Schnell erwachsen werden

Das Einzige, was schneller ist als Fernando Gaviria und Caleb Ewan, ist ihr Ruf. Die sich anbahnende Rivalität zwischen den beiden könnte Massensprints auf Jahre hinaus prägen. Procycling vergleicht zwei Stars in spe.

 

Marcel Kittel, André Greipel und Mark Cavendish werden die Sprinter sein, die bei der diesjährigen Tour für die meisten Schlagzeilen sorgen. Es könnte sogar Kurzauftritte von Fahrern wie Nacer Bouhanni und Alexander Kristoff geben, die ihnen die Show stehlen. Aber sicher ist, dass ihre Zeit an der Spitze, in unterschiedlichem Maße, begrenzt ist. Ihr letztlicher Abgang könnte sogar beschleunigt werden durch die Konkurrenz zwischen den beiden kommenden Männern des Sprints: dem australischen Orica-GreenEdge-Fahrer Caleb Ewan und dem kolumbianischen Etixx – Quick-Step-Mann Fernando Gaviria. Gaviria und Ewan sind erst einmal aufeinandergetroffen, seit sie Profi wurden, aber diese erste Runde des Kampfes plus ihre nachgewiesene Klasse als Sieger von WorldTour-Rennen heißt, dass wir die ersten Jahre dessen erleben, was die prägende Rivalität bei Grand-Tour-Sprints der nächsten Dekade werden könnte. Von jetzt an kann der Schlagabtausch losgehen. Sie wurden im Abstand von sechs Wochen geboren: Gaviria in La Ceja, 2.200 Meter über dem Meeresspiegel, Ewan am Ozean in Sydney. Beide folgten ihren Vätern in den Radsport, und was ihren Hintergrund angeht, so haben beide exzellente Bahn-Referenzen: Sie sind frühere Juniorenweltmeister im Omnium. Aber in den Details ihres Handwerks liegen sie himmelweit auseinander – eine gute Sache, denn bei einer großen Rivalität geht es ebenso um das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Stile, Taktiken und Techniken wie um die Aussicht auf einen spannenden Kampf.

Die Erwartungen an Ewan in Australien wachsen spätestens, seit er 2013 als Junior die Bay Crits gewann. „Es war schon ein gutes Zeichen, dass ein Junge in dem Alter das Ziel erreicht, obwohl es Januar war und er eine Sommer-Sensation war, wie wir es nennen. Aber er ließ sie alle hinter sich. Das war ein gutes Zeichen“, sagt sein Landsmann, der Ex-Profi Robbie McEwen, mit dem Ewan oft verglichen wird. Gaviria hingegen ist weiter auf der Bahn geblieben und hat drei weitere Regenbogentrikots gewonnen. Er ist Favorit für die Goldmedaille im Omnium bei den Olympischen Spielen in Rio. Aber seine Abstecher in den Straßenradsport in den Farben von Colombia und zuletzt Etixx – Quick-Step haben seinen Appetit angeregt auf das, was er erreichen kann, wenn er sich endgültig dem Asphalt verschreibt. Tom Steels, sein Sportlicher Leiter, glaubt: „Er kann alles: Er hat das Zeug für die Klassiker, aber er ist auch ein furchtloser Sprinter. Er wird sicher einer der Top-Leader, denke ich.“ Die jeweiligen Teams der beiden haben ganz andere Methoden, ihre Talente zu nutzen. Orica-GreenEdge hat Ewan vorsichtig in die turbulenten Gewässer der WorldTour eintauchen lassen, ihm erlaubt, „Selbstbewusstsein zu gewinnen und Sprintzüge bei 2.1- und 2.2-Rennen zu üben“, sagt McEwen. Etixx – Quick-Step hingegen hat Gaviria ins kalte Wasser geworfen: Sie haben ihn dieses Jahr als Neuprofi zu Mailand–San Remo geschickt, und wäre der späte Crash auf der Via Roma nicht gewesen, hätte er gewinnen können, wie viele glauben.

