Das goldene Kind

Als Sieger von Tour de France, Tour de Suisse und Paris–Nizza in dieser Saison ist Egan Bernal der Fahrer des Jahres, und er führt eine neue Generation junger Akteure im Profiradsport an. Wie hat der 22-Jährige die Weltspitze erreicht und wo kommt er her?

 

Du warst der jüngste Fahrer der Tour de France 2018 und der zweitjüngste bei der Austragung 2019. Entspannt es dich, in deinem Alter so viel zu gewinnen, weil du noch so viel Zeit in deiner Karriere vor dir hast und schon so viel erreicht hast? Oder macht es dich hungriger, in den kommenden Jahren noch mehr zu gewinnen?
Weder noch. Ich werde weiter mit derselben Einstellung Rennen fahren wie immer. Ich wollte immer Rennen gewinnen, ich wollte auch immer trainieren, und egal, ob ich gewinne oder nicht, haben sich diese Gefühle nicht geändert.
 
Zurzeit gibt es viele junge Fahrer, die im Profiradsport für Furore sorgen, und viele Theorien, warum das so ist. Eine lautet, dass es bei so viel mehr physiologischen Informationen und Daten, die heutzutage zur Verfügungen stehen, nicht mehr nötig ist, ein erfahrener Rennfahrer zu sein, um gewinnen zu können – so wie früher. Siehst du das auch so?
Nein, zumindest nicht in meinem Fall. Daten und Technologie, all das Zeug über Wattzahlen und Leistung – ich glaube nicht, dass ein junger Fahrer gewinnt, weil er permanent darauf schaut, wie viel Watt er produziert. Vielmehr glaube ich, dass junge Fahrer heutzutage mehr gewinnen, weil die Teams ihnen in einem jüngeren Alter größere Möglichkeiten geben – manchmal direkt, wenn sie Neuprofis sind. Sie glauben an sie in einem viel früheren Alter als früher. Ich weiß nicht, wie der Radsport damals war, weil ich selbst jung und neu in der Szene bin. Aber zumindest in meinem Fall kann man meinen Erfolg damit erklären, dass mein Team so viel Vertrauen zu mir hat und mir die Erfahrung, die mir bei den Rennen fehlt, durch meine Teamkollegen vermittelt wird. Sie halten mich permanent an der Spitze des Pelotons, sagen mir, ob ich im Feld links oder rechts fahren und wann ich essen soll. Alles, was ich lernen muss, um ein besserer Rennfahrer zu sein, bringen sie mir bei. Ich habe also die 100-prozentige Unterstützung vom Team, und meine Mannschaftskollegen achten darauf, dass ich tue, was ich tun muss. Statt Technologie und Daten, was für sie funktionieren mag, funktioniert es so für mich.
 
In früheren Interviews hast du erwähnt, dass in deinen ersten beiden Jahren in Europa, 2016 und 2017, Fahrer wie Franco Pellizotti und andere sowie das Management bei Androni Giocattoli maßgeblich zu deinem guten Start beigetragen haben.
Das stimmt. Das Team war mein erstes im Straßenradsport und ich habe sehr viel gelernt. Das Team hat mir 100-prozentig vertraut und mich zu fast allen Rennen mitgenommen, die mir am besten lagen. Ich konnte immer auf die Unterstützung von Giovanni Ellena zählen, dem Sportlichen Leiter von Androni. Und darüber hinaus wurde er ein guter Freund, der mich sportlich und privat unterstützt und dafür gesorgt hat, dass ich mit guten Leuten an einem schönen Ort wohnte, während ich beim Team war. In diesen ersten beiden Jahren hat mir das Team enorm geholfen und dafür gesorgt, dass ich mir keine allzu großen Sorgen über irgendwas machen musste. Von Pelli [Pellizotti] habe ich, obwohl ich nur eine Saison mit ihm hatte, viel gelernt.
 
