Abflug

In sechs Monaten des letzten Jahres hat Pascal Ackermanns Sprinterkarriere spektakuläre neue Höhen erreicht, und nun ist er bei Bora der schnelle Mann für den Giro d’Italia. Kann Deutschlands jüngster Sprintstar seinen unaufhaltsamen Aufstieg fortsetzen?

 

Das erste Mal, dass ich feststellte, welch großen Einfluss Pascal Ackermann auf den deutschen Radsport hat, befand sich keiner von uns auch nur annähernd im Bereich seiner Lieblingsjagdgründe: den Massensprints. Wir waren nicht einmal in der Nähe eines Radrennens. Auf dem Weg zur Polen-Rundfahrt im letzten Jahr hatte ich einen Anschlussflug in Frankfurt. Während ich wartete, tauchte ein mittelgroßer blonder Typ Mitte zwanzig in einem Bora-Trainingsanzug auf, dem eine Gruppe etwas beschwipster männlicher deutscher Fans mittleren Alters folgte, die alle aus vollem Halse „Ack-er-mann! Ack-er-mann!“ brüllten. Die spontane Bruderschaft versammelte sich dann um ihren Helden (der einfach höflich lächelte und sie gewähren ließ), als er inmitten einer Woge von herzhaftem teutonischen Gelächter, Schulterklopfen, geschrienen Unterhaltungen, Gruppenfotos und Selfies wartete. ‚Wenn sie doch nur die Klappe halten würden‘, dachte ich damals. Aber 48 Stunden später wurde mir klar, warum diese Fans so enthusiastisch waren. Ackermann fuhr nicht nur auf der ersten Etappe der Polen-Rundfahrt, sondern auch auf der zweiten souverän zum Sieg. Noch verblüffender an seiner wachsenden Popularität ist, dass Ackermann noch kein einziges Monument und noch keine Grand-Tour-Etappe gefahren ist, geschweige denn gewonnen hat. Und es ist auch nicht so, dass die deutsche Öffentlichkeit keine Zeit gehabt hätte, sich an Erfolg zu gewöhnen: In letzterer Kategorie haben die drei Topsprinter Marcel Kittel, John Degenkolb und André Greipel in den letzten rund zehn Jahren zusammen 53 Etappensiege eingefahren.

Warum also die ganze Aufregung im Flughafen von Frankfurt? Ganz einfach: Pascal Ackermanns sehr erfolgreiches zweites Jahr als Fahrer auf Topniveau. Er holte 2018 sechs Siege in der WorldTour, darunter zwei Etappen in Polen, eine Etappe der Tour de Romandie, eine der Dauphiné, eine Etappe der Tour of Guangxi und das RideLondon-Surrey Classic – Letzteres, obwohl er mitten im Rennen gestürzt war und die zweite Hälfte des Rennens auf dem Rad eines Teamkollegen fuhr. Ebenso eindrucksvoll, wenn auch auf HC-Ebene, waren Ackermanns zwei Siege bei schweren Eintagesrennen an einem einzigen Wochenende: das Brussels Cycling Classic (früher Paris–Brüssel) und der GP Fourmies. Es ist eine Weile her, seit der Bürgermeister seines Heimatorts Minfeld beschloss, Ackermann habe es verdient, dass eine Straße nach ihm benannt werde, selbst wenn Ackermann sich zu betonen beeilte, dass es eigentlich nur ein Weg gegenüber dem Haus seiner Eltern sei. Aber für das breitere deutsche Publikum war Ackermanns Durchbruch die deutsche Meisterschaft 2018, als er Degenkolb im Sprint einer 20-köpfigen Gruppe schlug. André Greipel, der selbst dreimal deutscher Meister war, und Marcel Kittel ließ er ebenfalls hinter sich. Es stimmt, dass die letztjährigen deutschen Meisterschaften auf einem komplett flachen Kurs für einen Massensprint prädestiniert waren. Aber wie Ackermann Procycling erzählt, kam der Moment, wo es 2018 bei ihm „Klick“ machte, als seine Siegchancen viel geringer waren. „Es war die Etappe der Dauphiné, die ich gewonnen habe, die eigentlich keine Etappe war, wo ich dachte, dass sie mir liegt, weil sie so viele Anstiege hatte“, sagt er. „Aber ich hatte wirklich hart trainiert und im Winter ein paar Kilo abgenommen, weil ich beschlossen hatte, dass ein Etappensieg bei der Dauphiné das ideale Ziel für 2018 für mich war. Aber das war, bevor ich das Profil des Rennens gesehen und erkannt hatte, dass es keine Etappen für einen Massensprint gibt.“

