Etwas Neues, etwas Altes

Die Tour 2018 kehrt mit einem klassischen Grand Départ zu Hause zu ihren Wurzeln zurück, bietet aber auch Innovationen in Form von Kopfsteinpflaster und kurzen Bergetappen. Und natürlich einer Dopingaffäre. Procycling überlegt, wie sich das Rennen entwickeln könnte.

 

Frankreich hat wie jedes große Land ein Ganzes, das etwas weniger ist als die Summe seiner Teile, und wenn Sie dafür einen Beweis benötigen, brauchen Sie sich bloß die Vendée anzuschauen. Das Gastgeber-Département für den Grand Départ der Tour 2018 ist ein ländliches Parallelogramm aus Ackerland und schmalen Straßen, eingerahmt von der Loire und der Gironde. Im Norden und Osten grenzt es an die großen fruchtbaren Ebenen Nord-frankreichs, die südliche Grenze bildet das Marais Poitevin, ein Feuchtgebiet aus Marschland und Kanälen unter einem weiten Himmel. Im Westen bildet die Côte des Lumière einen Teil der riesigen Kurve der Biskaya an der französischen Atlantikküste. Die Strände versinken sanft im Meer, während der Wind vor der Küste längst die Yachtbesitzer und ihr Geld angelockt hat. In gewisser Hinsicht könnte die Vendée nicht französischer sein – ihr ländliches und bäuerliches Inneres ist la France profonde, während ihre Küstenkultur viel vom Sonnenschein der Riviera hat, ohne die halbseidenen Gestalten. Aber wie die Einheimischen Ihnen erzählen werden, sind sie anders. Nicht auf die hitzköpfige Art der Korsen und auch nicht auf die dickköpfige Art der Bretonen. Aber es gibt eine eigenständige Ader in der Vendée, die so breit ist wie der atlantische Ozean, teils gespeist aus dem Gefühl der Einheimischen, etwas entfernt vom Rest des Landes zu sein. Außerdem haben sie ihren eigenen Kopf. Während der Rest des Landes zwischen Sozialisten und Konservativen schwankt, haben die Einwohner der Vendée bei allen modernen Präsidentschaftswahlen hartnäckig rechtsgerichtete Kandidaten unterstützt, obwohl sie bei der Wahl von Marine Le Pen 2017 die Grenze zogen. Als Frankreich sich bei der Revolution von 1789 gegen die Aristokratie erhob, nahmen die Menschen in der Vendée eine abwartende Haltung ein. Während der Rest des Landes im Begriff war, dem ancien régime den Kopf abzuschlagen, wörtlich wie bildlich und mit großem Elan, organisierten die Bewohner der Vendée ihren eigenen Aufstand. Eigentlich keine Anhänger der Adelsherrschaft, misstrauten sie ihren neuen Revolutionsmachthabern trotzdem so sehr, dass sie Gegenwehr leisteten – eine Frechheit, für die ihre Bauernarmee zerschlagen und 200.000 aus ihren Reihen kurzerhand umgebracht wurden. In der Vendée hat man seitdem ein natürliches Misstrauen gegenüber Autoritäten, egal, wer sie sind.

