Der Wunderknabe

Er wird im Januar erst 20 Jahre alt, aber Remco Evenepoel elektrisiert bereits die Radsportwelt. Der belgische Teenager hat spektakulär das WorldTour-Eintagesrennen Clásica San Sebastián gewonnen und ist europäischer Zeitfahrmeister. Was kann er noch erreichen? Viel, glaubt er.

 

Um die Startlinie des Grand Prix Cycliste de Québec zu erreichen, müssen die Fahrer die Grande Allée hinauffahren, die elegante Straße, die sich steil hinter der Landzunge am Sankt-Lorenz-Strom erhebt. Die meisten tun das gemütlich, in ihrem kleinsten Gang. Remco Evenepoel meldet sich mit mehr Schwung zum Dienst – jede Sehne zuckt, als er den Hang auf dem großen Kettenblatt hochklettert. Am Start stellt sich Evenepoel neben Michał Kwiatkowski, der sich mit seinem Wattmessgerät beschäftigt, und haut zur Begrüßung spielerisch mit der Faust auf den Lenker des Ex-Weltmeisters. „Wie ist die Form?“, zwitschert Evenepoel. Kwiatkowski zieht eine übertriebene Grimasse und der Jüngere lacht herzlich. In den 1990ern, als Evenepoels Vater Patrick für Collstrop fuhr, hätte es ein Profi im ersten Jahr nicht gewagt, einen der Großen des Pelotons anzusprechen, aber die Zeiten ändern sich. Außerdem ist Evenepoel kein typischer Neuprofi.
 
Das zeigt er zwei Tage später in Montréal, als er sich auf dem Rundkurs im Mount Royal Park absetzt. Es sind noch fünf Runden zu fahren, aber tieffliegende Panik ergreift das Feld, als Evenepoel mit den Flügeln schlägt. Im anschließenden Hurrikan versuchen rund 20 Fahrer alarmmäßig, ihn einzuholen, aber sie benötigen dazu eine halbe Runde. Der Vorstoß verläuft schließlich im Sande, ist aber trotzdem vielsagend. 19-Jährige lösen normalerweise keine so hektischen Reaktionen bei ausgepowerten Pelotons aus, aber dies ist kein normaler 19-Jähriger. So viel ist klar, als Evenepoel sich zu Beginn der Woche in Québec City mit Reportern hinsetzt. Junge Fahrer, die ins Rampenlicht gestoßen werden, geben meistens höfliche, aber schüchterne Interviewpartner ab, ihre Hingezogenheit zum Licht ist gemindert von der Angst vor der Flamme. Dagegen scheint sich Evenepoel unter grellen Lampen entwaffnend wohl zu fühlen. Er zeigt die Sicherheit eines Mannes, der den Ruhm nicht unbedingt gesucht hat, aber genau weiß, dass er ihm auch nicht zufällig zuteilwurde. Jemand erwähnt Eddy Merckx’ Einschätzung nach Evenepoels Sieg bei der Clásica San Sebastián im August, als er spekulierte, der Teenager könnte einmal seine eigenen Leistungen in den Schatten stellen. Seit über 40 Jahren bestreiten junge belgische Fahrer, der neue Kannibale zu sein, aber dies ist nicht irgendein junger belgischer Fahrer. „Ich habe gelesen, dass er das gesagt hat“, lächelt Evenepoel. „Aber mein Ziel ist einfach, der Beste zu sein. Ich glaube, ich habe das Zeug dazu, eines Tages der Beste zu sein. Du musst die Beine benutzen, die du hast – und auch den Kopf.“
 
Senkrechtstarter
Evenepoels flotter Vormarsch in die WorldTour könnte zu einer Montage sich drehender Zeitungen verdichtet werden, deren Überschriften die neuesten kolossalen Leistungen des Youngsters aus Schepdaal, einer Schlafstadt westlich von Brüssel, ausposaunen. Tatsächlich könnte man die zurückgelegte Wegstrecke in zwei Sätzen zusammenfassen. Am ersten Sonntag des April 2017, dem Tag, an dem Philippe Gilbert als Solist die Flandern-Rundfahrt gewann, heftete sich Evenepoel bei einem Juniorenrennen in Zoutleeuw zum ersten Mal eine Startnummer an. Gut 18 Monate später waren sie Teamkollegen bei Deceuninck–Quick-Step. Als Sohn von Agna, einer Hairstylistin, und Patrick, der nach seiner kurzen Radsportkarriere eine Verputzer-Firma gründete, war Evenepoel bis zum Frühjahr 2017 ein aufstrebender Fußballer. Zwischen zwei Stationen bei Anderlecht spielte er drei Jahre in den Niederlanden bei der Jugend von PSV Eindhoven und er vertrat die belgische U15- und U16-Auswahl. Frustriert nach einer Weile auf der Ersatzbank bei Anderlecht und einem Transfer zu Mechelen, aus dem nie etwas wurde, hakte Evenepoel seine Fußballerkarriere ab und wandte sich dem Sport seines Vaters zu. Trotz eines abgeschlagenen 75. Platzes bei jenem ersten Start, vor dem er nur zwei Wochen trainiert hatte, reichte Evenepoels Bekanntheit als Fußballer, um das Interesse eines örtlichen Fernsehsenders zu wecken, der einen Bericht über seinen plötzlichen Wechsel der Disziplin brachte.
 
