Der lange Weg zurück

Ein schwerer Trainingsunfall im Januar kostete John Degenkolb die komplette erste Jahreshälfte. Im Interview sagt der 27-Jährige nicht ohne Grund: „Es war die schwierigste Saison meiner Karriere.“

 

Jeder kennt den erfolgreichen Radprofi John Degenkolb, wie er Rennen auf der ganzen Welt fährt. Was aber machst du in der Off-Season?
Momentan bin ich ganz der Familienvater. Einkaufen, Essen kochen, das Kind rechtzeitig ins Bett bringen – das alles klingt einfacher, als es letztendlich ist [lacht]. Tagsüber ist der Kleine aber bei der Tagesmutter, ich habe also genug Zeit, um mich auf die neue Saison vorzubereiten.
 
Du hast in den letzten Jahren immer wieder betont, wie wichtig dir deine Familie ist und wie viel Rückhalt sie dir gibt. Wie bedeutungsvoll war sie gerade in dieser Saison?
Sehr. Besonders in der Zeit nach dem Unfall ist meine Frau hinter mir gestanden und hat mich immer wieder aufgebaut, wenn ich schlechte Laune hatte. Jeder, der ehrgeizig ist und schon einmal einen so derben Rückschlag hinnehmen musste, weiß, wie mental schwierig solche Phasen sind.
 
Du sprichst von deinem schweren Unfall Ende Januar. Ein Teil eurer Mannschaft ist im Trainingslager in Spanien von einer britischen Autofahrerin erfasst worden. Erinnerst du dich noch an diesen Moment?
Ich weiß noch, wie wir an diesem Tag unser Training absolviert haben. Eigentlich waren wir fertig und fuhren uns auf dem Rückweg zum Hotel nur noch die Beine locker aus. Es war eine ruhige Straße, die auch eigentlich relativ weit einsehbar war. Plötzlich kam dann ein Auto aus einer leichten Linkskurve heraus auf uns zu – und bahnte sich seinen Weg frontal in unsere Richtung. Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie es immer näher kam und schließlich in unsere Gruppe hineinfuhr. Nach dem Aufprall bis zum Eintreffen der Ersthelfer erinnere ich mich aber an nichts mehr. Das nächste Bild, das ich im Kopf habe, ist der Krankenwagen.
 
Welche Verletzungen hast du dir genau zugezogen?
Die Hauptverletzungen waren an meinem linken Arm und meiner linken Hand. Ich erlitt einen offenen Unterarmbruch und ein Finger war fast komplett abgetrennt – der hing nur noch an ein paar Hautfetzen. Im Krankenhaus musste dieser Finger re-amputiert werden, was nicht so einfach war, weil auch Nerven und Sehnen durchtrennt waren. Dann hatte ich noch Verletzungen an der Innenseite des linken Oberschenkels. Jeder, der mal einen gebrochenen Carbon-Rahmen gesehen hat, der weiß, wie spitz Kohlefaser sein kann. An einer Stelle ist mir der gebrochene Rahmen in den Oberschenkel gestoßen, was auch eine relativ tiefe Wunde verursacht hat. Abgesehen von den zuvor genannten Verletzungen war ich aber Gott sei Dank klar im Kopf und von der ersten Minute an in der Lage, zu Hause anzurufen und meiner Familie und meinen Freunden Entwarnung zu geben, dass es mir den Verhältnissen entsprechend geht.
 
Dein Teamkollege Max Walscheid, der ebenfalls in den Unfall verwickelt war, berichtet, dass er zeitweise um die Fortsetzung seiner Karriere fürchten musste. Hattest du ähnliche Ängste?
Diese kompletten Existenzängste, dass ich daran dachte, meinen Beruf nicht mehr ausüben zu können, hatte ich nicht. Für mich war es eher so, dass ich Angst davor hatte, die Klassiker oder sogar die komplette Saison zu verpassen. An das Karriereende habe ich nicht eine Sekunde gedacht.
 
Du bist erst vier Monate nach dem Unfall wieder ins Renngeschehen zurückgekehrt. Es war das erste Mal in deiner Karriere, dass du eine so lange Verletzungspause durchstehen musstest. Wie hast du diese Zeit gemeistert?
Natürlich ist so ein Unfall erst mal ein Schock, aber du musst überlegen, wie du damit umgehst. Klar kannst du dich ins stille Kämmerlein verziehen, die Wunden lecken und warten, dass alles wieder gut wird. Aber so bin ich nicht. Ich hatte die ganze Zeit den Drang, wieder aufs Rad zu steigen, und wollte wieder Rennen fahren. Die Verletzung hat mich vielleicht sogar stärker gemacht als zuvor. Fokussierter und auch – ob man es glaubt oder nicht – motivierter.
 
Wie wichtig war in dieser Zeit deine Familie?
Wir hatten sehr intensive Wochen. Insgesamt war es eine komplett andere Situation: Gerade im Frühjahr wäre ich viel unterwegs gewesen und hätte vielleicht nur ein oder zwei Tage pro Woche zu Hause vorbeischauen können. Ich hatte somit viel Zeit mit und für meine Familie, habe viel Zeit mit meinem Sohn verbracht und konnte mich auf meine Regeneration konzentrieren.
 
