Dreifacher Patzer

Movistar ist mit drei Kapitänen in die Saison 2018 gestartet – und mit dem Ziel, Sky die Dominanz bei den großen Rundfahrten streitig zu machen. Am Ende schaffte es keiner von ihnen auf das Podest einer Grand Tour. Procycling analysiert die Gründe, warum Movistar floppte.

 

Oben am Anstieg zu den Lagos de Covadonga schien Eusebio Unzué aufgewühlt zu sein. Der sonst so ruhige Teammanager war ungewöhnlich angefressen: Statt den Medien eine nüchterne Analyse der Etappe zu liefern, gab er schnippische Antworten, als hätte er keine Lust auf weitere Fragen. Vielleicht war es gerade ein Déjà-vu für ihn. In Lagos de Covadonga hatte sich Unzués alter Champion Miguel Indurain 1996 an seinem allerletzten Tag als Radprofi geweigert, die Vuelta a España fortzusetzen. Daher hatte Unzué wohl bestenfalls gemischte Erinnerungen an den Anstieg. Aber dieses Mal stand er unter dem Eindruck der Schlüsseletappe der Vuelta 2018, ihrer schwersten Bergankunft. Nach dem Stand der Gesamtwertung hatten die beiden Sieganwärter des Teams, Nairo Quintana und Alejandro Valverde, ein paar Sekunden verloren und waren Gesamt-Zweiter sowie -Dritter. So weit, so gut. Aber die Etappe erzählte eine ganz andere Geschichte: Die zwei Fahrer des spanischen Teams schienen dem Spitzenreiter Simon Yates deutlich unterlegen und schwächer als andere Kandidaten zu sein, die in Madrid neben dem Briten auf dem Podium stehen sollten: Enric Mas und Miguel Ángel López. Die Zeichen waren nicht ermutigend vor der entscheidenden dritten Woche des Rennens mit fünf schweren Etappen.

Die Leistung der Mannschaft war ehrenwert: Sie nahm die Zügel in die Hand bei einem Rennen, bei dem sie Verantwortung zeigen musste, aber Quintana rutschte im Anstieg zum Monte Oiz im Baskenland vom Podium, und Valverde ging auf den Etappen in Andorra unter. Am Ende ging das spanische Team aus Tour de France und Vuelta mit drei Etappensiegen und zwei Erfolgen in der Mannschaftswertung – vor Bahrain-Merida – hervor, ein Trostpreis, den die meisten Teams nicht einmal anstreben. Außerdem war Movistar nicht auf dem abschließenden Podium vertreten und trug keinen einzigen Tag das Spitzenreitertrikot. Das war weit entfernt von dem erklärten Ziel, Sky bei den größten Rennen zu stürzen. Tatsächlich war der Urheber von Movistars bester abschließender Platzierung in der Gesamtwertung einer Grand Tour 2018 nicht einer ihrer drei Kapitäne – Quintana, Valverde und 2018er-Neuzugang Mikel Landa –, sondern Richard Carapaz, der Vierter des Giro wurde und die Etappe nach Montevergine di Mercogliano gewann. Was einwöchige Rennen angeht, wurde ihr größter Erfolg durch Marc Solers Reifeprüfung bei Paris–Nizza geliefert, der den finalen Sieg im Sturm eroberte und bei dem Rennen zur Sonne auf der letzten Etappe keinen anderen als Simon Yates entthronte. Insgesamt rangierte das Movistar-Team, das die Mannschaftswertung der UCI-WorldTour von 2013 bis 2016 dominierte, nach der Vuelta auf dem siebten Platz. Der Abstieg wurde mit der Ausdünnung des Teams erklärt – der Exodus der zweiten Reihe mit Jonathan Castroviejo, Jesús Herrada und den beiden Izagirre-Brüdern –, aber auch der schwachen Leistung der drei Kapitäne.

Wo war Nairo?
Der Fall Nairo Quintana ist eine der interessantesten Geschichte im heutigen Profiradsport. Die Bewertung seiner Karriere fällt sehr unterschiedlich aus – je nach Standpunkt des Analysten. Die Zahlen sprechen klar für einen bemerkenswert zuverlässigen Fahrer, der nur zweimal nicht unter den Top Ten einer Grand Tour war, die er zu Ende fuhr: seine erste Vuelta (2012, 36.) und eine Tour de France (2017, 12.). Sie erzählen auch die Geschichte eines Fahrers, der – abgesehen von einer sturzbedingten Aufgabe bei der Vuelta 2014 – bei sieben aufeinanderfolgenden großen Rundfahrten von der Tour 2013 bis zum Giro 2017 Vierter oder besser war. Doch danach sehen wir einen nachlassenden Fahrer, der bei seinen drei letzten großen Rundfahrten Achter oder schlechter war. Er wird von seinen kolumbianischen Fans leidenschaftlich begleitet, gefeiert und unterstützt, aber er wird vom Rest der Radsportwelt, die ihn unnahbar findet, oft kritisiert oder gar mit vollkommen gleichgültiger Enttäuschung betrachtet. Geht es bei Quintana um unerfüllte Erwartungen? Vielleicht ist es die Tatsache, dass er nur angreift, wenn er sich der Konkurrenz klar überlegen fühlt; ansonsten hält er sich am Hinterrad von Teamkollegen und Rivalen, oder er macht kurz Tempo, bevor er mit einem Ellenbogen-Wink um Ablösung bittet. Oder vielleicht gibt es eine Art fehlerhafter Kommunikation, die diese Wahrnehmung bedingt? Ambivalente Botschaften sind ein Problem bei Quintana.