Was man dort also von der langen Saga um Chris Froome hält, lässt sich nur vermuten. Der König der Tour de France darf das Rennen vielleicht nicht fahren, was sein Sky-Team kopflos dastehen lassen würde. Froomes Erklärung für die hohen Salbutamol-Werte, die bei einer Dopingprobe bei der Vuelta a España im vergangenen September festgestellt wurden, ist noch nicht abschließend bearbeitet, und während der eigentlich vertraulich zu behandelnde Fall an die Öffentlichkeit durchgesickert ist, hat der Brite sein Recht wahrgenommen, weiter Rennen zu bestreiten. Froome ist die Ruta del Sol, Tirreno–Adriatico, die Tour of the Alps und den Giro d’Italia gefahren. Er beabsichtigt, die Tour zu fahren. Die A.S.O., die Organisatorin der Tour, hat verlauten lassen, dass sie versuchen will, ihn davon abzuhalten. Für ihren Teil haben die Menschen in der Vendée vielleicht einen Blick auf Froome geworfen, dann einen auf die Radsportautoritäten, die seinen Start unterbinden wollen, und kollektiv beschlossen, dass der ganze Sport verrückt geworden ist. Wieder einmal. Es ist Jahre her, dass die Tour de France die beste große Rundfahrt des Jahres war. Vielleicht war sie es 2011 das letzte Mal, aber selbst das Rennen, das Cadel Evans mit aufopferungsvollem Kampf gegen einen unermüdlich angreifenden, sich jedoch verzettelnden Andy Schleck gewann, wurde erst gegen Ende spannend. In jüngerer Zeit waren Giro und Vuelta aufregender, abwechslungsreicher, unvorhersehbarer und unterhaltsamer. Beweisstück A: der jüngste Giro, der alles hatte, was eine große Rundfahrt haben sollte. Die Tour war vergleichsweise lähmend – jedes Jahr seit 2012 hat der spätere Sieger das Gelbe Trikot früh geholt, und das dominante Team, Sky, hat bei fünf dieser sechs Auflagen (mit Ausnahme von 2014, wo Vincenzo Nibali ein einseitiges Rennen gewann) eine Catenaccio-Strategie angewandt. Ist das ein Problem? Die Tour ist immer noch mit deutlichem Abstand das größte Rennen der Welt, und das erzeugt seine eigene Magie. Fragen Sie den Bankmanager irgendeines Fahrers, was ihm lieber wäre – dass sein Fahrer einen spannenden Giro oder eine langweilige Tour gewinnt –, und er würde sich immer für Letzteres entscheiden. Das Prestige des Gelben Trikots wird nicht gemindert durch die prosaische Art, auf die es manchmal geholt wird. Die Tour ist das profitabelste Event im Radsport und das einzige Rennen, von dem die breitere Öffentlichkeit wirklich etwas weiß. Seine Größe ist einer der Gründe, warum es so … langweilig geworden ist. Der größere Druck und die größere Bedeutung des Rennens führen dazu, dass es sich weniger lohnt, Risiken einzugehen. Ausreißer kommen nicht durch, weil die Teams der Sprinter, Puncheure und Kletterer sie in Schach halten, je nach Terrain. Und damit hängt ein weiterer Fakt zusammen: Die starken Teams sind so stark, dass sie die Angriffslust der anderen Klassementfahrer ersticken. Die Kletter-Domestiken von Sky – Wout Poels, Geraint Thomas und Michał Kwiatkowski, um nur die stärksten zu nennen – gehörten oft zu den vier oder fünf schnellsten Kletterern der Tour, während sie für Froome arbeiteten.

Aber bei der Tour 2018 gibt es ein paar Neuerungen, die sich A.S.O. und UCI haben einfallen lassen, um zu versuchen, mehr Leben in das Rennen zu bringen. Erstens: der Parcours. Die gute Nachricht ist, dass Thierry Gouvenou, der Streckenchef der Tour, den Kurs in den letzten fünf oder sechs Jahren tatsächlich viel abwechslungsreicher gemacht hat. Die Frankreich-Rundfahrten der späten 1990er und frühen 2000er folgten einer vorhersehbaren Formel: flache Eröffnungswoche, langes Zeitfahren, Berge, Übergangsetappen, mehr Berge, langes Zeitfahren, Paris. Solche Strecken funktionierten in der Vergangenheit besser, weil die Teams weniger stark waren, die Taktik weniger vorhersehbar und die Sportwissenschaft weniger fortgeschritten. Aber als sich der Sport in den 1990ern modernisierte und internationalisierte (und daher mehr Druck auf der Tour – seiner Vorzeigeveranstaltung – lastete), wurde die Taktik defensiver. (Die illegalen Substanzen trugen auch dazu bei – EPO machte Bergzüge nicht unbedingt möglich, aber es koinzidierte mit ihrer Einführung als bevorzugter Taktik starker Kapitäne reicher Teams.) Gouvenou hat das Kopfsteinpflaster wieder in die Tour de France eingebaut (spektakulär und erfolgreich im Jahr 2014, als Vincenzo Nibali ein großer Protagonist der besten Etappe des Rennens war, weniger im Jahr 2015, als ungünstiger Wind und Vorsicht die Favoriten eng zusammenhielt). Es stehen üblicherweise ein oder zwei Hügelankünfte in der Eröffnungswoche auf dem Menü. Es gibt weniger lange Zeitfahren. Vor allem hat Gouvenou angefangen, mit sehr kurzen Bergetappen zu experimentieren, wo es von Anfang an zur Sache geht. Die vielversprechendsten Teilstücke für 2018 sind die Kopfsteinpflasteretappe nach Roubaix und die beiden kurzen Bergetappen – eine nach La Rosière in den Alpen, dann die spektakulärste, die 65 Kilometer kurze Etappe von Luchon nach Saint-Lary-Soulan in den Pyrenäen. Manche meinen, dass alle Bergetappen so kurz sein sollten, um potenziellen Fans ein unwiderstehliches Fernsehprodukt anbieten zu können. Aber Gouvenou bleibt bei seiner Auffassung, dass diese kurzen Etappen ihre Wirkung entfalten, wenn sie mit klassischen Bergetappen über mehrere Pässe kombiniert werden. Wenn man die Fahrer mit langen, schweren Bergetappen ermüdet wie ein Boxer, der den Körper bearbeitet, wird der Knock-out auf den kurzen Etappen effektiver. Manchmal funktioniert es – die Etappe nach Alpe d’Huez 2011 bleibt der Klassiker des Genres. Manchmal nicht – die 101-Kilometer-Etappe im letzten Jahr nach Foix in den Pyrenäen hielt nicht ganz, was sie versprach. Aber insgesamt versucht Gouvenou, den Rhythmus eines Rennens zu synkopieren, das zu oft im Viervierteltakt voranschritt.

