Chris Froome – #1

Der Titelverteidiger der Tour spricht über seine Vorbereitung, die diesjährige Route und einen möglichen Aufstieg in den Kreis der Fünffach-Sieger.

 

Du hattest nach der Tour de Romandie mit einer leichten Rückenverletzung zu tun. Rund zehn Tage später wurdest du von einem Fahrer gerammt, der Fahrerflucht beging. Hast du noch mit Nachwirkungen zu kämpfen?
Eigentlich nicht. Der Zwischenfall mit dem Autofahrer war beängstigend, aber ich bin glücklicherweise mit dem Schrecken davongekommen, und bei der Tour de Romandie habe ich mir den Rücken verletzt. Aber ich habe im Fitnessstudio daran gearbeitet und es auskuriert.
 
Dein Unfall mit Fahrerflucht, der Tod von Scarponi – es hat einige sehr prominente Radsportler bei Autounfällen erwischt …
Solche Unfälle passieren immer häufiger und es hat einige sehr tragische gegeben wie den Tod von Michele und kürzlich Nicky Hayden. Es zeigt, wie gefährlich es sein kann, auf der Straße zu fahren, und unterstreicht die Konflikte zwischen Radfahrern und Autofahrern, die daher kommen, dass Radsport so populär geworden ist. Ich bin in den letzten Jahren in den letzten zwei Monaten vor der Tour besonders vorsichtig und drehe mich um, um zu sehen, ob ein Autofahrer mich überholen will. Es ist schade, dass es so ist, aber manchmal werden sich die Leute erst bewusst, was sie auf der Straße machen, wenn es einen schweren Unfall gegeben hat – sowohl Radfahrer als auch Autofahrer.
 
Du hast dich in diesem Jahr auf traditionellem Weg vorbereitet. Wie gut ist deine Form zwei Wochen vor der Dauphiné im Vergleich zu früheren Jahren?
Jedes Jahr ist anders, aber ich glaube, ich bin auf einem guten Weg und da, wo ich für den Juli und den Rest des Sommers sein muss. Wegen der Olympischen Spiele und der Vuelta bin ich im letzten Jahr langsamer an den Formaufbau herangegangen, und dieses Jahr mache ich es ähnlich. Ich genieße es, Rad zu fahren, aber ich genieße es auch, Vater zu sein. Mein Sohn Kellan ist in einem Alter, wo er raus will und die Welt erkunden, und das ist auch gut für mich.
 
Es gibt nur drei Bergankünfte bei der Tour de France in diesem Jahr und nur 37 Kilometer gegen die Uhr. Welchem Fahrertyp liegt das?
Nun ja, wir müssen jedes Jahr versuchen, uns darauf einzustellen, egal welche Route sie uns vorsetzen. Manchmal liegt es einigen Fahrern mehr, und ich würde sagen, in diesem Jahr liegt mir der Kurs nicht so sehr wie im letzten Jahr. Trotzdem glaube ich an meine Chancen. Theoretisch ist das für mich die am schwersten zu gewinnende Tour, verglichen mit den anderen drei. Mit weniger Bergankünften und wesentlich weniger Zeitfahrkilometern ist das Rennen offener. Es ist wahrscheinlich eine Tour, bei der du „das Rennen fahren“ musst. Du kannst nicht mitrollen und abwarten. Es ist vielleicht ein bisschen wie der Giro, wo du einen Plan haben und eine Möglichkeit finden musst, deinen Rivalen Zeit abzunehmen, da es auf dem Papier ja nicht so viele Gelegenheiten gibt. Du brauchst eine innovativere Rennstrategie und musst sehen, was auf der Straße passiert – welches Wetter und welche Windbedingungen herrschen – und das Beste aus der Situation machen.
 
Könnte eine Situation wie auf der Etappe nach Formigal bei der Vuelta a España im letzten Jahr, wo Sky überrumpelt wurde, auch bei der Tour passieren?
Bei der Vuelta war es einer dieser Momente, wo ich auf jeden Fall nicht aufgepasst habe. Und ja – wir hatten ein ganz anderes Team bei der Vuelta, verglichen mit dem, das wir normalerweise zur Tour de France schicken. Ich glaube nicht, dass so etwas noch einmal vorkommt, aber man kann es nicht ausschließen. Wir sind bei der Kalifornien-Rundfahrt in eine ähnliche Situation geraten, aber ich kann es mir nicht vorstellen, dass das bei der Tour de France passiert. 
 