Apropos Androni: Du bist im Moment in Italien, und ich kann mir vorstellen, dass die Leute dich viel nach dem Giro d’Italia fragen. Statt dich 100-prozentig auf die Tour zu konzentrieren – könnte der Giro in Zukunft auf deinem Programm stehen?
Natürlich werde ich ihn eines Tages fahren müssen. Wir reden schließlich über den Giro d’Italia, eine der drei großen Rundfahrten des Jahres. Er erfordert viel Vorbereitung und du kannst die Entscheidung, ihn zu fahren, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Tour ist die Tour, wie alle sagen, aber es gibt auch den Giro und die Vuelta a España. Zu entscheiden, was ich wann mache, muss Hand in Hand damit gehen, welche Rennen mich das Team fahren lassen will und welche mir am besten liegen, wobei man auch daran denken muss, dass es einige Jahre geben wird, wo mir die Giro-Route besser liegt als die Tour. Manchmal wird es umgekehrt sein und die Tour wird mir besser liegen. Wir müssen mit diesen beiden Faktoren spielen, aber so oder so wird der Giro sicher eines Tages zu meinen Plänen gehören.
 
Wovon wird deine Entscheidung, welche großen Rundfahrten du 2020 fährst, also abhängen?
Als Erstes müssen wir uns die Routen anschauen, und es ist schwer zu sagen, was ich als Nächstes mache, ohne zu wissen, wie sie aussehen. Ich muss erst noch mit dem Team und Dave [Brailsford] reden, um das nächste Jahr zu planen. Sobald wir uns die Routen angesehen haben, planen wir, welche jedem von uns liegt, abhängig von dem Charakter der Fahrer und den Anforderungen des Teams. Im Moment ist es schwer zu sagen. Ich habe schon gesagt, dass ich als Titelverteidiger der Tour im Juli am Start sein sollte. Aber wenn die Tour-Route nicht so toll für mich ist und der Giro mir besser liegt und das Team will, dass ich ihn fahre, werde ich den Giro fahren. In jedem Fall werde ich alles mit dem Team ausarbeiten.
 
Die diesjährige Tour war für alle eine echte Achterbahn mit vielen plötzlichen Wechseln, viel Drama und keinem klaren Ergebnis bis fast zuletzt. Aber kann man sagen, dass für dich persönlich die Etappe in den Alpen nach Tignes, wo du angegriffen hast, den Iseran runterfuhrst, dann angehalten wurdest, vom Rad abstiegst und ins Auto stiegst, zum Ziel gefahren wurdest und das Trikot bekamst, die denkwürdigste von allen war?
Ja. Die Etappe war die, wo das Team mir endlich einen Freibrief gegeben hatte, während ich auf allen vorangehenden ruhig bleiben und auf meinen Moment warten sollte – der später kommen sollte. Deswegen wollte ich attackieren, und an dem Morgen habe ich grünes Licht vom Team bekommen, das zu tun und voll auf Sieg zu fahren. Aber dann passierte, was passierte. Stell dir vor, wie es sich anfühlt, wenn du endlich angreifen kannst, wie ich es wollte, und meine Beine fühlten sich super an, dann kommt jemand mit dem Auto angefahren und sagt dir, dass du anhalten sollst und das Rennen neutralisiert wurde. Und obendrein lande ich im Gelben Trikot. Ich werde diesen Tag und wie ich die Gesamtführung übernahm, nie vergessen.
 
