Porträt des Künstlers als junger Rennfahrer

Er hatte nach einem Sturz Mitte 2014 mit ein paar Wochen Auszeit gerechnet, aber dann fiel Taylor Phinney ein Jahr lang aus. Doch die Zwangspause hat ihn nicht entmutigt; stattdessen zählt der BMC-Fahrer diese Monate zu den „besten meines Lebens“, denn sie erlaubten ihm, den Radsport in einem neuen Licht zu sehen und eine vergessene Leidenschaft wiederzuentdecken.

 

Taylor Phinney war schon etwas Besonderes, als er 2007 auf der Bildfläche des Radsports erschien und mit 17 Jahren die Zeitfahrweltmeisterschaft der Junioren gewann. Der naturtalentierte Sohn des früheren Sprinters Davis Phinney und der Rad-Olympiasiegerin Connie Carpenter-Phinney setzte seinen Weg nach oben bis Mitte 2014 fort, wo er sein Debüt bei der Tour de France geben sollte. Aber nur zwei Tage, nachdem er zum zweiten Mal US-Meister im Zeitfahren geworden war, stürzte er beim Straßenrennen in Chattanooga in einer Abfahrt und zog sich einen komplizierten Bruch des linken Beins zu. Nach ersten Untersuchungen der Verletzungen erklärte Phinneys BMC-Team, dass er innerhalb von sechs bis acht Wochen wieder im Sattel sitzen werde. Er hatte sich die Großbritannien-Rundfahrt vorgemerkt, um dort wieder ins Renngeschehen einzusteigen. Aber als Procycling zwölf Monate später, kurz vor der 2015er-Auflage des Rennens, mit ihm spricht, hat der 25-Jährige gerade erst wieder seinen Platz im internationalen Peloton eingenommen. Obwohl er bei der USA Pro Challenge schon einen beeindruckenden Etappensieg gefeiert habe, taste er sich noch in den Radsport zurück, wie er sagt. Sein Ziel sei es, sich für das WM-Zeitfahren in Richmond in Form zu bringen [wo er Zwölfter wurde] und – was viel wichtiger ist – sich auf die Saison 2016 und die Jagd nach Olympia-Gold vorzubereiten.

Aber lassen wir die Zukunft beiseite und wenden wir uns etwas zu, das ebenso außergewöhnlich ist wie seine Leistungen auf dem Rad: Nur zwei Tage zuvor hatte Phinney unserer Schwester-Website Cyclingnews gesagt, das letzte Jahr sei „ehrlich eins der besten meines Lebens“ gewesen. Das war ein Jahr, in dem er sich nicht so schnell wie erwartet von seinen Verletzungen erholte und am Ende praktisch zwölf Monate verpasste. Athleten mögen solche Momente nicht, aber Phinney demonstrierte seine Fähigkeit zu unkonventionellem Verhalten und nutzte die Auszeit. Seine Erklärung, warum es ihm so gut ging, führt zu einer extrem ungewöhnlichen, aber faszinierenden Unterhaltung. „Ich hatte viel Zeit, das Leben zu genießen, ohne Profiathlet zu sein“, sagt er. „Es war ein ganz anderes Lebensgefühl und es war aufregend, weil ich im Prinzip Profi bin, seit ich mich nach der High School für Olympia 2008 qualifiziert habe. Normalerweise kommt nach der Schule das wirkliche Leben, aber für mich kam das etwas später. Ich hatte Zeit, es zu erforschen und auch Gefallen daran zu finden, habe mich aber gleichzeitig auf alle notwendigen Dinge konzentriert.“ Phinney bestätigt, dass er dank der Unterstützung seines BMC-Teams während der Genesungsphase nicht unter Druck stand, sein Comeback zu früh zu geben. Sich um sein Gehalt und seinen Vertrag keine Sorgen machen zu müssen, war wichtig. „So konnte ich mich ganz auf meine Genesung konzentrieren. Ich konnte den Stress minimieren“, erklärt der Amerikaner.
 