Eine typische Taktik von Sky ist, an der Spitze des Feldes ein hohes Tempo anzuschlagen, um Angreifer abzuschrecken. Taugt diese Taktik auch auf einem offeneren Kurs?
Vorne Tempo zu machen, ist eine wirkungsvolle Strategie, sobald du im Gelben Trikot bist. Aber die Herausforderung ist, erst einmal so weit zu kommen, und da liegt es an mir, diese Gelegenheiten überhaupt erst wahrzunehmen.
 
Bei den ersten beiden Frankreich-Rundfahrten, die du gewonnen hast, hast du bei der ersten Bergankunft ein Ausrufezeichen gesetzt. Könntest du das in La Planche des Belles Filles wiederholen?
Es ist kein sehr langer Anstieg, aber steil und der perfekte Test, um genau zu sehen, in welcher Form jeder ist. Daher ist es definitiv eine wichtige Etappe, was den physischen Gesichtspunkt und den mentalen Kampf zwischen den Klassementfahrern angeht. Es wird einer der Schlüsselmomente sein, und da es eine von drei Hügelankünften ist, ist es ein sehr wichtiger Tag.
 
Beim Giro musste sich Nairo Quintana mit dem zweiten Platz hinter Tom Dumoulin zufriedengeben. Stellt Quintana bei der Tour deswegen eine größere oder kleinere Gefahr dar?
Quintana hat gesagt, dass er sich bei seiner zweiten großen Rundfahrt der Saison am stärksten fühlt, also müssen wir abwarten. Dumoulin hat sich in den Bergen auf jeden Fall gesteigert und er war immer schon ein fantastischer Zeitfahrer. Er entwickelt sich zum ultimativen Rundfahrer.
 
Ist er ein künftiger Toursieger?
Das hängt von den künftigen Strecken ab. Wenn die Organisatoren weiter mit Zeitfahrkilometern knausern, ist das nicht so gut für Dumoulin. Aber wenn man sich seine Fortschritte in den letzten zwei Jahren ansieht: Er hat Gewicht verloren, seine Power behalten, er versteht es, in den Bergen mit seinen Kräften zu haushalten, er bleibt cool, wenn Quintana und Co. ihn in den Anstiegen angreifen, und fährt ein Tempo, das ihm liegt. Er ist der einzige Klassementfahrer, bei dem ich das gesehen habe. Ich glaube, er kann in Zukunft ein großer Rivale bei der Tour sein.
 
Anders als Quintana fühlst du dich bei deiner zweiten großen Rundfahrt nicht stärker?
Überhaupt nicht. Bei der Vuelta habe ich im Prinzip von der Form gezehrt, die von der Tour übrig war. Jeder nach seiner Fasson. Er hat dieses Gefühl und es hat für ihn funktioniert. Ich fühlte mich immer schlechter vorbereitet.
 
Im letzten Jahr hast du gesagt, dass du kein Interesse daran hast, Rekorde zu jagen. Hat sich diese Einstellung geändert, nachdem du drei Toursiege auf dem Konto hast?
Ja, ich muss zugeben … Ich muss sagen, das liegt wahrscheinlich daran, dass ich so oft danach gefragt werde. Aber ja, es ist jetzt für mich eher ein Thema, und ich denke schon über meinen Platz im Radsport nach. Ich bin mit drei Toursiegen in einer sehr privilegierten Position und hätte die Möglichkeit, zu den Grand-Tour-Größen Indurain und Merckx aufzuschließen. Ich würde das sehr gerne, aber ich weiß, dass ich es Jahr für Jahr angehen muss. Ich kann erst über fünf nachdenken, wenn ich Nummer vier habe.
 
Rechnest du damit, dass sich Sky nach den Ergebnissen der parlamentarischen Untersuchung warm anziehen muss?
Ich glaube nicht, dass das in meine Richtung abzielte, daher spüre ich persönlich in dieser Hinsicht keinen Druck. Ich glaube, die ganze Untersuchung und alle Anschuldigungen, die erhoben wurden – das betrifft nur ein paar Leute, und die meisten sind gar nicht mehr Teil des Teams. Es ist für uns eigentlich kein Thema. Die Manager müssen sich darum kümmern und die Pressesprecher. Wir Fahrer kümmern uns um unseren Job.
 