Ackermanns Serie von Siegen im Sommer war auch der Tatsache zu verdanken, dass Bora–hansgrohe ihm nach und nach eine solide Gruppe von Arbeitern an die Seite gestellt hat. Dieser Prozess begann im Frühjahr 2018, als er anfing, viele zweite und dritte Plätze einzufahren, darunter vor allem ein zweiter Platz beim Scheldeprijs im April hinter einem anderen jungen Sprinter, Fabio Jakobsen von Deceuninck–Quick-Step. „Es war, als hätten wir ein Team um mich mit Rudy [Rüdiger Selig], Schilly [Andreas Schillinger] und [Michael] Schwarzmann geschaffen, all die Deutschen“, sagt er. „Sie haben mir gezeigt, wie man Energie spart, sich aus dem Wind hält und im Feld nach vorne fährt. Das war mein größter Schritt nach vorn im Frühjahr.“ Er fügt hinzu: „Es war wie ein kleines Team und wir hatten viel Spaß. Dann haben wir bei der Romandie den ersten Sieg gefeiert und dachten, jetzt geht es los. Wir waren immer motivierter, und dann ging es einfach immer weiter. Aber erst gegen Ende der Saison, als ich ohne Mobiltelefon und ohne Ablenkungen im Wohnmobil durch Kalifornien fuhr, wurde mir wirklich bewusst, was es für eine Saison gewesen war.“ Wenn die Anzahl und Qualität der Siege beeindruckend war, so war es auch ihre Vielseitigkeit. Der wohl komplizierteste und spektakulärste war, als Ackermann bei der Polen-Rundfahrt in der Industriestadt Kattowitz auf der zwei Kilometer langen, schnurgeraden Abfahrt, die einer geneigten Landebahn ähnelte, im Zickzack zu einem zweiten Sieg im Massensprint fuhr. Im Gelben Trikot des Spitzenreiters überflügelte er mit Alvaro Hodeg einen weiteren vielversprechenden Youngster. „Das Witzige ist, dass Christian [Pömer], unser Sportlicher Leiter, vorher sagte, dass es nicht möglich sei, dass ein Topsprinter gewinne, weil es nur aus einer normalerweise wirklich schlechten Position heraus gehe“, sagt Ackermann. „Als wir auf das abschüssige Stück kamen, war ich an zweiter Stelle und dachte: ‚Shit, ich habe eine zu gute Position.‘ Also wartete ich, und glücklicherweise attackierten diese vier Jungs und ich dachte: ‚Okay, jetzt ist es besser, jetzt muss ich gehen.’ Aber als ich beschleunigte, führte kein Weg durch die Linie vor mir. Ich sah nur eine kleine Lücke, und da musste ich durch.“ Das passierte alles bei rund 90 km/h, erzählt er. „Es ist zu gefährlich“, schlussfolgerte Ackermann sehr sachlich – nicht, dass es ihn vom Gewinnen abgehalten hätte …

Alles in der Familie
Ackermanns Fähigkeiten könnten teils an seiner Familiengeschichte liegen: Sie ist vom Radsport durchdrungen. „Sie waren alle Amateurradsportler“, sagt er. „Meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, mein Bruder, meine beiden Großväter … Deswegen musste ich es machen. Ich habe versucht, gut im Fußball zu sein, aber ich hatte zwei linke Füße, also habe ich mit Radsport weitergemacht.“ Er erinnert sich: „Mein erstes Rennen war ein kleines. Ich war erst fünf oder sechs und meine Eltern hatten eine Überraschung für mich und sagten mir, dass ich starten könne. Ich habe angefangen zu  weinen, weil der Druck zu groß war, um wirklich ein Rennen zu fahren. Nachher habe ich eine Trophäe bekommen, eine kleine, und von da an wollte ich Rennen gewinnen.“ In Rheinland-Pfalz groß zu werden, war ideal für einen Sprinter wie Ackermann. Ohne viele Berge in der Gegend, waren die örtlichen Juniorenrennen fast alle Kriterien. Aber trotz des weitgehend flachen Terrains bevorzugte Ackermann immer Massensprints, denen ein paar Anstiege oder Kopfsteinpflaster vorausgingen, sagt er – eine Vorliebe, dank der er ein Jahrzehnt später bereits einige Beinahe-Erfolge bei Halbklassikern und eben diese Siege beim GP Fourmies und dem neuen Paris–Brüssel errungen hat. Was es in den frühen Jahren an Rückschlägen gab, wurde ausgeglichen durch viele Quellen der Inspiration für den jungen Ackermann, um weiter Rennen zu fahren. Jeden Sommer sah er die Profis vorbeirollen bei der (mittlerweile eingegangenen) Rheinland-Pfalz-Rundfahrt. „Ich habe immer noch einen riesigen Sack von Trinkflaschen und Kappen von dem Rennen zu Hause“, sagt er. Und seine Familie fuhr auch eine Woche Zelten zur Tour de France, um die deutschen Helden der Ära, Erik Zabel und Jan Ullrich, anzufeuern. Aber der Youngster jubelte vor allem dem Kletterer der 1990er zu, Udo Bölts, der wie Ackermann aus Rheinland-Pfalz stammt. Rheinland-Pfalz mag gut für Sprinter gewesen sein, aber selbst 20 Jahre nach dem Mauerfall zahlte Ackermann einen Preis für die lange Teilung zwischen Westdeutschland, wo die Radsportinfrastruktur schwach war … und ist, wie er sagt –, und Ostdeutschland, traditionell die Radsporthochburg der Nation.