 

Der zweite Unterschied sind die achtköpfigen Teams, eine Neuerung, die die UCI zu Beginn dieser Saison einführte. Die UCI verkaufte die neue Regel mit dem Argument, dass sie Rennen sicherer mache, da weniger Fahrer auf der Straße seien. Aber es ist natürlich auch ein Versuch, es den Teams schwerer zu machen, ein Rennen zu kontrollieren. Es bleibt abzuwarten, ob dies effektiv ist oder nicht, und es ist schwer zu messen, aber es gibt gute und schlechte Neuigkeiten. Positiv ist, dass bei den Klassikern die Favoriten relativ früh auf sich allein gestellt waren. Negativ ist, dass das Giro-Peloton die Ausreißer in Schach hielt und nur wenige um den Etappensieg mitfahren konnten, obwohl einer dieser Ausrisse, der von Froome auf der bereits berühmt-berüchtigten 19. Etappe, das Rennen schließlich definierte. Derweil zögern einige Teams, angesichts einer kleineren Mannschaft mehrere Ziele zu verfolgen – mit neunköpfigen Teams kann es möglich sein, einen Klassementfahrer und einen Sprinter zu unterstützen (obwohl das in der Realität nur wenige mit großem Erfolg gemacht haben), aber mit acht Fahrern ist es vielleicht ratsam, ein Ziel effektiv anzugehen statt zwei mit dem Risiko, beide zu verpassen. Es kann auch sein, dass Sky mit acht Fahrern in den Bergen genauso dominant ist wie Sky mit neun Fahrern – in seinem wohl dominantesten Jahr 2012 fuhr das Team einen Großteil der Tour mit acht Mann. Die Frage der Mannschaftszusammenstellung wird wichtiger sein – die Teams brauchen genug Klassiker-Spezialisten und starke Rouleure, um mit dem Mannschaftszeitfahren und der Kopfsteinpflasteretappe zurechtzukommen, aber auch Kletterer, die ihren Kapitän in der sehr gebirgigen zweiten Hälfte der Tour unterstützen. Einige Teams haben Fahrer, die beides können – wie Thomas und Kwiatkowski bei Sky.

Die dritte Neuerung sind die zusätzlichen Zeitbonifikationen, die sich die Fahrer holen können. Auf jeder Etappe, die kein Zeitfahren ist, gibt es zehn, sechs und vier Sekunden für die ersten drei Fahrer im Ziel – das kann, wie beim Giro in diesem Jahr, das Leben für die Ausreißer noch schwerer machen. Aber ein Grund, warum der Giro in diesem Jahr so spannend war, war Simon Yates’ Taktik, mit Etappensiegen und Solo-Attacken zum Herausfahren von Zeitgutschriften einen guten Vorsprung in der Gesamtwertung aufzubauen. Andersherum hatten die Bonifikationen keinen großen Effekt bei der Tour 2017, aber wenigstens konnte Yates beim Giro in diesem Jahr beweisen, dass es eine lohnenswerte Taktik ist, sie in Angriff zu nehmen, auch wenn es am Ende nicht funktionierte. Es gibt noch ein neues Element für 2018: einen Extra-Bonussprint auf den ersten neun Etappen, der nicht für das Punktetrikot zählt, aber den ersten drei Fahrern, die die Linie überqueren, drei, zwei und eine Sekunde bringen. Diese sind meist gegen Ende der Etappen. Es ist ein origineller Versuch, den Zuschauern etwas mehr zu bieten, aber diese Zusatzsprints werden keine große Auswirkung auf die Gesamtwertung haben – sie werden vor allem von den Fahrern in der Ausreißergruppe des Tages gewonnen werden, aber zwei davon liegen auf der Kuppe eines Hügels, was die spritzigeren Klassementfahrer inspirieren könnte, etwas Zeit auf ihre Rivalen herauszufahren, obwohl man mit drei Sekunden nicht weit kommt. Werden diese Veränderungen die Tour 2018 spannender machen? Vielleicht, aber man könnte auch argumentieren, dass die Organisatoren sich weit mehr Sorgen darüber machen, ob der Sieger des Rennens später gesperrt wird wegen eines positiven Befunds in einer Dopingprobe, die neun Monate zuvor genommen wurde.