Könnte Geraint Thomas nach seinem Giro-Aus das Tour-Team verstärken?
Ich habe nicht viel mit „G“ gesprochen und kann die Frage vielleicht in zwei Wochen beantworten, wenn wir wissen, in welcher Form er ist. Wir wissen alle, dass er in jeder Rolle viel erreichen kann. Im Moment könnte er ein Ersatzmann für die Gesamtwertung sein, ein super Helfer für mich in den Bergen. Er kann jede Rolle spielen. Wir müssen nur sehen, wie er sich von seinen Verletzungen erholt.
 
Ganz andere Szenarien, aber die Kommissäre haben interveniert, als du wegen äußerer Umstände am Ventoux stürztest. Findest du generell, dass Kommissäre bei Rennen mehr eingreifen sollten?
Das ist immer schwer zu sagen. Jedes Szenario ist anders. Es ist im Prinzip eine Ermessensfrage, wie die Kommissäre die Auswirkung auf das Rennen einschätzen. In meinem Fall war es ein Kilometer vor dem Ziel und die Gruppe hatte sich schon gebildet. Letztlich hängen wir von den Kommissären ab und ich glaube, es ist schade, wenn das Ergebnis eines Rennens [durch äußere Umstände] beeinflusst wird. Wir fragen uns jeden Tag, wo Geraint stünde. Das beschäftigt uns alle: Sicherheit auf den Straßen. Ich glaube, die CPA [Fahrer-Gewerkschaft] setzt sich dafür ein. 

 

Expertenmeinung
Richard Moore
Radsportjournalist

Als Chris Froome im letzten Jahr im Frühjahr ein leichteres Programm absolvierte, war die Erklärung, dass er hoffe, ein bisschen später in Topform zu kommen. Es ging um die Olympischen Spiele in Rio, wo er das Zeitfahren gewinnen wollte. Dann die Vuelta a España, wo er in der Vergangenheit nahe dran war, aber nie gewonnen hat. Anscheinend war die Idee, ein nicht ganz austrainierter Froome könnte sich bei der Tour de France in Form fahren und das Niveau im August und September halten. So weit die Theorie. In der Praxis erreichte er sein erstes Ziel und floppte bei den beiden anderen. Die leichtere Kost schadete Froome Anfang Juli überhaupt nicht – ist er je besser gefahren als auf der 8. Etappe nach Luchon, als er den Peyresourde runterschoss und überraschend gewann, oder vier Tage später auf der Flachetappe nach Montpellier, wo er bei Seitenwind mit Peter Sagan zum Angriff blies? Die Toursieg-Methode des Teams Sky, 2012 mit Bradley Wiggins etabliert und 2013 mit Froome fortgeführt, ist überarbeitet worden. Statt zu Paris–Nizza oder der Ruta del Sol ist Froome in den letzten zwei Jahren nach Australien zur Herald Sun Tour gefahren, einem relativ kleinen Rennen, und hat sein Europa-Debüt erst Ende März bei der Volta a Catalunya gegeben. Es war unauffällig im letzten Jahr und noch unauffälliger in diesem. 2016 gab es einen Etappensieg bei der Tour de Romandie, der gut für die Moral war. In diesem Jahr gab es bei furchtbarem Wetter in der Schweiz kaum Hinweise darauf, dass Froome auch nur annähernd in der Form war, in der er im Juli sein will. Bisher war sein bestes Ergebnis in diesem Jahr sein zweiter Platz auf der 5. Etappe der Katalonien-Rundfahrt, als er in Lo Port in Begleitung von Alberto Contador 13 Sekunden nach Alejandro Valverde ins Ziel kam. Dave Brailsford, Froomes Chef bei Sky, erklärt die Überlegung hinter der Herangehensweise. In Australien ging es um Training bei warmem Wetter vor und nach der Herald Sun Tour. Es folgte ein großer Trainingsblock in Südafrika. In Katalonien, so Brailsford, „war er besser als erwartet, aber das Wetter und ein paar andere Dinge machten ihm in der Romandie zu schaffen“. Nach der Romandie war Froome zu Hause in Monaco, und während der Giro lief, war er auf Teneriffa im Höhentrainingslager. „Das Profil der Saison hat sich im Laufe der Jahre geändert“, erklärt Brailsford. „Er fährt Paris–Nizza nicht, weil er darauf vertraut, dass er rechtzeitig in Form kommt. Er braucht keine Bestätigung bei den Rennen. Er muss Rennen fahren, um genug Kilometer in den Beinen zu haben, aber er braucht kein Selbstbewusstsein aus Siegen zu ziehen.“ Das heißt nicht, dass Froome weniger hungrig ist, sondern nur, dass er sorgfältiger aus dem Menü auswählt. „Die Tour noch einmal zu gewinnen ist ein wichtiges Ziel, Paris–Nizza zu gewinnen ist vielleicht zweitrangig“, sagt Brailsford. „Die Hauptsache ist, dass Chris wie viele ältere Athleten seinen Körper besser kennt. Das haben wir bei British Cycling auch bei einigen älteren Olympia-Teilnehmern gesehen. Sie kennen sich und ihre Physiologie einfach gut.“ Die Bestätigung, die Froome vor der Tour tatsächlich zu brauchen scheint, ist das Critérium du Dauphiné. Wenn er das wieder gewinnt, geht er als Favorit in die Tour. Nicht zu gewinnen könnte für einige Unsicherheit sorgen [Anm. d. Red.: Froome wurde 4.]