An seinem glorreichsten Tag der Saison 2018, bei seinem Sieg am Col du Portet auf der 17. Etappe der Tour, eingeleitet durch eine entschlossene Offensive, die von seinen Teamkollegen gut unterstützt wurde, waren seine anschließenden Interviews in der Mixed Zone aufschlussreich. Nimmt man die mit den internationalen Medien, erlebt man ihn als ernsthaften, sogar schüchternen Sportler, der die Strategie des Teams erklärt und Valverdes oder Solers Arbeit für ihn lobt. „Es war ein Sieg für mich und das ganze Team“, wiederholte er immer wieder. Aber hört man sich die Interviews mit den lateinamerikanischen Medien an, erlebt man einen fröhlichen jungen Mann, der sich an seine Fans wendet und von sich selbst in der dritten Person spricht, wie um seinen Heldenstatus zu erhöhen. „Das ist ein Sieg für alle Nairo-Fans“, war sein Motto. Seine Mannschaft existierte nicht in diesen Interviews, ebenso wenig wie auf seinem professionell geführten Twitter-Feed. Seine letzte Erwähnung des offiziellen Accounts @Movistar_Team war im April. Es ist kein Geheimnis, dass es Konflikte zwischen Quintana und Movistar gab, seit sie sich 2012 zusammentaten. In sportlicher Hinsicht machen die Entourage des Fahrers und sogar sein Vater das Team für sein schwaches Abschneiden bei der Tour 2017 verantwortlich, die Entscheidung, den schweren Giro vor seinem Hauptziel der Saison zu fahren, sei nicht einvernehmlich, sondern von Unzué getroffen worden. Es hat weitere Probleme mit dem Management des Teams gegeben, angefangen bei Vertragsverhandlungen bis hin zur plötzlichen Entlassung von Mitarbeitern, die Quintana nahestanden. Es gab Spannungen mit Teamkollegen und mehrere Episoden, wo Teamkollegen forderten, dass Quintana seine, wie sie meinten, despotische Einstellung in seinen ersten Jahren beim Team ändern solle. „Er ist eine Schlange“, sagte ein Teamkollege einmal darüber, wie er die Kapitänsrolle dem stets freundlichen, aber arglosen Valverde wegzuschnappen versuchte.

Perfekte Partnerschaft
Das Problem an dieser Disharmonie und die Antwort darauf ist, dass Movistar und Quintana sich gegenseitig brauchen. Movistar ist eines der größten Unternehmen Spaniens, eine Telekommunikationsfirma, für die Lateinamerika ein wichtiger Wachstumsmarkt ist. Ein Star wie Quintana ist dort ein einflussreicher Botschafter für die Marke. Sebastián Unzué, Eusebios Sohn, der als PR-Berater für das Team arbeitet, formuliert es so: „Du kämpfst immer für die Interessen deines Haupt-sponsors. Für Movistar machen Länder wie Kolumbien, Costa Rica, Argentinien und Ecuador große Teile des Geschäfts aus. Das ist der Grund, warum wir Fahrer aus diesen Ländern verpflichtet haben, und wir hatten das Glück, sehr gute zu finden.“ Carlos Arribas, Journalist der spanischen Zeitung El País, geht noch weiter: „Wenn das Sponsoring des Teams fortgesetzt wird, dann, weil die lateinamerikanischen Ableger von Movistar verlangen, dass es weitergeht. Persönlichkeiten wie Andrey Amador, Nairo Quintana und Richard Carapaz sorgen für eine Publicity in diesen Märkten, die sie nie erreichen könnten, nicht einmal, wenn sie viel Geld in Werbung investieren würden.“ Was Quintana angeht, so hat die kommunikative Schlagkraft von Movistar die Leidenschaft bei den Fans entfacht, die bei fast jedem von ihm bestrittenen Rennen zum Ausdruck kommt. Er bekommt ein sehr hohes Gehalt, das seinem Status in Kolumbien und den angrenzenden Ländern entspricht. Es ist ein Lohn, der ihm nie gezahlt würde von einem Team, das keine Interessen in der Region hat – und von denen gibt es in der World-Tour derzeit wenige, wenn überhaupt welche.

