewann – sein erster Sieg bei einer großen Rundfahrt. Insgesamt erreichte der Slowene eine bemerkenswert konstante Reihe von Ergebnissen, verpasste die Top Ten im ganzen Jahr nur einmal (Zwölfter beim WM-Zeitfahren in Yorkshire) und feierte 13 Siege, darunter Tirreno–Adriatico, die Tour de Romandie, Tre Valli Varesine und den Giro dell’Emilia. Es reichte, um Roglič an die Spitze der UCI-Weltrangliste zu befördern.

Trotzdem kann Roglič mit seiner Zeit nicht machen, was er will – noch nicht jedenfalls. Die gelbe Karte, nach der er immer greift, ist in der Form eines Trikots geschnitten, und auf einer Seite ist sein Name in dicken, schwarzen Buchstaben gedruckt. Auf ihr steht der Stundenplan für die Zusammenkunft von Jumbo–Visma zum Saisonabschluss. Jeder Fahrer hat eine bekommen, damit er weiß, wann er wo sein muss. Wir sind im 13-bis-15-Uhr-Fenster: Interviews und Treffen mit Sponsoren. Als Nächstes gibt es einen zweieinhalbstündigen Golfkurs auf dem Platz des Duke Hotels, in dem das Team zu Gast ist. Das Duke ist ein Club nur für Mitglieder, der der Familie van Eerd gehört, die auch Eigentümerin der Supermarktkette Jumbo ist, dem Hauptsponsor des Teams. Golf ist nicht wirklich Roglič’ Ding, und während seine Teamkollegen eine freundschaftliche Partie in der späten Nachmittagssonne genießen, bevor um sieben Uhr ein feierliches Abendessen auf dem Programm steht, würde er sich lieber ausruhen. Nach dem heutigen Tag muss Roglič noch einen Job erledigen, eine kurzfristige Teilnahme am Saitama Criterium, die einen Langstreckenflug nach Japan am nächsten Tag erforderlich macht. Dann kann er sagen, dass er alles erledigt hat. Roglič hat in den letzten zwei Jahren gelernt, dass das Leben als Rundfahrer nicht aufhört. Seine Saisonpause, wenn man sie so nennen kann, wird aus ein paar kurzen Wochen zu Hause in Slowenien bestehen, bevor Training und Planung für das nächste Jahr wieder ernsthaft losgehen. Selbst jetzt, wo sich Roglič im Glanz dessen sonnen sollte, was er 2019 erreicht hat, schaut er schon auf 2020 voraus. „Ich blicke auf eine erfolgreiche Saison zurück. Wir haben viele Rennen gewonnen und es war wirklich cool“, sagt Roglič. „Wir haben jetzt viele Besprechungen und Meetings, ich habe noch gar nicht viel über die neue Saison nachgedacht, aber hier haben sie mich irgendwie gezwungen, und jetzt bin ich mehr auf die neue Saison und die neuen Herausforderungen eingestimmt und freue mich auf 2020.“

In den vergangenen vier Jahren hat sich Roglič von einem Radsportneuling – wenn auch mit erkennbar großem Motor – zu einem Grand-Tour-Etappensieger, Grand-Tour-Favoriten und jetzt zum Grand-Tour-Sieger entwickelt. Beim diesjährigen Giro war Roglič bei seinem holländischen Team zum ersten Mal alleiniger Kapitän für die Gesamtwertung – bei der Tour 2018, wo er Vierter wurde, hatte er sich die Verantwortung noch mit Steven Kruijswijk geteilt. Seine Entwicklung „schnell“ zu nennen, wird ihr kaum gerecht – das letzte Mal, dass Roglič ein Etappenrennen außerhalb der Top Ten beendete, war Tirreno 2018, wo er 29. wurde. Die Kombination aus seiner relativen Reife beim Alter – er wurde im Oktober 30 – mit seiner Unreife im Radsport hat vielleicht die perfekte Mischung kreiert: Roglič erreicht den Zenit seiner körperlichen Fähigkeiten mit all dem Enthusiasmus und der Begeisterung eines jugendlich frischen Neulings. Die Grenzen dessen, was er erreichen möchte, kennen derzeit kein Ende, was sofort deutlich wird, als Procycling ihn fragt, was er von dem anhaltenden Trend zu weniger Zeitfahren bei modernen großen Rundfahrten hält (zehn von Roglič’ bisher 35 Siegen hat er gegen die Uhr erzielt). „Ich sehe mich nicht als Zeitfahrer, ich mag es nicht“, sagt er ausdruckslos. „Ich kann wirklich gut fahren, aber nicht bei normalen Zeitfahren – ich bin nicht wirklich gut, wenn es 50 Kilometer rauf und runter geht. Es gibt vielleicht 30 Jungs, die stärker sind als ich, aber trotzdem bin ich besser als Kletterer, die 50 Kilo wiegen.“ Er sagt weiter: „Es ist mir eigentlich egal. Ich will ein Fahrer sein, der einen Prolog, ein kurzes welliges Zeitfahren, einwöchige Rennen, dreiwöchige Rennen und Eintagesrennen gewinnen kann. Das will ich sein.“