Ansonsten ist schwer zu sagen, wo die größten Gefahren lauern. Irgendwann werden die Kräfte des dreifachen Siegers nachlassen, aber dieser Prozess wird wohl nicht ausgerechnet in diesem Jahr beginnen, da man den Eindruck hat, dass viele seiner potenziellen Rivalen beim Giro starteten, weil er machbarer schien, als Froome in der Form zu schlagen, in der er im letzten Jahr war. So werden Nairo Quintana, Thibaut Pinot und der Giro-Sieger Tom Dumoulin die Tour entweder auslassen oder dort erschöpft sein. Quintana, zweimal Zweiter der Tour hinter Froome, fand in Italien ein neues Feindbild in Gestalt des großen und langgliedrigen Dumoulin, der auf die Tour verzichtet. Quintana hatte beim Giro ungewohnte Fehlzündungen; aber angesichts seines Vuelta-Siegs im letzten Jahr, nachdem er bei der Tour hinterhergefahren war, ist vorstellbar, dass er in Frankreich besser sein wird. Zudem wird er ein extrem starkes Movistar-Team haben, das Alejandro Valverde beinhaltet – in diesem Jahr glänzend aufgelegt und mit elf Siegen im Plus. Es ist bemerkenswert, dass der erste Name, den Brailsford auf die Frage nach den anderen Favoriten erwähnt, Richie Porte ist, sein früherer Fahrer. Er nennt auch Romain Bardet, Simon Yates und Contador. Aber mit dem Giro in den Beinen ist Quintana die konstanteste und sicher die größte Gefahr. Eine von Froomes größten Stärken ist seine Mannschaft, obwohl Brailsford die Auswahl nicht leichtfiel. Wout Poels, der mit einer Knieverletzung lange ausgefallen ist, trainiert wieder und will fahren, ist aber vielleicht noch nicht bereit, was heißt, dass Mikel Landa, Etappensieger und Bergkönig beim Giro, einspringen müsste. Landa ist nicht glücklich damit – er wäre lieber Kapitän bei der Vuelta –, aber es bestätigt Froomes unangefochtenen Status als Boss, weil Froome die Vuelta auch gewinnen will. Geraint Thomas wird, nachdem er den Giro nach einem Sturz aufgeben musste, die Tour fahren, ebenso wie Sergio Henao, Michał Kwiatkowski und Leute wie Luke Rowe als Manpower für die Flachetappen. Die größte Gefahr könnte abseits der Straße lauern. Es war eine turbulente Zeit für das Team Sky und Brailsford, und zwei Berichte – einer vom britischen Sportbund über die Kultur beim britischen Radsportverband, der andere eine Doping-Untersuchung bezüglich des Teams Sky durch die britische Anti-Doping-Agentur (UKAD) – sollten Mitte Juni veröffentlicht werden. Während das Ergebnis der UKAD-Untersuchung bislang unklar ist, dürfte der Bericht des britischen Sportbundes – nach dem, was davon bereits durchgesickert ist – ein sehr schlechtes Licht auf einen Verband werfen, der bis 2014 von Brailsford geleitet wurde. Durch den Vergrößerungsglaseffekt der Tour und den Mangel an anderen großen Sportereignissen in diesem Sommer könnte die Geschichte noch größere Dimensionen annehmen und die Hitze im Juli unerträglich machen. Es könnte Froomes Verhältnis zum Team und zu Brailsford belasten – auch wenn Brailsford das Gegenteil versichert. „Da gibt es keine Probleme“, sagt er. „Ich mag Chris sehr: Ich respektiere sehr, was er macht und wie er das macht. Wir sind uns beide einig, was wichtig ist. Wir wollen dasselbe, nämlich: gewinnen.“



Cover Procycling Ausgabe 161

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