„Vor ein paar Jahren kamen alle deutschen Profis aus dem Osten, und jetzt sind sie alle aus dem Westen, wie ich. Wir denken meistens, dass der Osten ein bisschen von der alten Schule ist und sie ihre jungen Fahrer übertrainierten, sodass sie verschlissen waren, als sie die U23 erreichten. Du kannst keine 100-Kilometer-Trainingsfahrten machen, wenn du 15 bist“, sagt Ackermann. „Aber im Osten haben sie tatsächlich immer noch ein besseres System für Radsport. Sie haben viele Radsportschulen und viele überdachte Bahnen. Im Westen gibt es nur eine wirkliche Radsportschule in Kaiserslautern – ich war da – und überhaupt keine überdachten Bahnen. Als Kind musste ich sechs Stunden fahren, um ins Velodrom zu kommen. Und es ist immer noch sehr schwer.“ Man kann sich fragen, wie viele Talente einfach unentdeckt blieben aufgrund dieser chronischen Ungleichheit der Ressourcen, aber es gibt einen Hoffnungsschimmer am Ende des Tunnels, sagt Ackermann. „Die Deutschland Tour neu aufzulegen, hilft, und es wächst eine neue Generation von Fahrern wie Max Schachmann und Nils Politt nach. Außerdem kannst du spüren, dass die jüngeren Fahrer motivierter sind, Rennen zu fahren.“ In Ackermanns Fall wurde seine Sprinterkarriere durch eine lange Zeit als Bahnfahrer vorangebracht: Er gewann Gold im Teamsprint bei der Junioren-Weltmeisterschaft 2011, wurde Omnium-Europameister der Junioren 2012 und hält diverse deutsche Titel. „Weil du keine Bremsen hast, brauchst du einen guten Blick für Manöver, und du übst permanent Sprinten im Scratch-Rennen“, sagt er, „Aber zu lernen, wie du dich gut positionierst, ist das Wichtigste von allem.“ Ackermann verletzte sich 2011 am Knie und hatte das Gefühl, mit seinen Bahnkollegen nicht mehr mithalten zu können. Nach zwei schweren Jahren wechselte er daher zurück auf die Straße. Im Sommer 2016, als er den deutschen U23-Titel frisch auf seinen Palmarès gesetzt hatte und noch bevor er Silber bei der U23-Weltmeisterschaft in Katar holte, klopften die führenden Profiteams an seine Tür. Aber Ackermann hatte sich für 2017 auf Bora festgelegt. Bei der Tour 2016 war sein Platz gesichert. „Es gab keinen weiteren Druck, Resultate zu holen“, sagt er. „Das Schwerste war, es geheim zu halten.“

 