Von seinem Körperbau her ist Ewan kompakt und muskulös: 61 Kilogramm leicht und 1,65 Meter groß. „Winzig“, wie McEwen sagt. So kann er sich pfeilschnell bewegen und die Linie wechseln, ohne dass ihm jemand den Weg versperrt. Auch seine Beine bewegen sich rasant. In den letzten zehn Sekunden der 1. Etappe der Tour Down Under 2016 zum Beispiel machte er 24 Umdrehungen – rund 126 Umdrehungen in der Minute. Dazu kommt seine wunderbare Haltung. In den letzten fünf Sekunden seines Sprints ist Ewan eine menschliche Rakete mit windschlüpfigem Profil: Er zieht die Ellenbogen ein und legt den Oberkörper direkt auf den Lenker – so weit, dass es aussieht wie geduckte Haltung von Graeme Obree auf „Old Faithful“. Es ist ein Wunder an Biegsamkeit und Radbeherrschung, das durch Austesten von Haltungen im Windkanal zustande kam und dessen Perfektionierung ein Jahr dauerte. Seine Waffe sei die Geschwindigkeit, nicht die Kraft, bestätigt McEwen, aber er kann auf etwas schwereren Kursen glänzen, auf denen größere Fahrer wie Kittel zurückfallen. Und er lässt sich nicht unterkriegen: Er ist auch „frech“. „Er ist ein paar Mal gestürzt, aber er steht sofort wieder auf und macht weiter. Er hat Eier“, sagt McEwen. 

Gaviria ist langgliedriger: rund 70 Kilogramm und 1,80 Meter, womit er im Körperbau-Spektrum der Sprinter ungefähr zwischen Ewan und Kittel liegt. „Ein starker Junge“, fasst Steels anerkennend zusammen. Auf der 4. Etappe der Großbritannien-Rundfahrt im letzten Jahr zählten wir gerade 15 Umdrehungen in den letzten zehn Sekunden. Trotzdem, so Steels, ist seine Beschleunigung „fantastisch“ – wie man auch bei seiner dominanten Vorstellung im abschließenden Punktefahren beim Omnium bei der WM in London sehen konnte. „Er ist wie Óscar Freire damals – er braucht nicht viel, um auf ein sehr hohes Niveau zu kommen, und sie sehen nicht wie Topsprinter aus, aber sie beschleunigen wie sie.“ Zudem ist sein Sprint, der auf der Bahn feingeschliffen wurde, pfeilgerade. „Er ist stark und beim Höhentraining wird er sehr schlank. Er ist schon auf einem sehr hohen Niveau und wenn er in den nächsten zwei Jahre klarkommt, viele Kleinigkeiten lernt, zum Beispiel, wie man zwischen Autos nach vorne fährt und Beutel in der Verpflegungszone annimmt, wird er ein großer Champion.“

Derweil ist Ewan „nicht auf den Kopf gefallen“, berichtet McEwen. „Bemerkenswert an ihm sind natürlich seine Geschwindigkeit, sein Talent, aber auch seine Besonnenheit – deswegen habe ich gedacht, Holy Shit, dieser Junge ist speziell.“
Aber während Ewans Weg ins Peloton ein sich steigernder Trommelwirbel war, war der von Gaviria ein Paukenschlag. Als er Cavendish bei der Tour de San Luis 2015 an drei Tagen zweimal schlug, richteten sich mit einem Mal alle Augen auf ihn. Und wie Brian Holm, Etixx – Quick-Step-Sportdirektor, nach der 3. Etappe von Tirreno–Adriatico in diesem Jahr sagte: „Er ist der beste Neuprofi, den ich je in meiner Laufbahn als Sportlicher Leiter gesehen habe.“ Die Etappe nach Montalto di Castro über einen schweren und technisch anspruchsvollen Kurs endete mit einem Bergaufsprint. Ewan hatte sich in perfekter Position an Gavirias Hinterrad geheftet und war schon in niedriger und aerodynamischer Haltung. Gaviria musste bereits sehr früh in den Wind gehen und hielt seine Hände am Oberlenker. Aber er wuchtete sein Rad trotzdem elegant als Erster über die Linie. Ewan kam einfach nicht an ihm vorbei. Den ersten Treffer landete der Kolumbianer. Und das ist das bleibende Bild ihrer bisherigen Rivalität. Sie werden vor August nicht mehr oft aufeinandertreffen – wenn überhaupt. Aber Steels zweifelt nicht, dass diese beiden Männer die „nächste Generation der Sprinter“ sind und „bestimmt aufeinandertreffen werden“. Und dann gibt es ein Feuerwerk.