Nach gut einem Monat als Radsportler reichte Evenepoels rohe Athletik – mit 16 Jahren und im Auswärtstrikot von Anderlecht war er den Halbmarathon in Brüssel in 1:16 Stunden gelaufen –, um zu einem Trainingslager der belgischen Nationalmannschaft in den Vogesen eingeladen zu werden. Am Ende des Jahres hatte er vereinbart, nach den Juniorenrängen zum Team Hagens Berman Axeon von Axel Merckx zu gehen. Anfangs war Evenepoel auf Belgien beschränkt, aber das Geraune über seine ungehobelte Kraft verstärkte sich und drang über die Grenzen, als er 2018 ganze 36 von 44 Rennen gewann, vor allem als er Europameister der Junioren wurde – mit zehn Minuten Vorsprung und nach einem fast 100 Kilometer langen Solo. Oberflächliche Betrachter hätten es für einen Druckfehler in der Ergebnisliste halten können. Wie um sicherzugehen, ließ Evenepoel eine weitere Demonstration folgen, dieses Mal vor einem internationalen Fernsehpublikum, als er das Zeitfahren und das Straßenrennen der Junioren bei der Weltmeisterschaft in Innsbruck überlegen gewann.
 
Da hatte sich Deceuninck–Quick-Step-Manager Patrick Lefevere seine Dienste bereits gesichert. Er lud Evenepoel zur Tour de France ein, wo dieser sich vertraglich verpflichtete, für 2019 bei dem Team zu unterschreiben, womit er direkt den Sprung in die WorldTour machte. Ein solches Talent, dachte sich Lefevere, wäre bei U23-Rennen unterfordert. Der Junge wuchs schneller aus Altersklassen heraus, als die meisten Teenager ihre Schuluniformen abtragen. Lefeveres Langlebigkeit als Manager ist nicht zuletzt seinem Geschäftssinn zu verdanken, aber der 64-Jährige gibt sich als wohlwollender Paterfamilias, eine Qualität, die Evenepoel dazu bewegte, ein „verrückt hohes Angebot“, wie er es nannte, vom Team Sky auszuschlagen. Selbst Lefeveres taktlose öffentliche Äußerung, Evenepoel müsse abnehmen, konnte seinen Protegé nicht abschrecken, der seinen Vertrag unterdessen bis 2023 verlängert hat. Es half vielleicht, dass Lefevere bereits Erfahrung damit hatte, mit jungen belgischen Fahrern umzugehen, die in der Öffentlichkeit aufwachsen müssen, selbst wenn die Karrieren von Tom Boonen und dem verstorbenen Frank Vandenbroucke am Ende ganz unterschiedlich verlaufen sollten.
 
Aber zunächst schien das Team bei der Initiation von Evenepoel so behutsam vorgehen zu wollen wie einst Mapei vor fast zwei Jahrzehnten mit Filippo Pozzato, dem letzten Fahrer mit vergleichbarem Profil, der von den Junioren direkt ins Profi-Peloton wechselte. Der ursprüngliche Plan war, den Youngster nur wenige und kleinere Rennen fahren zu lassen, selbst wenn die Begrenzung seiner WorldTour-Starts die belgischen Tageszeitungen nicht davon abhalten konnte, dem Starlet mit ihren Korrespondenten bis ans Ende der Welt zu folgen. Es schien, dass Deceuninck – um etwas zu umschreiben, was ein Plattenfirmen-Mogul Leonard Cohen Anfang der 1980er sagte –, wusste, dass Evenepoel gut war, aber nicht sicher war, ob er zu irgendetwas taugte, zumindest wenn es um die Grundlagen wie das Fahren im Peloton geht. Zu Beginn des Jahres dachte man angeblich sogar darüber nach, Evenepoel Nachhilfeunterricht in Form von Starts mit der belgischen U23-Auswahl zu geben, obwohl Sportdirektor Davide Bramati seine technischen Defizite inzwischen herunterspielt.
 
