Lebenslanges Lernen

Im fünften Jahr in Folge hat Chris Froome seine gesamte Saison der Tour de France untergeordnet. Die aufreibende Routine scheint den Sky-Fahrer nicht zu ermüden, auch nicht nach den Spekulationen über seine Wattzahlen im letzten Jahr. Im Gegenteil: „Ich fühle mich frisch und freue mich auf den Höhepunkt der Saison“, sagt er uns. Es ist das zweite Mal, dass er als Titelverteidiger startet, und er hat einige wichtige Lektionen gelernt, wie er Procycling sagt.

 

Das Vorzimmer des RJ-Mitchell-Windkanals in Southampton ist ein Klassiker der öffentlich finanzierten Räume in England. Niedrige blaue Sessel sind um einen weißen Kaffeetisch herum arrangiert. Es gibt crèmeweiße Wände und einen strapazierfähigen grauen Teppich. Es könnte ein Besprechungsraum eines Gemeinderats, eine Bücherei ohne Bücher oder ein Gemeinschaftsraum im Knast sein. Der einzige Hinweis auf den Zweck dieses Gebäudes ist das Modell eines Windkanals an einer Wand. In der Kammer des Modells steht ein Lego-Star-Wars-Raumschiff – aber nicht der Todesstern. Den ganzen Vormittag war Chris Froome die tatsächlich Aktionsfigur in der Kammer, testete und tüftelte an seiner Position auf der neuen Pinarello-Zeitfahrmaschine seines Teams. Es ist ein letzter Systemcheck vor der Tour, wobei die hier gesammelten Daten dem britischen Verband auch Auskunft über Froomes Chancen beim olympischen Zeitfahren in Rio geben sollen. Als wir ankommen, scheinen die Tests vorbei zu sein. Die beiden Sky-Trainer Tim Kerrison und Rod Ellingworth sowie der Chefmechaniker Gary Blem laufen herum. Auf einem Podest sitzt Chris Froome und isst Lunch aus einer Tupperdose. Alle sind in Telefongespräche vertieft. Sie sieht sehr bescheiden aus, diese Welt der permanenten Verbesserung. Und dann legt irgendjemand irgendwo einen Schalter um und das ganze Gebäude ist erfüllt vom lauten und tiefen Brummen eines riesigen Propellers. Es klingt wie heranrollender Donner. Die Parallele zwischen diesem unscheinbaren Gebäude und dem Athleten oben auf der Treppe, der Anlauf auf seinen dritten Tour-Titel nimmt, ist unvermeidbar.

Bei diesen Vier-Augen-Interviews ist Froome selten er selbst. Er ist ein Zappelphilipp. Er kommt die Treppe herunter, um uns zu begrüßen, hat eine Jacke dabei und hält eine Wasserflasche in seinen langen, spinnenhaften Fingern, um die ihn ein Klavierspieler beneiden würde. Als wir uns die Hand geben, entgleitet ihm die Flasche. Später spielt er während des Interviews so sehr an seinem Ehering herum, dass er ihn verliert und der Ring unter einen Tisch rollt. Man würde erwarten, dass der beste Ausdauerathlet der Welt gelassener ist. Wenn das der einzige Eindruck wäre, den man von ihm hätte, würde man nicht darauf kommen, dass ein so nervöser Mensch die Tour einmal oder gar zweimal gewinnen konnte und trotzdem in seiner Karriere noch genug Zeit hat, um potenziell einer der ganz Großen der Rundfahrt zu werden. Diese Dusseligkeit ist gut dokumentiert. Es ist die Seite, die Froome den Spitznamen „Crash“ von seinem Landsmann, dem Ex-Profi Robbie Hunter, einbrachte und wegen der er den Prolog der Tour 2012 versehentlich mit Wattebäuschen in der Nase bestritt. Froome erträgt seine Tollpatschigkeit mit Selbstironie und Toleranz. Er ist ein Sonderfall im Profi-Peloton, aber er hat die Fähigkeit, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen. Es ist der Langmut, den vorsichtige Leute entwickeln, wenn die Erfahrung ihnen sagt, dass sie sich nie gehen lassen dürfen.