Lange Zeit sah man dich in dieser Saison mit einer Schiene an der linken Hand. Bist du heute, fast ein Jahr nach dem Unfall, wieder vollkommen fit oder hast du noch Probleme?
Mein Körper ist definitiv ein anderer als vor dem Unfall. Um die Regeneration zu beschleunigen, habe ich lange die Schiene am Finger getragen. Ich habe auch erkannt, dass mein Körper meine volle Aufmerksamkeit braucht. Egal bei welchem Training: Ich gebe nicht wie vielleicht früher manchmal nur 90 Prozent, sondern in jedem Training alles. Das heißt nicht, dass ich mich in jedem Training in den schwarzen Bereich fahre, sondern dass ich mental bei jeder Einheit genau weiß, was ich machen muss und was mein Ziel ist.
 
Du hast in diesem Jahr trotzdem noch die Tour de France bestritten, warst bei der WM am Start und hast eine Etappe beim Arctic Race in Norwegen und den Münsterland Giro gewonnen. Kann man bei so einer Saison überhaupt ein sportliches Fazit ziehen?
Klar kann man. Man muss sogar ein sportliches Fazit ziehen. Nachdem meine Verletzung es zugelassen hat, mich wieder aufs Rad zu setzen, war das Ziel, wieder Anschluss an die Weltspitze zu bekommen. Dies ist mir, denke ich, sehr gut gelungen. Die Nominierung zur Tour de France steht da für sich. Und dass ich diese Saison mit einem Etappensieg beim Arctic Race of Norway und dann dem „Heimsieg“ beim Münsterland Giro mit Erfolg krönen konnte, stimmt mich sehr zuversichtlich. Ich bin glücklich, dass ich das alles so gemeistert habe und mich nun wieder voll auf das Radfahren konzentrieren kann.
 
Ab wann hattest du das Gefühl, dass die Form wieder da ist?
Eigentlich war ich schon bei der Kalifornien-Rundfahrt nicht so schlecht, aber ich konnte die Spitzen nicht verarbeiten. Auch bei der Dauphiné und in den ersten beiden Tour-Wochen war das Level noch zu hoch. Wenn es zum Sprint kam, war ich schon an der 1.000-Meter-Marke komplett am Ende. Es war, als ob meine Ziellinie einen Kilometer früher da wäre als bei den anderen. In der dritten Woche war ich aber wieder vorne dabei – und im August ist der Knoten dann geplatzt.
 
Der Etappenerfolg beim Arctic Race of Norway …
Genau. Das war sicherlich eines der Highlights in diesem Jahr. Zwei Wochen nach der Tour konnte ich gegen echt gute Besetzung ein Radrennen gewinnen – Alexander Kristoff und Arnaud Demare muss man schließlich erst einmal schlagen. Dieser Sieg hat für vieles entschädigt. Den Münsterland Giro am Ende des Jahres zu gewinnen, war aber genauso cool – gerade weil es ein Rennen in Deutschland ist, das ich bis dato noch nicht gewonnen hatte.
 
Dennoch: War es die schwierigste Saison deiner Karriere?
Ja, auf jeden Fall. Aber vielleicht auch eine sehr wichtige.
 
Nach fünf Jahren bei Giant-Alpecin wechselst du zu Trek. Inwieweit hat die schwierige Saison 2016 diese Entscheidung beeinflusst?
Ich habe mit Giant-Alpecin meine bislang größten sportlichen Erfolge gefeiert. Wir haben als Team Großartiges geleistet, egal ob bei den Frühjahrsklassikern oder und gerade auch für Marcel bei der Tour de France. Ich habe mit dem Team zwei Monumente gewonnen: Mailand–San Remo und Paris–Roubaix – das werde ich nie vergessen. Natürlich ist es erst mal schwer, ein solches Team zu verlassen. Trotzdem wollte ich mich unabhängig von meiner Verletzung weiterentwickeln und habe mich dazu entschieden, das Team zu wechseln. Die Entscheidung fiel auf Trek. Im Nachhinein betrachtet passt auch der Zeitpunkt: 2016 quasi als ein Jahr der Zäsur. Von nun richtet sich mein Blick aber voll nach vorn. Ich freue mich auf das neue Team und die neue Saison.
 
Hast du deine neuen Teamkollegen schon kennengelernt?
Wir hatten ein kurzes Teamtreffen im Herbst, das aber nur einen Tag dauerte. In der ersten Dezemberhälfte gab es ein offizielles Trainingslager, wo dann alle anwesend waren.
 
Welche Erwartungen hast du für die nächste Saison?
Ich will einfach wieder Rad fahren. Wenn keine Schwierigkeiten auftreten, bin ich der festen Überzeugung, dass ich mich auch nicht verstecken brauche, wenn es in Richtung Klassiker geht. Jetzt freue ich mich erst mal auf meine neue Mannschaft und die Möglichkeit, einen noch besseren Radrennfahrer aus mir zu machen.
 
Sehen wir John Degenkolb bei Paris–Roubaix 2017 also wieder ganz oben?
Das wollen wir hoffen. [lacht]

Das Gespräch mit John Degenkolb ist Teil des umfangreichen Saison-Rückblicks in Procycling 01/17.



Cover Procycling Ausgabe 155

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 155.

Heft Bestellen