Aber was ist mit Quintanas nachlassender Leistung? Der quirlige Kletterer überraschte alle, als er Chris Froome 2013 das Gelbe Trikot abzunehmen versuchte, bevor er einige Monate später beim Giro mit einer gewagten Aktion die Maglia Rosa gewann. Doch seitdem hat er sich zu einem berechnenden und zögerlichen Fahrer entwickelt, der es verpasste, den Giro 2017 unter Dach und Fach zu bringen, als ein natürliches Bedürfnis Tom Dumoulins Rosa Trikot gefährdete. Er war bei den folgenden drei Grand-Tour-Teilnahmen weit vom Podium entfernt. „Ich denke, es waren 18 seltsame Monate für ihn“, sagte Unzué dem Diario de Navarra nach der Vuelta. „Ich glaube nicht, dass wir schon das Beste von einem Fahrer gesehen haben, der erst 28 Jahre alt ist. Die Zeit wird es zeigen.“ Und trotzdem hat Quintana in diesen „18 seltsamen Monate“ einige brillante Leistungen abgeliefert, Solosiege auf Etappen der Tour de France und der Tour de Suisse. Nach Letzterer hatte er laut einer Quelle aus dem Team mit die besten Leistungsdaten seit Jahren, „und dann ging es bei der Tour schief und er ließ nach“. Dass Mikel Landa in dieser Saison zum Team kam, hat bei Quintanas Niedergang keine Rolle gespielt. Entgegen Berichten, wonach es Spannungen zwischen den beiden gegeben habe, hat er sich reibungslos in die Mannschaft eingefügt. Sein Weg zum Team jedoch war von Kontroversen geprägt. Die ursprüngliche Vereinbarung zwischen Landa und Movistar war vor seiner superben Vorstellung bei der Tour 2017 getroffen worden, wo er das Podium nur um eine Sekunde verpasste. Danach schoss sein Marktwert in die Höhe und Rennställe wie Trek-Segafredo machten ihm Angebote. Landas Manager Jesús Ezkurdia, ein Außenseiter, dem Mitglieder des WorldTour-Establishments einen „starken“ und „schwierigen“ Charakter attestieren, verhandelte den Vertrag nach und erreichte eine deutliche Gehaltserhöhung für seinen Klienten.

 

Gleichzeitig übernahmen Landa und Ezkurdia die Fundación Euskadi, die Gesellschaft, die das Euskaltel-Euskadi-Team betrieb, und meldeten ihre Straßenformation mit Unterstützung der baskischen Radsportunternehmen Orbea und Etxeondo in der Continental-Division der UCI an. Die Verbindung von Landa mit diesen Marken kam bei den Akteuren bei Movistar nicht gut an. Außerdem versicherte Ezkurdia öffentlich, das Ziel sei, einen Sponsor für die Fundación Euskadi zu finden, um ein größeres Team aufzumachen, das „so kurzfristig wie möglich“ an der Tour de France teilnehmen solle – mit Landa an der Spitze. Der baskische Manager überlegte also schon, was nach Movi-star kommen könne, bevor sein Schützling überhaupt in seinem neuen, hellblauen Trikot angetreten war. Auf der Straße war Landa in dieser Saison gut in Form. Er feierte einen Sieg auf der Bergankunft in Sassotetto bei Tirreno–Adriatico. Und er war eine der beständigsten Spitzen im Dreizack von Movistar bei der Tour. Obwohl er auf der Etappe nach Roubaix stürzte, war er bis zur letzten Woche auf Schlagdistanz zum Podium. Er probierte es auf der letzten Bergetappe sogar mit einem Langstrecken-Angriff, der ihn auf den virtuellen dritten Platz in der Gesamtwertung beförderte, bevor er von Sky und LottoNL-Jumbo gestellt wurde. Ein Sturz bei der Clásica San Sebastián ruinierte den Rest seiner Saison.

Was Alejandro Valverde angeht, so wurde seine Saison vom Team als Erfolg gewertet – gerade angesichts des haarsträubenden Sturzes beim Eröffnungszeitfahren bei der Tour 2017, wo er sich schwere Verletzungen am linken Bein zuzog. „Diese Vuelta ist ein wirklicher Erfolg nach dem, was in Düsseldorf passierte“, sagte er dem Sender ITV. Trotzdem gab es einen Grund, seine Leistung bei der spanischen Landesrundfahrt zu bedauern. Valverde sollte in einer Helferrolle teilnehmen, während er sich auf sein Hauptziel, die Weltmeisterschaft, vorbereitete. Innsbruck stellte seine wohl letzte Chance dar, nach dem Regenbogentrikot zu greifen und seinem langen Palmarès das Sahnehäubchen aufzusetzen. Stattdessen verausgabte er sich drei Wochen lang, was seiner Vorbereitung hätte schaden können, nur um dann dramatisch einzubrechen, als es nach Andorra ging. Er fiel vom zweiten auf den fünften Platz in der Gesamtwertung zurück. „Um das Klassement zu kämpfen, war nicht geplant“, gab er zu. „Er war im Rennen, als es in die dritte Woche ging, und es gab keinen Grund, das Rennen sausen zu lassen“, konterte Unzué. In jedem Fall stellte Valverdes WM-Sieg in Innsbruck die letzte Chance für Movistars Kapitäns-Trio dar, eine Saison zu retten, die bis dato und aus verschiedenen Gründen ein Fiasko gewesen war.



Cover Procycling Ausgabe 177

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 177.

Heft Bestellen