Ein Trio von Sprinttalenten
Einer der naheliegenden Vorzüge von Bora–hansgrohe, so Ackermann, ist der relativ geringe Druck. Das Interesse ruht größtenteils auf den breiten Schultern von Peter Sagan, sodass die anderen Fahrer weniger im Rampenlicht stehen. „Alle schauen, was Peter macht. Ich bin gar nicht auf dem Radarschirm“, sagt er. „Aber so ist es mir lieber, weil ich kein Typ bin, der gerne im Mittelpunkt steht – ich mache das, weil es mir Spaß macht.“ Aber Sagan als Teamkollegen zu haben, hat tatsächlich Vorteile. „Er sucht dich vor oder nach einem Rennen immer auf, um mit dir zu besprechen, was man besser machen könnte“, sagt Ackermann. „In Hamburg im letzten Jahr, als ich stürzte, war er direkt hinter mir, und ich war wirklich enttäuscht, weil er an dem Tag für mich fahren wollte. Anschließend haben wir darüber geredet, wie ich im Finale entspannter bin und trotzdem meine Augen offen halte. Er war nicht sauer, weil ich gestürzt war, sagte mir sogar, dass er früher dieselben Fehler gemacht habe. Es war einfach seine Art, mich dazu zu bringen, aus meinen Fehlern zu lernen.“ Einige mögen Nachteile sehen. Ackermann fährt ein weniger hochkarätiges Programm als Sagan. So stand beispielsweise Mailand–San Remo, ein Rennen, das ihm liegen sollte, nicht auf seinem Kalender. „Peter will es gewinnen“, erklärt Ackermann. „Aber ich fahre den Giro d’Italia, und das ist schon ein großer Schritt. Ich will nicht zu viele große Rennen hintereinander fahren – es ist besser, viele kleine zu fahren, als zu viel zu machen und zu riskieren, dass man für die ganze Saison erledigt ist.“ Das leitet elegant über zu dem heiklen Thema, dass Bora–hansgrohe nicht zwei Spitzensprinter, sondern drei in seinen Reihen hat: Ackermann, Sagan und Sam Bennett. Es ist nur logisch, dass weder Ackermann noch Bennett infrage stellen, dass Sagan bei der Tour de France Priorität hat. Doch der Ire äußerte öffentlich seine Enttäuschung darüber, von Bora nicht wieder mit zum Giro genommen zu werden, nachdem er dort 2018 drei Etappen gewonnen hatte. Stattdessen startet Ackermann.

Man muss Ackermann zugutehalten, dass er nicht den abgedroschenen Spruch wiederholt, so viele Topnamen zu haben, sei ein Luxus, kein Problem. Stattdessen liefert er eine stichhaltige Analyse einer komplexen Situation. „Sam hat gesagt: ‚Ich will dies, das und jenes fahren‘, und ich habe gesagt: ‚Ich will dies, das und jenes fahren.‘ Natürlich war es die Entscheidung des Teams, wer was fährt. Und niemand war zufrieden damit“, sagt er. „Ich würde gerne dieses Rennen fahren, Bennett würde gerne dieses Rennen fahren, wir mussten alle Kompromisse machen. Es ist nicht leicht mit drei Jungs, aber man kann es schaffen.“ Später weist er darauf hin, dass Bennett wahrscheinlich die Vuelta a España bestreiten wird und man sich so die großen Rundfahrten teilt, obwohl man sich fragen muss, was passiert, wenn Sagan sich entscheidet, dort wieder anzutreten wie 2018. Ackermann gibt zu: Dass Bora so viele Spitzensprinter hat, dürfte langfristig nicht funktionieren. „Eines Tages wird es ein Problem geben. Einer wird sagen: ‚Okay, ich verlasse das Team, weil ich dieses Rennen fahren will.‘“ Aber er hat unmittelbarere Sorgen wie, beim Giro gut zu fahren, wo seine Ziele zumindest auf dem Papier bescheiden wirken: „Ein Etappensieg und das Rennen zu Ende zu fahren. Ich glaube, für die Rennen, die danach kommen, und um insgesamt auf ein höheres Niveau zu kommen, ist es wirklich wichtig, meine erste große Rundfahrt zu Ende zu fahren.“ In technischer Hinsicht könnten die hügeligeren Sprintetappen des Giro, verglichen mit den konventionelleren der Tour, Ackermann zugutekommen. Tatsächlich gibt es viele Gründe zu glauben, dass der Giro Deutschland – und dem Radsport – mit Ackermann einen neuen Sprintstar liefern könnte. Und der Bora-Fahrer kommt an einem Punkt, wo die Fragezeichen hinter Kittels, Degenkolbs und Greipels Fähigkeit, weiter Siege wie am Fließband zu produzieren, größer denn je sind. Aber obwohl die Vorzeichen gut sind für den 25-Jährigen – ob Ackermann sich in der größten Sprintarena behaupten kann, bleibt abzuwarten. Die Italien-Rundfahrt im Mai sollte erste Antworten liefern.



Cover Procycling Ausgabe 183

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 183.

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