 Roglič’ radsportliche Resultate sprechen für sich, aber er selbst ist ein Rätsel. Bei Interviews und im Medienrummel nach den Rennen ist er stoisch, ein stereotyp osteuropäischer, starker und stiller Typ, der nicht mehr sagt als das Minimum. Bei der Vuelta nahm er auf der Sieger-Pressekonferenz in Madrid nur vier Fragen entgegen, sehr zum Leidwesen der Reporter, und sagte dann „ich habe nicht viel zu sagen“ ins Mikrofon. Am meisten aus sich heraus geht er, wenn er auf dem Podest seine typische Telemark-Pose abzieht – eine Anspielung auf seine Vergangenheit als Skispringer. Überraschend daher – und anders als erwartet – ist der Roglič, den wir treffen, offen und zugänglich, und er entwickelt einen trockenen Humor, den wir an ihm nicht kannten – obwohl wir manchmal nicht sagen können, ob er witzig sein will oder nicht. Als wir ihn fragen, ob er sich in dieser Saison physisch stärker fühlt, sagt er kurz: „Im Moment fühle ich mich körperlich gar nicht gut, ich bin erschöpft.“ Als ein Jumbo-Mitarbeiter kommt, um Roglič zu fragen, ob er etwas trinken möchte, blafft er „Bier“, bevor er sich zögerlich für ein Mineralwasser entscheidet. Und als unser Fotograf ihn fragt, was er tun würde, wenn er einen freien Tag ganz für sich hätte, sagt er todernst: „Mehr Interviews, mehr Fotoshootings.“

Roglič gibt sofort zu, dass ihm das Reden nicht leicht fällt und die Anpassung an diese Rolle eine der schwierigsten Lektionen war, die er als Teamkapitän lernen musste. Sein schneller Aufstieg und sein Mangel an radsportlicher Erfahrung, verglichen mit einigen seiner Teamkollegen und Rivalen, verschlimmerte das noch, und zu lernen, mit seinen Teamkollegen effektiv zu kommunizieren, nennt er seine „Hausaufgaben“. „Das ist etwas, was ich lernen musste. Wie ich all diese Jungs und das Team um mich herum manage. Von meiner Seite aus ist es wirklich schnell gegangen, und das Ding ist, dass ich noch nicht alt bin – ich bin vom Alter her alt, aber kein alter Typ mit einer Profikarriere auf dem Rad. Daher ist es schwer, clever zu sein und zu sagen, ihr müsst dies und jenes tun“, erklärt Roglič. „Ich weiß nicht alles, und es ist schwer, so zu agieren. Ich will es sowieso eigentlich nicht, selbst wenn ich der Kapitän bin. Ich muss das Team gut leiten, aber trotzdem die kritischen Entscheidungen treffen, für die du Erfahrung brauchst.“
 