„Er tritt gegen Rivalen an, die 20 Jahre älter sind und natürlich mehr Erfahrung haben, wie man im Feld fährt, aber er hat schon viel gelernt“, versichert Bramati. „Bald wird er auf demselben Niveau sein wie 38-Jährige.“ Evenepoel hatte einen soliden Start in den Profiradsport mit einem neunten Platz bei der Vuelta a San Juan und einem ungestümen Auftritt bei der UAE Tour, aber das restliche Frühjahr schlüpfte er in die unterwürfige Rolle, die man von einem Neuling erwartet, der sein Handwerk lernt. Es gibt jedoch einen feinen Unterschied zwischen dem, ein außerordentliches Talent zu fördern, ohne die Virtuosität, die ihn definiert, mit unnötigen Anweisungen zu ersticken. Bei der Tour of Norway im Juni fiel Yves Lampaert auf, dass er nicht seiner Natur entsprechend fuhr. „Ich habe viel mit Yves gesprochen, und er hat mir geraten, weiter so zu fahren, wie ich letztes Jahr gefahren bin, weil er gesehen hat, dass ich ein bisschen im Begriff war, das Gespür fürs Gewinnen zu verlieren“, sagt Evenepoel. Auf der folgenden Etappe fuhr er über 60 Kilometer vor dem Feld her, bis er im Finale gestellt wurde. Die Enttäuschung wurde gemildert durch das wiedergewonnene Selbstbewusstsein. „Da hatte ich das Gefühl, dass es in mir steckt“, sagt er.

 

Lampaerts kontraintuitiver Ratschlag, wieder zu fahren wie ein Junior, zahlte sich aus – oder vielleicht waren es die drei Kilogramm Babyspeck, die Evenepoel seit Beginn der Saison angeblich abgenommen hat. So oder so dominierte er, nachdem er aus Norwegen zurückkam, die Belgien-Rundfahrt und gewann dann eine Etappe des Adriatica Ionica Race im Juli. Es gab schon eine Sättigung an Superlativen, als Evenepoel im August einen Solosieg bei der Clásica San Sebastián feierte, aber sie ließen sich kaum noch steigern, als er fünf Tage später die Zeitfahr-Europameisterschaft gewann. Selbst Roger De Vlaeminck, der Boonens Paris–Roubaix-Siege als „drittklassig“ abtat, war auffällig begeistert, als Het Laatste Nieuws ihn anzurufen wagte. „Ich weiß nicht, was es ist mit diesem kleinen Mann“, sagte De Vlaeminck, „aber er wird nie wirklich müde.“ Vielleicht half es, dass Evenepoel sich langfristig eher als Rundfahrt-Favoriten – nein, -Sieger – sieht denn als Eintages-Spezialist. „Ich habe in San Sebastián ein sehr schweres Rennen gewonnen und ich habe die europäische Zeitfahrmeisterschaft gewonnen, und das ist das Rüstzeug, das du brauchst, um eine große Rundfahrt zu gewinnen oder die Gesamtwertung in Angriff zu nehmen“, sagt der Jungstar ungeniert. Die sportliche Kost in seinem Heimatland ist hingegen nicht ganz nach seinem Geschmack. „Das Kopfsteinpflaster liegt mir nicht“, sagt er lachend. „Letzte Woche habe ich eine Fahrt bei mir in der Nähe gemacht. Da gab es eine Jedermannversion der Flandern-Rundfahrt und der Kurs war markiert, also bin ich einfach den Pfeilen gefolgt, aber nach dem ersten Kopfsteinpflasterabschnitt bin ich nach Hause gefahren. Ich konnte einfach nicht mehr. Und der Regen war auch zu stark.“
 