 

Im Gespräch
Caleb Ewan
 
Orica-GreenEdge hat dein Programm behutsam geplant. Möchtest du 2016 gerne größere Rennen fahren?
Ja. Wie jeder junge Athlet willst du sofort nach oben, deswegen kann ich Rennen wie die Tour und einige der größeren Klassiker kaum abwarten, aber es ist auch gut, dass ich ein Team wie GreenEdge habe, das wirklich vorsichtig mit mir ist. Viele andere Teams hätten mich – nach den ersten Resultaten – vielleicht zu früh in große Rennen geschickt, und das kann sich nachteilig auf dich auswirken.
 
Du hast letztes Jahr eine Vuelta-Etappe gewonnen; und dass ein Neuprofi bei einer Grand Tour ein Sieg feiert, ist eine Seltenheit. Was war das für ein Gefühl für dich?
Ein wirklich gutes. Es hatte mir wirklich ein großer Sieg gefehlt. Ich hatte in dem Jahr etliche Rennen gewonnen, aber kein so hochkarätiges. Die Vuelta zu fahren, mein letztes Rennen der Saison, und dort einen Sieg zu holen – das war das Sahnehäubchen. Es hat aus einer guten Saison eine große Saison gemacht, glaube ich.
 
Der Sieg hob sich von vielen hinteren Plätzen bei der Vuelta ab. Hast du dich für die wichtigste Etappe geschont?
Ehrlich gesagt, habe ich mich durch die Vuelta gekämpft. Die eine Etappe habe ich gewonnen, aber auf den anderen bin ich zurückgefallen. Auf dieser einen Etappe wusste ich, dass ich eine wirklich gute Möglichkeit hatte, also habe ich mich in den Tagen davor nicht zu sehr verausgabt. Aber es war eigentlich keine Taktik, meine Beine zu schonen, sondern es war einfach zu schwer für mich.
 
Klingt, als hättest du einen guten Riecher für Chancen.
Das habe ich, glaube ich. Es gibt Tage, wo ich körperlich zu erledigt bin, um über die Hügel zu kommen. Aber oft – zum Beispiel bei der U23-WM in Ponferrada und der Weltmeisterschaft in Florenz [2013], was schwere Kurse, aber große Ziele sind, wo einiges gegen mich spricht – bin ich wirklich motiviert. Bei einer Grand Tour ist es wirklich schwer, weil du dir die Etappe genau aussuchen musst, bei der du wirklich gut fahren willst. Ich gewinne lieber eine Etappe, als fünfmal Zweiter zu werden.
 
Wie ist deine geduckte Haltung im Sprint entstanden und wie lange hat es gedauert, sie zu perfektionieren?
Ich würde sagen, rund ein Jahr. Es fing an, als ich in den Windkanal ging und wir all diese verschiedenen Positionen ausprobiert haben, und diese Position war schon krass, aber man sieht, welchen Vorteil es hat. Eigentlich braucht man keinen Windkanal, um den Unterschied zu sehen. Das Problem ist, in dieser Haltung die Kraft auf die Pedale zu bringen.
 
Glaubst du, dass die Leute diese Sprint-Position nachahmen werden?
Ich bin ziemlich klein und mit meinem Körperbau kann ich eine viel aerodynamischere Position einnehmen, als wenn Kittel oder ein anderer Fahrer, der so groß ist, das versuchen würde. Das ist auch ein Vorteil für mich. Wenn du es oft genug probierst, kannst du es vielleicht, aber es ist eigentlich ziemlich schwer.
 
Neutrale Fans freuen sich auf die potenzielle Rivalität zwischen dir und Gaviria. Siehst du ihn als Rivalen?
Ja, ich denke schon. Wir haben einen ähnlichen Hintergrund als Junioren auf der Bahn. Er ist ein großartiger Sprinter. Er hat schon Unglaubliches erreicht und ich glaube, wir werden eine gute Rivalität haben.
 
 
Im Gespräch
JOXEAN FERNÁNDEZ MATXIN
Während Fernando Gaviria in Kolumbien hart trainiert, spricht Procycling mit dem Scout, der ihn zu Etixx brachte.

Wann sind Sie auf Gaviria aufmerksam geworden?
Ich habe auch deswegen als Scout angefangen, weil ich damals Patrick Lefevere kennenlernte, als ich das Mapei-Juniorenteam [seinerzeit 3. Division – Anm. d. Red.] in den frühen Nuller-Jahren leitete. 2014 hatte ich schon Kontakt mit Rodrigo Contreras [ein kolumbianischer Profi, auch bei Etixx – Quick-Step] und Fernando Gaviria, und diese beiden, Contreras und Gaviria, waren die ersten, die über mich ins Team kamen.
 