Was Roglič an radsportlichem Know-how fehlt, macht er mit Entschlossenheit wett. Man muss ein bestimmter Typ Mensch sein, um ein Grand-Tour-Fahrer zu sein, und erst recht, um ein erfolgreicher zu sein. Dreiwöchige Rennen sind die härteste Ausdauerprüfung des Radsports, und es steckt viel mehr dahinter, als nur die richtigen physischen Attribute zu haben – die Fahrer brauchen eine mentale Stärke, die sie befähigt, die Grenzen ihres Körpers zu verschieben. Sie verbringen mehr Zeit auf der Straße als zu Hause, trainieren endlos, oft allein – ein Faktor, der dadurch verstärkt wird, dass die Unterschiede zwischen den Topfahrern immer geringer werden. Dieses zusätzliche eine Prozent zu finden, ist häufig das, worauf es hinausläuft. Viele Fahrer haben das Gefühl, zu vereinsamen. Viele lassen sich in der Saisonpause komplett gehen, weil sie es endlich können, um sich für die Monate zu entschädigen, in denen sie gelebt haben wie ein Mönch. Bradley Wiggins, der in diesem Jahr auf seiner Roadshow-Tour war, sagte über seine Zeit beim Team Sky, wo er alleiniger Kapitän für die Gesamtwertung war: „Es hat keinen Spaß gemacht. Es war ein brutaler Elitesport“, bevor er es als eine der unglücklichsten Zeiten seiner Karriere bezeichnete. Was motiviert Roglič also, sich dieses kleine bisschen weiter anzutreiben, mehr aus sich herauszuholen, jeden Tag? „Auf dem Rad ist es cool, es ist schön, wenn du schneller fahren kannst, wenn du ein bisschen weniger leidest. Aber es ist nie genug, es ist nie schnell genug“, sagt er. „Du versuchst immer, besser und besser zu sein. Du leidest am Ende nicht weniger und es wird auch nicht leichter, du wirst nur schneller.“

Man bekommt den Eindruck, dass der Radsport in erster Linie Roglič’ Job ist. Er hörte mit dem Skispringen auf, als er erkannte, dass er nicht mehr der Beste der Welt werden konnte, wie er es sich erträumt hatte. Stattdessen fing er mit dem Radsport an und hat dieselbe Mentalität, der Beste zu sein. Er hat keine tiefe Leidenschaft für den Radsport – er wusste so gut wie nichts über den Straßenradsport oder seine Geschichte, als er 2012 anfing –, aber als er erkannte, dass er die physischen Attribute hatte, um gut zu sein, konzentrierte er sich ganz auf den Radsport. „Für mich ist es einfach schön, wenn ich Rennen gewinnen kann. Ich gebe 110 Prozent bei allem in dem Moment, wenn es nötig ist, beim Höhentrainingslager, wenn ich von zu Hause weg bin, um der Beste zu sein“, sagt er. „Es ist einfach eine zusätzliche Motivation, deine Frau und dein Kind zu Hause stolz zu machen, oder dass Kinder auf dem Rad sitzen und sagen: ,Verdammt, ich will sein wie er.‘“ Trotzdem gibt Roglič zu, dass es bei großen Rundfahrten auf die richtige Mentalität hinauslaufe: die Fähigkeit durchzuhalten, nicht aufzugeben, wenn Körper und Kopf danach schreien, dass er aufhören soll. „Wir sind Menschen. Mentale Stärke ist mit das Wichtigste. Es ist eigentlich ein Kampf gegen dich selbst“, sagt er.

 