Er habe den Radsport in den ersten Wochen seiner Rekonvaleszenz aufmerksam verfolgt, sagt er. Er hätte sich die Großbritannien-Rundfahrt angekreuzt, was aber zu früh gewesen sei, stellt er fest. „Die Genesung hat so lange gedauert. Du kannst versuchen, es zu beschleunigen, aber es geht einfach nicht, wenn Knochen, Bänder und Sehnen heilen müssen. Das dauert seine Zeit und geht einfach nicht schneller. Als ich das akzeptiert hatte, konnte ich meine mentale Energie auf andere Sachen richten“, erklärt er. Der Impuls, seinen Fokus neu auszurichten, kam, als die USA Pro Challenge in seine Heimatstadt Boulder rollte. „Die letzte Etappe begann genau vor meiner Wohnung. Es war überraschend schwer für mich, rauszuschauen und das zu sehen“, gesteht er. „Zu dem Zeitpunkt hatte ich mit dem Sport nicht viel am Hut und habe keine Radsport-Meldungen mehr gelesen, nicht mehr getwittert, die Fans nicht mehr über meine Genesung auf dem Laufenden gehalten und mich zurückgezogen und in andere Sachen gestürzt.“ Familie und Freunde waren sein Sicherheitsnetz. „Ich hatte Glück, so viele gute Leute um mich herum zu haben, Leute, die nicht unbedingt in der Radsportszene waren, und sogar Leute, mit denen ich Zeit verbringen konnte, ohne an Radsport zu denken oder darüber zu reden. Das war wirklich wichtig, denn ich brauchte Abstand vom Sport. Ich wollte mich nicht die ganze Zeit darauf konzentrieren, wohin ich gehen musste. Ich musste den Prozess einfach hinnehmen und mich davon entfernen und anderen Bereiche zuwenden“, sagt er.

Vor dieser Zeit war Phinneys Konzentration auf den Radsport so absolut gewesen, dass sie fast jede andere Ablenkung ausschloss, die nicht zu seinen Renn- und Trainingsverpflichtungen passte. Plötzlich befreit, hatte er die Möglichkeit, andere Interessen zu entdecken, die er lange vernachlässigt hatte, vor allem seine Liebe zur Kunst und Malerei. „Dieses Interesse kam von zwei verschiedenen Dingen. Erst einmal fand meine Mutter diese ganzen Zeichnungen, die ich als Kind gemacht hatte, bevor ich zehn war“, erklärt der BMC-Fahrer. „Das waren verrückte Zeichnungen und sie hat sie aufbewahrt, weil es ihr gefiel, dass sie so verrückt waren, so abstrakt, aber künstlerisch. Daneben hat sie auch das Kinderbuch gefunden, aus dem sie mir immer vorgelesen hatte. Es war ein Buch von [Jean-Michel] Basquiat. Es enthielt Gedichte von Maya Angelou und jede Menge Malereien von Basquiat. Es gab eine Korrelation zwischen meinen Kinderzeichnungen und den Bildern in diesem Buch. Dadurch habe ich Basquiat als Künstler wiederentdeckt. Ich besorgte mir seine Bücher und konnte sie einfach nicht mehr aus der Hand legen. Ich ging ins MOMA [Museum of Modern Art] in New York, wo ein großformatiges Werk von ihm hängt. Ich habe eine Stunde davor gesessen. Es gefällt mir, dass seine Bilder komplex, verrückt und merkwürdig sind und keinen Regeln zu folgen scheinen. Und ich dachte: Mensch, vielleicht sollte ich auch so was machen. Es macht bestimmt Spaß.“
 
Unter den Freunden, mit denen Phinney Zeit verbrachte, war eine alte Schulfreundin, die seine Liebe zur Kunst teilte. „Sie heißt Sophia und es war völliger Zufall, dass ich sie und ihre Familie oft sah. Eines Tages schlug ich ihr vor, zusammen etwas zu malen, und das taten wir dann. Ich weiß noch genau, wie es war, diesen Pinsel zu nehmen und die Farbe zu verteilen und so weit davon entfernt zu sein“, erklärt er und hält seine Hand wenige Zentimeter vor sein Gesicht. „Ich lag auf dem Boden, vielleicht zehn oder 15 Zentimeter davon entfernt, und verteilte die Farbe, mischte verschiedene Töne da rein. Ich dachte: ‚Mann, was mache ich jetzt? Das ist mit das Geilste, was ich je gemacht habe.‘“ Phinney habe anfangs „nur mit Farben gespielt“, sagt er, „und verrückte Sachen gemacht“. Er erklärt, dass es eine fundamentalere Wirkung gehabt hätte, als einfach nur eine lange vergessene Leidenschaft in ihm zu wecken. „Ich habe zwei Entdeckungen gemacht – erstens: Als Athlet denkst du, dass du eigentlich kein kreativer Typ bist, dass du ein Mensch bist, der sehr organisiert ist und sich an sein Programm hält. Dann habe ich entdeckt, dass ich diese Seite habe. Der andere Aspekt war, dass ich auch entdeckt habe, dass es eigentlich keine Regeln gibt.“