Mit dieser Vorsicht ist Froome gut gefahren. Sie hatte wahrscheinlich einen massiven Einfluss auf seinen Erfolg bei der Tour, denn eine weitere, selten bemerkte Eigenschaft Froomes ist seine Fähigkeit, seine Fehler zu analysieren und aus ihnen zu lernen. Für Leute mit großen Egos ist das schwerer. Ein paar Beweise: 2013 erwischte es ihn, als das Peloton auf der Etappe nach Saint-Amand-Montrond bei Seitenwind auseinanderriss – er verlor 69 Sekunden auf Alberto Contador. 2015, als auf der 2. Etappe nach Neeltje Jans eine ähnliche Gefahr drohte, ließ Froome sich nicht überrumpeln, sondern fuhr einen Vorsprung auf seine Rivalen heraus, der die Grundlage für seinen Toursieg war. Vor zwei Jahren überlebte Froome die erste Woche nicht, nachdem er in zwei Tagen dreimal gestürzt war und auf der 5. Etappe mit Frakturen in Hand und Handgelenk aufgab. Im letzten Jahr fuhr Sky wie BMC 2011 und setzte sich an die Spitze, egal, ob Terrain und Umstände es zu erfordern schienen oder nicht. Auch im letzten Jahr sagten fast alle voraus, dass er in der Abfahrt vom Col d’Allos auf der Etappe nach Pra Loup Probleme haben würde, doch Froome fuhr supersicher den Berg herunter. Wenig überraschend nimmt Froome dieses Kompliment an. Aber was überrascht, ist, dass er – ob absichtlich oder nicht – nicht davon spricht, Fehler zu korrigieren oder Schwächen zu minimieren, sondern sich tatsächlich einen Vorteil zu sichern. „Wenn etwas nicht gut läuft, sehe ich das als riesige Möglichkeit“, sagt er. „Zuerst ist es enttäuschend, aber dann gehe ich nach Hause und gehe alles in meinem Kopf noch mal durch und analysiere, was schieflief und was ich nächstes Mal besser machen kann. Ich bespreche es dann mit meinen Teamkollegen, und wenn ich nächstes Jahr bei dem Rennen antrete, denke ich daran, den Jungs zu sagen: ‚Hört mal zu, wir haben das nicht richtig gemacht, jetzt machen wir es besser, wir fahren weiter vorn und wir schalten auf Flachetappen nicht ab‘, oder was auch immer es ist.“

Welche Lektionen glaubt Froome vor der diesjährigen Tour lernen zu müssen? Vor allem zwei: besser mit dem Druck umzugehen, Titelverteidiger der Tour zu sein, und seine Form genauer zu messen. Nach zehn Karrierejahren mit Versuch und Irrtum plus Niederlage und Sieg könnten das die beiden schwersten Aufgaben sein, die er sich bisher gestellt hat. Kein Wunder, dass er das Rennen so beschreibt: „Ich denke, das Rennen könnte eine der am härtesten umkämpften Frankreich-Rundfahrten werden. Es wird superknapp werden.“ Die jüngere Geschichte spricht nicht für Froomes Status als Favorit. Blickt man in die (bereinigten) Bücher, so hat es seit Miguel Indurain 1995 keine erfolgreiche Titelverteidigung mehr gegeben. Es ist der längste Abstand zwischen zwei aufeinanderfolgenden Siegen in der Geschichte der Tour. Und bisher ist Froome einer der spektakuläreren Versager, denn nach dem Höhenflug von 2013 wurde er 2014 mit seiner Aufgabe auf der 5. Etappe auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In dieser Spanne von 20 Jahren ist er der einzige Fahrer, der bei einer Titelverteidigung aufgab, obwohl es Bradley Wiggins und Alberto Contador – bei einer Gelegenheit – nicht einmal an den Start schafften. Zwei Jahre später gibt er zu, dass er mit dem Druck besser hätte umgehen können. Er hatte das Gefühl, etwas beweisen zu müssen. „Ich sagte mir: Jetzt, Froome, musst du hier etwas beweisen“, sagt er. Es wurde nicht leichter, als nach der Tour de Romandie bekannt wurde, dass er bei dem Rennen das Corticoid Prednisolon verwendet hatte. Krank genug, um Cortison zu brauchen, aber nicht so krank, dass er kein großes Radrennen gewinnen konnte – wo ist die Logik, fragten die Kritiker. Froomes Beteuerung, es sei ein legitimer Einsatz einer Minimal-Medikamentierung gegen Asthma gewesen, das durch eine Infektion verschlimmert worden sei, wollte niemand hören. Gleichzeitig trat Bradley Wiggins im Fernsehen auf und erklärte, die Tour nicht fahren zu wollen – alles ungefähr zu der Zeit, als Froome in seiner Autobiografie The Climb das schwierige Verhältnis zwischen den beiden Fahrern beschrieb.