Gab es irgendeinen Zeitpunkt vor der Tour wie etwa bei der Tour de Suisse, wo du vielleicht das Gefühl hattest, dass es eine ganz besondere Tour de France für dich werden könnte?
Nein. Bei der Tour ging es vor allem darum, es nach und nach anzugehen. Als ich zur Tour de Suisse kam, fühlte ich mich gar nicht so brillant. Ich hatte sehr viel Ausdauerarbeit zu Hause in Kolumbien gemacht, viele Kilometer im Training abgespult, mit sehr wenig Intensität. Die Idee war, mir diese Intensität in der Schweiz zu holen, und schließlich hat es funktioniert und ich habe gewonnen. Aber am ersten Tag, beim Prolog – uff! Ich fühlte mich schrecklich, weil ich seit der Volta a Catalunya keine so intensive Belastung mehr hatte. Selbst bei der Tour fühlte ich mich in der ersten Hälfte nicht fantastisch. Stattdessen war die Idee, dass ich mich weiter steigere bis zur letzten Woche in den Alpen, auf der die schwersten Etappen des ganzen Rennens warteten. Mein Trainer hat für mich einen perfekten Aufbau für diesen letzten Teil der Tour geplant. Weil das der entscheidende Teil war mit Etappen, wo die Fahrer keine zehn oder fünf Sekunden verlieren würden – die Abstände würden in Minuten gemessen werden.
 
In einem größeren Kontext – was bedeutet es für deine Landsleute in Kolumbien, dass du die Tour de France gewonnen hast?
Es war unglaublich wichtig, endlich den ersten Tour-de-France-Sieg des Landes zu erringen. Bisher ruhten unsere Hoffnungen vor allem auf Nairo [Quintana], der am nächsten an einem Sieg war und so viele Male auf dem Podium gestanden hatte, und dann gab es auch Rigo [Urán] als Kandidaten. Als ich plötzlich auf der Bühne auftauchte, war es eine echte Überraschung und viele sagten: ‚Wer ist dieser junge Typ, der die Tour gewonnen hat? Wir dachten, es würde Nairo sein.‘ Aber es ist etwas Besonderes, dass es endlich jemand geschafft hat, und in Kolumbien wurde es entsprechend gefeiert.

 

Dein Trainer, Xabi Artetxe, sagte mir einmal, dass ihm an dir besonders gut gefällt, dass du Anweisungen nur einmal zu hören brauchst und sie dann verstehst und dich an sie hältst. Ist das etwas, was dir geholfen hat?
Als Radsportler musst du dich, wenn du jung bist, von anderen anleiten lassen. In einem Team wie Ineos, das dir die Möglichkeit gibt, zur Tour de France zu gehen und Co-Kapitän zu sein, und wo ich Trainer wie Xabi Artetxe habe, der sich mit mir hinsetzt und mir genau und sehr detailliert erklärt, wie ich mich vorbereiten sollte, und mich überzeugt und mir sagt, wie das bei der Tour funktionieren wird – was sollte ich anderes tun, als diesen Anweisungen zu folgen? Das Team hat jetzt über die Jahre sieben Frankreich-Rundfahrten gewonnen, also kann man sagen, dass es viel Erfahrung und Know-how hat. Natürlich gebe ich ihnen Feedback, ich sage ihnen, ob ich glaube, dass das, was sie mir raten, funktioniert oder nicht. Aber das Wichtigste ist, dass zwischen mir und dem Team gegenseitiges Vertrauen besteht.
 
Etwas, was den Leuten bei deiner Siegesrede bei der Tour auffiel, war, dass du so viele Sprachen sprichst – Französisch, Spanisch, Italienisch und Englisch. Du hast nicht viel Englisch gesprochen, als du zum Team kamst. Welche Fortschritte machst du?
Ordentliche. Ich spreche natürlich lieber Spanisch, wenn ich zu Hause bin. Aber wenn ich bei einem Rennen bin oder wir bei einem Rennen zu Abend essen, unterhalten wir uns auf Englisch, und selbst wenn ich es nicht brillant spreche, komme ich sehr gut klar, und ich gebe sogar einige Interviews auf Englisch. Ich habe zwei Jahre in Italien gelebt, daher spreche ich Italienisch, während Französisch eine Sprache ist, die ich gerne lernen möchte wegen der Tour de France. Ich spreche sowieso gerne verschiedene Sprachen, und wenn es gut für meinen Job ist, warum nicht?
 