Da Roglič seit seinen Teenagerjahren auf die ein oder andere Weise als Profiathlet lebt, war die größte Umstellung, mit der er klarkommen musste, nicht die Gewöhnung an die Opfer, die ein Topfahrer bringen muss. Vielmehr hat er in diesem abgelaufenen Jahr gelernt, dass mit dem Erfolg mehr Ansprüche an ihn gestellt werden, und je mehr Roglič gewinnt, umso mehr Leute wollen ein Stück von ihm. Zu Hause in Slowenien ist er ein Star aus dem einfachen Grund, dass Roglič dort ein Pionier ist und Radsportgeschichte schreibt. In einem Land, das ohnehin schon sportverrückt ist – Basketball, Handball und Fußball sind neben Skisprung die populärsten Sportarten des Landes –, lockt er das Publikum zum Radsport wie kein anderer Athlet vor ihm. Bei seiner Heimkehr nach Zagorje ob Savi unweit von Trbovlje, wo er geborgen wurde, wurde er nach seinem Vuelta-Sieg wie ein Held empfangen. Die wertvolle Zeit, die Roglič einmal für sich selbst hatte und mit seiner Familie verbringen will, von der er die meiste Zeit des Jahres getrennt ist – sein Sohn kam im Juni zur Welt –, gehört ihm nicht mehr ganz allein. Es war eine Herausforderung, an die er sich gewöhnen musste, ob es ihm gefällt oder nicht. „Wenn du zu Hause bist, wissen es alle, und alle wollen dich sehen. Du verlierst dein Privatleben. Alles, was du vorher hattest oder was dir gar nicht bewusst war, dass du es hattest, hast du jetzt nicht mehr. Jetzt kommst du einfach nach Hause und du schläfst da und das ist alles“, sagt Roglič.

„In Slowenien ist es verrückt. Es ist nicht schlimm, sie bewerfen dich nicht mit Eiern oder so, aber es dauert einfach … weißt du, was ich meine? Selbst wenn ich einkaufen gehe, dauert es. Selbst wenn ich eine kleine Ausfahrt mache, muss ich fünfmal anhalten. Es kostet Zeit. Schließlich willst du so viel Zeit mit der Familie verbringen wie möglich. Du denkst nicht über diese Aspekte des Lebens als Spitzensportler nach.“ Die Aufregung könnte noch größer werden im nächsten Jahr, wenn Roglič als einer der Favoriten in die Tour de France geht. Das öffentliche Interesse würde in Slowenien stratosphärische Höhen erreichen, sollte er das Rennen eines Tages gewinnen, so wie er es sich erträumt. „Natürlich will ich die Tour gewinnen. Es ist das größte Rennen, das du gewinnen kannst“, sagt er sachlich. Er ist in Frankreich schon Vierter geworden und hat einen Grand-Tour-Sieg in seinem Palmarès; ein konzentrierter Anlauf auf die Tour scheint Roglič’ natürlicher nächster Schritt zu sein. Aber die Ankunft von Tom Dumoulin bei Jumbo–Visma im nächsten Jahr macht die Sache komplizierter, da Dumoulin bereits gesagt hat, dass das Team möchte, dass er startet, wenn die Route ihm liegt. Aber Roglič will von einer Konfrontation mit seinem künftigen Teamkollegen nichts wissen und bezeichnet die Ankunft des Holländers als Vorteil, nicht als Hindernis. So wie Ineos und Sky zuvor die Ambitionen von Geraint Thomas, Chris Froome und Egan Bernal unter einen Hut bekamen, sagt Roglič diplomatisch, wenn beide Fahrer starten sollten, werde die Straße entscheiden, wer die Nummer eins ist.

„Je stärkere Fahrer du hast, umso stärker ist das Team, und je mehr Fahrer glauben, dass sie die Tour gewinnen können, umso besser können sie sich auf die Tour vorbereiten, umso besser werden sie bei der Tour sein“, sagt Rogli. „Die Straße wird früher oder später zeigen, wo dein Platz ist.“ Dabei gibt Roglič zu, noch nicht viel von der Route 2020 zu wissen, außer dass das Zeitfahren der 20. Etappe hoch nach La Planche des Belles Filles eine Etappe sei, die er „gewinnen kann“. Was auch immer nächstes Jahr passiert: Nichts führt an der Tatsache vorbei, dass Roglič’ Leistungen 2019 bedeuten, dass er bei fast jedem Rennen als Favorit starten wird. Für andere könnte das eine Belastung sein, aber für Roglič ist die Favoritenrolle eine Motivation, sich weiter anzustrengen. „Ich mag es, du musst darum kämpfen, du musst es dir verdienen“, sagt er. „Es ist immer dasselbe – wenn du gewinnen willst, musst du der Beste sein.“ Aber zuvor ist es an der Zeit, dass Roglič etwas wohlverdiente Ruhe genießt.



Cover Procycling Ausgabe 191

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 191.

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