Das ist nun Vergangenheit und in diesem Jahr hat Froome die seltene Chance, erneut zu einer Titelverteidigung anzutreten. Dieses Mal sei er „generell viel entspannter“, versichert er. „Ich bin nicht minder motiviert in dieser Saison und tue alles, was ich kann, um in Form zu sein“, sagt er. „Ich habe das Gefühl, zu Beginn der Saison den Reset-Knopf gedrückt zu haben. Es ist dieses Mal ein anderes Gefühl. Vielleicht, weil ich zwei Jahre mehr in den Beinen habe. Ich fühle mich sicherer in dieser Position. Der Druck der Medien und die Aufmerksamkeit, die damit einhergeht, machen mir nichts aus.“ Es sei nicht so, dass kein Druck da wäre, erklärt er, sondern dass er sich „an all das gewöhnt“ habe. Da klingt ein leiser Überdruss durch und das öffnet die Tür zu der Geschichte des letzten Winters und die Debatte in den Medien über seine unabhängigen physiologischen Tests, die er im Dezember veröffentlicht hatte. Der Brite versichert, die Sache abgehakt zu haben, selbst wenn andere das nicht getan haben. „Ich vergeude keine Energie mehr damit, darüber nachzudenken. Ich konzentriere mich auf den Radsport, den tatsächlichen Wettbewerb“, sagt er schroff. Die  zweite Lektion, die Froome lernt, ist, sich seine Energie bei der Tour einzuteilen. Sky hat die beiden bisherigen Frankreich-Rundfahrten durch einen Blitzkrieg gewonnen – blitzschnelle Attacken in der ersten Phase des Rennens, die seine Opponenten kalt erwischten. 2013 griff Froome auf der ersten Bergetappe nach Ax-3 Domaines (8. Etappe) an und nahm Quintana 1:45 ab, der seinerzeit noch für Alejandro Valverde arbeitete. Er konsolidierte seinen Vorsprung am Mont Ventoux (15. Etappe) und dann noch einmal beim Zeitfahren von Embrun nach Chorges (17. Etappe). Im vergangenen Jahr versetzte er der Konkurrenz die Wirkungstreffer auf der zweiten 2. Etappe (1:28) und am Col de Soudet auf der 10. Etappe, wo er Quintana 64 Sekunden abnahm.

Aber die unerwünschte Nebenwirkung beider Rennen war, dass sie ihm in den letzten Tagen fast aus der Hand geglitten wären. 2013 machte Quintana auf der 18. und 20. Etappe 1:35 Minuten auf Froome gut; auf der letztjährigen 19. und 20. Etappe nahm der Kolumbianer dem Briten 1:50 Minuten ab. Froome „hing“ an der Alpe d’Huez, wie er sagt, angesichts der Attacken des Kolumbianers. Teils lag das an einer Erkrankung, teils an seiner Taktik, seine Rivalen früh anzugreifen und später defensiv zu fahren. Aber in diesem Jahr, wo die erste richtige Bergankunft am letzten der drei Tage in den Pyrenäen in Andorra-Arcalis wartet, rechnet Froome damit, dass sich das Rennen anders entwickelt. „Von der Logik her muss ich nicht so auf den Punkt vorbereitet in die Tour gehen wie in den Vorjahren, zumal die letzte Woche so gespickt ist mit Etappen, die für die Gesamtwertung wichtig sind“, sagt er. „Ich glaube, ich gehe ein bisschen unterhalb meiner Topform ins Rennen, nicht ganz so bereit, in der ersten Hälfte des Rennens anzugreifen.“ Und das erklärt teilweise, warum Froome in diesem Jahr so auffallend unauffällig war. Bis Ende Mai hatte er nur 18 Renntage absolviert. Die Zahl entsprach seiner Vorbereitung in den letzten drei Jahren, doch die Resultate schienen schlechter als sonst zu sein. Er gewann die Herald SunTour Anfang Februar, aber das ist nur ein Rennen in Australien der Kategorie 2.1 und das Feld war vergleichsweise schwach. Dann war er Achter der Volta a Catalunya, während seine Erzrivalen Nairo Quintana und Alberto Contador um den Titel kämpften, wobei der Kolumbianer die Oberhand behielt. Bei der Tour de Romandie, die in den letzten fünf Jahren neben der Dauphiné der einzige feste Termin in Froomes Tour-Vorbereitung war, spielte er in der Gesamtwertung keine Rolle mehr, nachdem er beim Prolog im Schneeschauer zurückgefallen war. Das Pech blieb ihm auf der 2. Etappe mit einem Plattfuß vor dem Schlussanstieg treu, er verlor 17:30 Minuten. Froome riss sich zusammen und wurde Vierter im 15,1 Kilometer langen Zeitfahren am nächsten Tag, bevor er die Königsetappe mit einer Langstreckenattacke gewann. „Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal 40 Kilometer vor dem Ziel attackiert habe, statt im letzten Anstieg bis zum letzten Moment zu warten, um anzugreifen“, sagt er.