Das Metier
Im Sattel erinnert Evenepoels dynamischer Stil an ein Boccioni-Gemälde, aber auch sonst strahlt er eine gewisse Ruhelosigkeit aus. Als Profi, sagt er, sei es schwerer gewesen, sich an das Ausruhen zu gewöhnen als an die Rennen. „Das Schwerste ist das Metier und das Leben außerhalb des Radsports, vor allem die Erholung nach dem Training“, sagt Evenepoel. „Im letzten Jahr war ich noch in der Schule. Ich trainierte vor und nach der Schule, machte meine Hausaufgaben und ging ins Bett. Es war immer dasselbe Ritual. Bei den Profis ist es anders. Du musst dich wirklich von Woche zu Woche darauf einstellen, und das lerne ich jetzt.“ Obwohl Evenepoel nicht viel über sein Trainingsprogramm verrät – „keine Details“, scherzt er –, muss er noch überzeugt werden, dass weniger mehr sein kann. „Du musst darauf bestehen, dass ein ruhiger Tag eine Stunde Fahren heißt, nicht drei“, sagte sein Coach Koen Pelgrim nach den Europameisterschaften zu Sporza. „Ich hatte nie einen 19-Jährigen, der tun kann, was Remco kann“, fügte der Holländer hinzu und verwies auf dessen außergewöhnliche Fähigkeit, sich von langen Belastungen schnell zu erholen und sie dann zu wiederholen. Wie? Pelgrim weiß nicht, wie er das Phänomen erklären soll. „Eine Kombination aus guten Genen, Talent und harter Arbeit“, vermutet er.
 
Evenepoels Frühreife beschränkt sich nicht auf seine physischen Gaben. Abseits der Straße hat er eine entwaffnende Selbstsicherheit, die eher liebenswert als arrogant rüberkommt. „Er ist ein sonniger, intelligenter Typ“, sagt Bramati. Derweil wird der unverwandte Blick einer erwartungsvollen belgischen Presse eher als Berufsrisiko akzeptiert denn als Hindernis gefürchtet. Er ist gelassen mit einer Hinterfragung eines möglichen Umzugs nach Monaco umgegangen und hat Berichte, wonach er von Coach Rik Verbrugghe einen Platz im belgischen WM-Team verlangt hat, höflich korrigiert. Als eine italienische Zeitung aus den Instagram-Likes von Evenepoel, der seit Kurzem wieder Single ist, eine Klatschkolumne machte, war seine getwitterte Antwort indes knapp: „Hört einfach mit dem Mist auf, ja?“ In einer Kolumne für Het Nieuwsblad während der Weltmeisterschaft gab Lefevere zu, dass er gehofft habe, dass Boonen 2005 in Madrid nicht das Weltmeistertrikot holen würde, so besorgt war er, dass der kleine „Tommeke“ den wachsenden Anforderungen des Ruhms nicht gewachsen sein würde. „Nicht zu Unrecht“, schrieb Lefevere, aber er hatte keine solchen Bedenken bei Evenepoels Fähigkeit, mit dem Druck umzugehen. „Ich hoffe, er gewinnt die Weltmeisterschaft“, schrieb Lefevere. „Sein Hunger ist das Letzte, worüber ich mir Sorgen mache.“
 
Langfristige Ziele
Letztlich musste sich Evenepoel beim Zeitfahren in Yorkshire mit Silber hinter einem bärenstarken Rohan Dennis begnügen. Aber wenn das die soundsovielte Demonstration seiner verblüffenden physischen Gaben ist, war seine Leistung im Straßenrennen vier Tage später vielleicht eine lebhaftere Zurschaustellung seiner Moral. Als Gilbert, einer der beiden Kapitäne Belgiens, 125 Kilometer vor dem Ziel stürzte, wartete Evenepoel auf ihn und redete ihm gut zu, wieder aufs Rad zu steigen. Gilbert, der bereits vor sieben Jahren Weltmeister war, hatte die Miene eines Mannes, der sich seinem Schicksal stillschweigend ergab, und so lehnte sich Evenepoel in seinem Namen dagegen auf. Bei strömendem Regen machte er zwei Runden lang Tempo für Gilbert in einer entschlossenen, aber zum Scheitern verurteilten Aufholjagd auf das enteilte Peloton. Der Sieg war weggespült; Evenepoel schien jetzt nur noch gegen die Vorstellung einer Niederlage anzufahren. Es war natürlich ein Gegner, der nicht besiegt werden konnte, und er beendete das Rennen, nachdem Gilbert aufgegeben hatte, aber die donquichottische Anstrengung fühlte sich an wie ein Mikrokosmos seiner scheinbar grenzenlosen Ambitionen.
 
Vierzehn Tage zuvor in Kanada war Evenepoel gebeten worden, seine Karriereziele zu umreißen. Statt einen vagen, weit hergeholten Traum zu erwähnen, spulte er eine fokussierte Liste der Welten ab, die er erobern will. „Die drei großen Rundfahrten“, sagte Evenepoel. „Die Weltmeisterschaft … Olympia.“ Er lächelte, als er sprach, aber es war klar, dass er nicht scherzte.



Cover Procycling Ausgabe 190

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 190.

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