Die Team-Präsentation der Großbritannien-Rundfahrt beginnt in der späten Nachmittagssonne von Colwyn Bay. Während die Mannschaften im örtlichen Leichtathletikstadion vorgestellt werden, erzählt Phinney, seine Wiederentdeckung der Kunst habe ihn und seine Einstellung zum Radsport verändert. „Dass Kunst so wichtig für mich ist, liegt daran, dass es das Einzige in meinem Leben ist, was ich für mich mache. Als Athlet musst du wirklich egoistisch sein. Du versuchst, Rennen zu gewinnen und gut zu sein, damit du mehr Geld verdienst und für andere Leute sorgen kannst. Du baust dein Image auf. Du kämpfst für dich, aber auch für viele andere Leute“, erklärt er. „Kunst ist etwas, das ich nur für mich mache, und es ist egal, ob es anderen gefällt. Wichtig ist nur, ob es mir gefällt. Aber wenn ich etwas mache, auf das ich wirklich stolz bin, mögen die Leute in meinem Umfeld, die mich wirklich lieben, es auch.“ Als wir ihn bitten, seine Malerei zu beschreiben, sagt der Amerikaner, er habe sich vor allem von Basquiat beeinflussen lassen. „Ich habe viele seiner Arbeiten zu kopieren versucht. Ich habe die Dinge, die mir an seinen Bildern gefielen, herausgepickt und sie für meine Bilder verwendet, aber auch versucht, meinen eigenen Stil zu finden. Ich habe auch andere Künstler entdeckt. Das Coole an Kunst ist, dass man einen Künstler nehmen und herausfinden kann, wer ihn inspiriert hat. Und dann bekommt man diesen großen Baum, fast wie einen Stammbaum, aber es ist ein Baum der Inspiration. Da sind Picasso und [Cy] Twombly, du kannst es zurückverfolgen. Was mir an Kunst gefällt – genau wie an Musik –, ist, dass sie jemanden sehr lange faszinieren kann und präzise ist.“ Normalerweise gleichmütig und zurückhaltend, redet sich Phinney jetzt langsam warm. Der BMC-Pressesprecher Georges Lüchinger tippt im Hintergrund auf seine Armbanduhr, aber der Amerikaner gibt höflich zu erkennen, dass er fortfahren will. „Es gefällt mir, wenn Leute sagen: ‚Ich will keine Sachen mehr machen, die real aussehen. Ich will, dass sie verrückt aussehen.‘ Und ich stelle mir gerne vor, wie diese Leute waren, Leute wie Monet, Matisse und andere, die andere Wege eingeschlagen haben“, fügt er hinzu.

Zu seinen eigenen Malereien sagt Phinney, sie seien abstrakt und von der Tatsache beeinflusst, dass er eigentlich nicht zeichnen könne. „Wenn du mich bittest, etwas wie einen Mann oder eine Brücke oder ein Stillleben zu zeichnen, dann bin ich nicht so gut. Es wäre vielleicht gut, es zu lernen, aber meine Freundin Sophia hat mir gesagt, dass man, wenn man zu viel lernt oder aus seiner Kunst eine Fertigkeit macht, Gefahr läuft, seine kindliche Unbefangenheit zu verlieren“, sagt er. „Ich habe keine Scheu, mit Öl und Leinwand umzugehen. Ich respektierte das Medium, mit dem ich arbeite, aber oft male ich auch etwas, das mir gefällt, und übermale schließlich alles, sodass das Endprodukt nachher ganz anders aussieht. Viele Künstler haben Angst davor, so zu sein, so bizarr zu sein, ein wahrer Kreativer zu sein. Manchmal muss man seltsam sein und das machen, was einem gefällt. Ich habe diesen Charakterzug, ziemlich verrückt zu sein, aber in einem guten Sinne.“

 