Sie wurden mit etwas Verspätung unter Vertrag genommen. Wie kam das?
Ich sprach mit Carlos Maria Jaramillo, dem Direktor dieser Fahrer in der Straßen-Nationalmannschaft und bei [dem Straßen-Nachwuchsteam] Ciclismo Coldeportes, um die Sache zu klären. Aber erst überschnitt sich das Etixx-Trainingslager im Winter 2014 mit ihrer Teilnahme an der Tour de San Luis mit ihrer Nationalmannschaft. Also kamen sie schließlich etwas später als geplant zu Etixx [im August 2015 – Anm. d. Red.]. Aber das war gar nicht so schlecht: Als Gaviria bei der Tour de San Luis zwei Etappen gewann und Cavendish schlug, wurde klar, dass Gaviria nicht nur ein guter Amateur war, sondern auch Topprofis schlagen konnte.
 
Mit Ihrer langen Erfahrung als Trainer – können Sie ihn mit anderen Fahrern vergleichen, die Sie kennengelernt haben?
Gaviria hat viele Rennen gewonnen, sechs als Amateur in einem Jahr, die Panamerikanischen Spiele [U23] im Jahr 2014 … Aber es ist nicht nur das: Ich glaube, was dieser Junge allen vor Augen führt, ist, dass er ein Naturtalent ist, sehr ähnlich wie ein anderes Naturtalent, [der dreifache Weltmeister] Óscar Freire, mit dem ich schon früh gearbeitet habe [in den 1990ern bei den spanischen Amateurteams Pinturas Banaka und Ripolin – Anm. d. Red.]. Sie haben sich sogar kennengelernt und Óscar hat Gaviria ein paar Tipps gegeben und sein Interesse an Mailand–San Remo geweckt.
 
Welche Unterschiede gibt es denn zwischen Freire und Gaviria?
Gaviria ist eher ein reiner Sprinter und ich würde auch sagen, Fernando hat mehr Killerinstinkt als Óscar. Wenn Óscar ein Rennen nicht gewann, dachte er nicht länger als zwei Sekunden darüber nach. Aber Fernando zieht seinen Wunsch zu gewinnen aus seinen Niederlagen. Er ist anders als zum Beispiel Mark Cavendish, weil er viel ruhiger ist und seinen Ärger nicht nach außen trägt, wenn er verliert. Aber wenn Gaviria tatsächlich verliert, wird sein Siegeshunger unglaublich stark, stärker als das, was er körperlich spüren würde, wenn er tagelang nichts zu essen bekäme.
 
Wird er sich eines Tages zwischen Bahn und Straße entscheiden müssen?
Er hat so viel angeborenes Talent, dass er keine Wahl zu treffen braucht. Jeder Bahn-Trainer würde Ihnen sagen, dass das wirklich überraschend ist, aber in den letzten zwei Jahren hat Gaviria für die Bahn-Weltmeisterschaft nicht trainiert. Er ist vorher kein einziges Rennen auf der Bahn gefahren. Er ging einfach als Ersatzfahrer zu einem Bahn-Weltcup, aber nicht, um teilzunehmen, sondern nur, weil er sonst nicht an der Weltmeisterschaft hätte teilnehmen können. Er kann leicht zwischen dem einen und dem anderen wechseln. Warum sollte er sich entscheiden?
 
Wie ähnlich ist er Caleb Ewan – und wie unähnlich?
Es ist faszinierend. Ewan holt schon fast alles aus seinem aerodynamischen Profil heraus. Er ist wie Cavendish, was die Minimierung des Luftwiderstands angeht, nur besser. Aber Gaviria nutzt seinen größeren Körper, um eine höhere Geschwindigkeit zu erreichen. Es ist nur meine persönliche Meinung, aber wenn Sie sich den einzigen Massensprint, den sie zusammen ausgetragen haben, bei Tirreno–Adriatico anschauen, da sprach alles für Ewan – die Positionierung, die Aerodynamik, er war an Gavirias Hinterrad. Bei Gaviria sprach alles gegen ihn – er umklammerte den Oberlenker, fuhr auf der falschen Seite der Straße, eröffnete seinen Sprint 300 bis 400 Meter vor der Linie, was sehr, sehr weit ist, und er hatte einen Rivalen am Hinterrad. Aber Gaviria hat trotzdem gewonnen.



Cover Procycling Ausgabe 148

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 148.

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