Die Spekulationen vor der Tour in diesem Jahr teilten sich in zwei Versionen: ein Rennen mit Froome und eins ohne. Die Regeln bezüglich seines positiven Befunds auf Salbutamol bei der Vuelta besagen, dass er weiter Rennen fahren kann, bis die Situation geklärt ist, was wiederum davon abhängt, ob Froome eine natürliche Erklärung für die hohe Konzentration des Asthmamittels in seinem Körper liefert. Man hatte gehofft, dass dies zu Beginn der Saison der Fall sein würde, aber der Giro kam und ging ohne eine Lösung, und da es nur noch ein paar Wochen bis zur Tour sind, ist es unwahrscheinlich, dass es vor Juli passiert. Die A.S.O. hat Warnschüsse abgegeben und gesagt, dass sie versuchen wolle, Froome vom Start abzuhalten, aber es gibt nur wenige Präzedenzfälle aus jüngerer Zeit, wo solche Initiativen Erfolg hatten. Also fährt Froome wahrscheinlich. Und wenn er fährt, ist er der logische Favorit. Er hat vier der letzten fünf Frankreich-Rundfahrten und den Giro gewonnen. Bei den letzten beiden Auflagen der Tour de France zeigten sich Risse in seiner Rüstung – er musste sich den Weg zum Sieg in den vergangenen zwei Jahren mit kurzen Jabs bahnen, verglichen mit den Schwingern, mit denen er seine Rivalen bei seinen ersten beiden Siegen ausgeknockt hatte. Es ist ein paar Jahre her, dass er seine Rivalen bei der Tour in den Bergen deutlich distanzieren konnte, obwohl er sich darauf verlassen kann, dass er unter den Sieganwärtern der stärkste Zeitfahrer ist – abgesehen von Tom Dumoulin. Aber er kompensiert jede Schwäche mit dem stärksten Team im Rennen und einer Zähigkeit, angesichts derer es verrückt wäre, ihn jemals abzuschreiben. Außerdem scheint ihn sein ungelöster Fall völlig kalt zu lassen. Aber wenn Froome nicht fährt, heißt das nicht nur, dass alle anderen einen Platz höher abschneiden. Seine Abwesenheit würde die Dynamik ändern. Der einzige andere frühere Toursieger am Start wird Vincenzo Nibali sein, der wohl taktisch cleverste unter den Favoriten, zumindest, was Eintagesrennen angeht. Nairo Quintana sollte jetzt seinen Zenit erreichen – mit zwei zweiten Plätzen und einem dritten bei der Tour sowie Vuelta- und Giro-Siegen würde er höher gehandelt, hätte er letztes Jahr nicht so eine mittelmäßige Vorstellung abgeliefert. Die Tour 2017 war die vierte große Landesrundfahrt in Folge, die er fuhr, und er schien ausgepowert zu sein. Der einheimische Favorit ist Romain Bardet, der bereits Gesamt-Zweiter und -Dritter war. Im Moment fällt der Schatten von Chris Froome auf die Tour 2018. Wird er fahren? Und wenn er fährt: Wird er gewinnen? Aber die wichtigere Frage ist: Was heißt das für den Sport? Die Tour-Organisatoren arbeiten daran, ihr Rennen zu einem interessanteren Spektakel zu machen, aber man hat den Eindruck, dass sich das nicht darauf erstreckt, es zu einem Kampfplatz für einen langwierigen und unbefriedigenden Rechtsstreit zu machen.



Cover Procycling Ausgabe 173

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 173.

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