 

Der Etappensieg war ein Trost, eine Bestätigung dafür, dass er auf dem richtigen Wege war. Froome, der aus Niederlagen etwas lernen will, wurde auch an die Launen und Zufälle des Radsports erinnert. „Was 2014 passierte, könnte wieder passieren. Das ist immer möglich. Die Tour de Romandie war eine Erinnerung daran, dass man nichts als selbstverständlich annehmen kann.“ Der verhaltene Start in die Saison sei Absicht gewesen, sagt er weiter, eine Entscheidung, die ihm erlaubt hat, mehr Zeit zu Hause bei seinem Sohn Kellan zu verbringen, der im Dezember geboren wurde. „Ich stelle mich darauf ein, daher glaube ich, es ist das, was ich gebraucht habe“, sagt er. Außer Lektionen zu lernen, ist Froome auch Meister darin, seine Fähigkeiten auf das Rennen zuzuschneiden. Etwa sein Zeitfahren. Im letzten Jahr bedeutete die drastische Reduzierung der Kilometer gegen die Uhr, dass Froome sein Zeitfahrtraining mehr vernachlässigte denn je, und das Resultat war klar: Fast zwei Jahre lang war er vor dem Zeitfahren der diesjährigen Tour de Romandie nicht über einen zehnten Platz hinausgekommen. Er ist zufrieden, wieder konkurrenzfähig zu sein, sagt er uns. „Es ist schön, wieder mehr oder weniger mit den Besten mithalten zu können.“ Es gibt eine Redewendung in Frankreich: Jamais deux sans trois – aller guten Dinge sind drei. Das Sprichwort ist nicht unbedingt auf das übliche Muster von Toursiegern anwendbar. Es gab 48 Fahrer, die das Rennen einmal gewonnen haben, und 13, die das Double schafften. Nur sieben haben drei oder mehr Titel gesammelt. Mit bereits zwei Gelben Trikots ist Froomes Platz in der Tour-Geschichte gesichert, aber ein weiterer würde seinen Namen zu einem Synonym für das Rennen machen, zu einem der Großen, auf einer Stufe mit Greg LeMond, Louison Bobet und Philippe Thys. Wir nennen Froome die Zahlen. „Das habe ich noch nie gehört. Es ist eine Ehre für mich, in Gesellschaft der großen Namen der Vergangenheit zu sein“, sagt er rundheraus. „Aber ich denke nicht allzu viel darüber nach.“ Froome ist zu zielorientiert und konzentriert, um sich Gedanken über Rekorde und seinen Platz in Geschichtsbüchern zu machen.

Dieser vermeintliche Mangel an Radsportkultur kommt bei einigen Fans nicht gut an. Das und die Tatsache, dass er im Ausland aufwuchs, hat Froomes Ansehen in Großbritannien wie in anderen Ländern bisher Grenzen gesetzt. Doch er scheint Fortschritte zu machen. Nach dem Test im Windkanal hatte Froome eine spontane Fahrt mit Fans organisiert. Wir schauten zu, wie er sich vor der Fahrt 15 Minuten Zeit nahm, um für Selfies zu posieren und Trikots zu signieren. So entspannt hatten wir ihn den ganzen Tag nicht gesehen. Später sagte er uns, er habe mit 30 oder 40 Teilnehmern gerechnet, dabei waren eher 300 gekommen. „Ich war erstaunt, dass die Polizei uns nicht von der Straße vertrieben hat, weil wir die Straße auf ein paar Kilometer Länge in beide Richtungen blockiert haben. Aber es hat Spaß gemacht.“ Einzuschätzen, wie er nach der Tour und Olympia beim Publikum ankommt, wird natürlich aufschlussreicher sein. Aber das ist unwichtig für Chris Froome, während er sich auf die Tour vorbereitet. Nach einer lehrreichen, aber schmerzhaften Erfahrung 2014 ist sein Hauptziel, es bis Paris zu schaffen. Vielleicht erinnert er sich daran, wie er die Champs-Élysées 2008 am Ende seiner ersten Tour zum ersten Mal erreichte – drei Monate, nachdem seine Mutter an Krebs gestorben war. „All diese Emotionen“, sagte er uns später telefonisch vom Teide-Vulkan. „Es gibt keine Phase eines Rennens, die damit vergleichbar ist. Ich war gestartet mit dem Ziel, bis zum Ende durchzuhalten, und dann waren wir auf ein paar Etappen eine Weile ganz vorn. Ich war wirklich überrascht über diese kleinen Siege.“ Das war der alte Froome. Der neue Froome ist zweifacher Toursieger und Favorit, aber die erste Prüfung – es bis nach Paris zu schaffen – ist wahrscheinlich die größte Herausforderung. Das Resultat, darauf vertraut er, wird daher rühren.



Cover Procycling Ausgabe 149

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 149.

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