Die Wiederentdeckung einer vergessenen Leidenschaft hat auch dazu geführt, dass Phinney sein Leben als Radsportler neu sieht. „Ich habe über mich als Radsportler und Künstler nachgedacht. Ich habe an Rennen gedacht, die ich vor meiner Verletzung gewonnen habe, und wie ich heute an sie herangehen würde. Was mir wirklich gefallen hat, waren diese Momente, wo ich etwas machen konnte, das wirklich anders war, sogar übertrieben. Ich wollte immer ein Entertainer sein, wenn ich auf dem Rad saß, weil ich erkannt habe, dass wir alle Teil der Unterhaltungsindustrie sind”, erklärt er. Der Amerikaner nennt seinen Etappensieg bei der Polen-Rundfahrt 2013 als Beispiel. Es war sein erster Profisieg auf der Straße und eine perfekte Kombination von Instinkt und Kraft. Nachdem er sieben Kilometer vor dem Ziel in Kattowitz attackiert hatte, rettete sich Phinney ein paar Meter vor den heranpreschenden Verfolgern ins Ziel. „Ich habe mir die sprintende Meute ganz allein vom Leib gehalten. Das hat mir so viel bedeutet, weil ich es heute immer noch anschauen kann und spüre, wie gespannt alle waren, die es gesehen haben. Das war eine echte Performance“, sagt er und fügt hinzu: „Vielleicht habe ich mich schon vor dem Unfall ein bisschen als Künstler gesehen. Aber der Sturz hat mir ermöglicht, mich wirklich damit zu beschäftigen. Jetzt bin ich mir dessen bewusster, obwohl ich nicht weiß, ob es mich als Radrennfahrer beeinflusst.“

Durch die Zwangspause konnte Phinney auch über andere Bereiche seines Lebens als Radsportler nachdenken. Das werde ihm helfen, glaubt er, sich Ziele im Radsport zu setzen und diese zu erreichen. „Mir ist zum Beispiel klar geworden, dass während meiner ganzen Karriere immer ein hoher Erwartungsdruck auf mir lastete, dabei gibt es eigentlich nur drei oder vier Leute, auf deren Meinung über mich ich wirklich Wert lege“, erklärt er. „Damit will ich nicht sagen, dass es mir egal ist, wie ich wahrgenommen werde. Aber die Leute, die mir wirklich wichtig sind, haben keine Erwartungen, wie meine Radsportkarriere aussehen wird. Sie wollen nur, dass ich glücklich bin. Also konnte ich mich von den Erwartungen abkoppeln und ich glaube, ich habe den Druck und Stress in diesem Bereich reduziert. Ich glaube, das ist wirklich wichtig für mein Privatleben und meine persönliche Zufriedenheit. Es ist wirklich eine Gratwanderung, das Beste aus seinem Talent zu machen, alles zu nehmen, was einem in die Wiege gelegt wurde, und es zu 100 Prozent zu nutzen und gleichzeitig eine glückliche und emotional stabile Person zu sein.“ Um das zu unterstreichen, verweist er auf einige der Starathleten, zu denen er als Kind aufgeschaut hat, und reflektiert, wie niedergeschlagen viele von ihnen waren und dass sie den Spaß am Radsport, den sie einmal hatten, verloren haben. „Als ich sie kennenlernte, habe ich erkannt, dass einige der erfolgreichsten Athleten der Welt ziemlich traurig und unglücklich sind. Damit habe ich immer zu kämpfen. Als ich 21 oder 22 war und Profi wurde, habe ich mich gefragt: ‚Wie kann ich so gut werden, wie es nur geht, ohne so viel zu opfern, dass ich mit meinem Leben nicht mehr zufrieden bin?’ Ich habe nur einen Versuch und widme meine 20er und vielleicht einen Teil meiner 30er dem, was ich tue“, sagt er. „Ich muss sicherstellen, dass ich für mich persönlich alles da raushole und gleichzeitig nicht zu viele Opfer bringe, um, wenn ich damit aufhöre, immer noch genug Liebe und Unterstützung zu haben, die mich zu dem trägt, was ich dann machen will.“
 
Als der Pressesprecher etwas ungeduldiger auf seine Uhr klopft, kommt Phinney auf die unmittelbareren Ziele auf seinem Weg zurück zu alter Form zu sprechen. „Ich bin ein paar gute Rennen gefahren, aber ich muss mich vor allem noch um meine Therapie und meine Genesung kümmern. Ich bin noch in diesem Prozess. Aufgrund der Schwere der Verletzung – wurde mir gesagt – wird es mindestens zwei Jahre dauern, bis ich wieder die Muskelmasse habe“, sagt der BMC-Fahrer.
Die Aussicht, seine Nation bei einer Weltmeisterschaft im eigenen Land zu vertreten, habe ihn angespornt, wie er sagte, doch er hatte Bedenken, dass es zu früh sei, selbst mit der guten Form, die er in Colorado gezeigt habe. „Es erzeugt ein bisschen zusätzlichen Druck, auf den ich vielleicht verzichten könnte“, sagt er. „Gleichzeitig ist es schön, ein bisschen Druck zu spüren, weil ich in den letzten anderthalb Jahren mein eigenes Ding gemacht und mich regeneriert habe. In solchen Zeiten erkennst du, dass diese Momente, wo du unter Druck stehst, das sind, wofür du lebst.“



Cover Procycling Ausgabe 142

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 142.

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