Kannst du uns ein bisschen erzählen, was Egan Bernal macht, wenn er nicht auf dem Rad sitzt? Könntest du uns Bücher oder Filme empfehlen, die du vor Kurzem gelesen oder gesehen hast?
Ich lese von allem ein bisschen, aber in letzter Zeit war ich ein bisschen zu faul, um ein gutes Buch in die Hand zu nehmen. Ich kann eigentlich nichts empfehlen, denn wenn ich das tue, denken die Leute, dass ich dieses oder jenes Thema mag oder dass ich eine bestimmte Art von Film mag, während ich im Prinzip nur die Augen offen halte für alles, was so abgeht. Wenn jemand mir ein Buch leiht, Horror oder egal was für ein Genre, lese ich es. Aber es muss kein bestimmtes Thema sein.
 
Apropos Schriftsteller: Einer der berühmtesten Persönlichkeiten Kolumbiens, der Romanautor Gabriel García Márquez, hat Journalismus studiert wie du und einmal ein Mega-Interview [insgesamt 35 Stunden, veröffentlicht in 14 Teilen in der Zeitung El Espectador – d. Red.] mit dem Radsportler Ramón Hoyos gemacht, einem fünffachen Gewinner der Vuelta a Colombia in den 1950ern.
García Márquez war einer der berühmtesten Schriftsteller Kolumbiens. Er hat den Literatur-Nobelpreis gewonnen und ich glaube, er hat auch eine Weile in meiner Heimatstadt Zipaquirá studiert. Wir haben in der Schule einige seiner Werke durchgenommen, seinen Roman Hundert Jahre Einsamkeit, aber seine Radsportartikel habe ich nicht gelesen, obwohl mir Leute davon erzählt haben.
 
Spielt bei so vielen Kapitänen die Kommunikation im nächsten Jahr beim Team Ineos eine zentrale Rolle, besonders wenn es darum geht, wer das Team bei welchem Rennen und bei der Tour anführt? In diesem Bereich hat es in dieser Saison gut funktioniert – was glaubst du, wie es im nächsten Jahr mit Froome läuft, wenn er nach seinen Verletzungen sein Comeback gibt?
Ich glaube nicht, dass es damit im nächsten Jahr große Probleme geben wird. Es stimmt, dass wir drei Toursieger im Team haben und mit Richard Carapaz einen Giro-Sieger. Richard verdient nicht nur ein bisschen, sondern viel Respekt von uns dafür, dass er es geschafft hat, den Giro zu gewinnen. Aber es stehen drei große Landesrundfahrten auf dem Kalender, es muss nicht alles um die Tour de France gehen. Auch der Giro ist ein sehr wichtiges und schönes Rennen, und selbst wenn wir alle die Tour fahren wollten – wir sind alle Profis und das Team entscheidet, wer Kapitän ist und wer nicht. Es wird uns nicht schwerfallen festzulegen, wer Erster, Zweiter und Dritter in der Rangordnung ist. Wenn wir am Ende alle eine einstündige Kletterpartie bei der Tour hinlegen, wird der stärkste Fahrer sicher der Fahrer sein, der im Anstieg am weitesten vorn ist. So, wie ich es sehe, wissen die Teams, wie sie mit hochkarätigen Fahrern im selben Rennen umgehen, und daran wird sich im nächsten Jahr nicht viel ändern. Und wenn du dir Froomes Charakter anschaust: Er ist ein Champion, aber er ist wirklich entspannt und jemand, mit dem man die Dinge durchsprechen kann.
 
Das gilt auch für G [Geraint Thomas] und das gilt auch für mich. Wenn jemand stärker ist als ich, was kann ich dann machen?
Ich könnten den Jungs sagen, dass sie Vollgas geben sollen, weil ich die Tour gewinnen will, aber ich wäre derjenige, der zum Schluss abgehängt wird, wenn noch eine Gruppe von 20 Fahrern vorn ist. Daher werden wir sehen müssen, wie es läuft, aber ich glaube, es wird damit keine Probleme geben.



Cover Procycling Ausgabe 190

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 190.

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