Erwarten Sie das Unerwartete

Das französische Publikum liebt ihn, seine Kritiker wiederum werfen ihm Angeberei vor. Doch Thomas Voeckler hat seinen eigenen Kopf und lässt sich von keiner der beiden Meinungen beeinflussen. Gegen Ende seiner Karriere spricht er darüber, was ihn weiter antreibt.

 

Thomas Voeckler zu interviewen, stellt sich als leicht befremdliche Erfahrung heraus. Die Unterhaltung läuft flüssig, aber der Franzose stellt selten Blickkontakt her. Manchmal scheint er auf Autopilot zu sein, sogar abwesend. Sobald die letzte Frage beantwortet ist, steht er auf und verschwindet, ohne sich die Zeit zunehmen, noch ein paar Höflichkeitsfloskeln auszutauschen. Man könnte das für Arroganz, ja Grobheit halten, aber es fühlt sich nicht so an, und wenn man sich den Mitschnitt noch einmal anhört, unterstreicht es diesen Eindruck. Voeckler ist eloquent, eigensinnig und interessant. Er ist selbstironisch und witzig. Er ist vollkommen professionell. Aber vor allem scheint er sich in seiner Haut wohlzufühlen und sich nicht darum zu kümmern, was andere von ihm halten. Er weiß, was wichtig für ihn ist, was am besten für ihn funktioniert und wie viel von sich selbst er geben will, sei es auf oder abseits der Straße. Wenn das zu einer Unnahbarkeit führt, die nicht allen gefällt, so wird das den Franzosen nicht stören. Das ist vielleicht auch gut so, denn es gibt wenige Fahrer, die so polarisieren wie der Europcar-Teamkapitän, der zwei Wochen vor dem Start der Tour de France 36 Jahre alt wurde. „Le petit chouchou“ – der kleine Liebling – der Franzosen, die ihn bewundern, hat von einigen Kollegen auch den Spitznamen „Hollywood“ bekommen, weil er sich stets aufspielt, wenn ein Kameraobjektiv auf ihn gerichtet ist. Aber beide Darstellungen beruhen auf der Wahrnehmung eines Thomas Voeckler im Rennmodus.
 
Einen besseren Einblick in den Mann hinter den verrückten, mit verzerrtem Gesicht gefahrenen Attacken gibt uns der Spitzname, den seine Freunde und Teamkollegen verwenden. Für sie ist Voeckler „Franz“, nicht von Assisi, sondern aus Leith, dem Vorort von Edinburgh, in dem die psychopathische Figur Francis Begbie in „Trainspotting“ lebt. Als Danny Boyles Verfilmung von Irvine Welshs Roman in den französischen Kinos lief, neigte der jugendliche Voeckler dazu, sich zu prügeln. Nach eigenen Angaben tat er das freilich nur, um seine Freunde zu beschützen. Aber der Spitzname war geboren und blieb an ihm hängen. Laut Philippe Bouvet, dem leitenden Radsport-Korrespondenten der L’Équipe, der seine Profikarriere seit ihrem Beginn im Jahr 2001 verfolgt hat, war Voeckler nie jemand, der Kompromisse machte, selbst wenn er einige seiner Rennfahrerkollegen damit vor den Kopf stieß. „Er ist nicht gerade der Patron des französischen Pelotons, weil er dort ein bestimmtes Standing hat. Nicht alle mögen ihn“, sagt Bouvet. „Er ist ein bisschen wie Laurent Fignon. Er ist niemand, der sich große Mühe gibt, dass die Leute ihn nett finden. Aber er ist ein großartiger Profi. Er konzentriert sich komplett auf das, was er macht, und gibt alles, wenn er sich ein Ziel setzt.“ Auch wenn diese Beschreibung nicht zu der durchgeknallten Figur passt, die der Schauspieler Robert Carlyle in Boyles Film verkörpert, ist dieselbe erschreckende Intensität sichtbar, wenn Voeckler ein Rennen fährt. Schon als milchgesichtiger Neuling, der sich im internationalen Peloton erstmals einen Namen machte, als er die Hälfte der Tour 2004 im Gelben Trikot verbrachte, zeigte Voeckler viel von Begbies verrücktem Verlangen, sich in einen Kampf zu stürzen, egal, welche Chancen er dabei hat. Als alle damit rechneten, dass er das Trikot im Zentralmassiv verlieren würde, verteidigte es der frisch gebackene Französische Meister bis in die Pyrenäen und übertraf alle Erwartungen, sogar seine eigenen. Er verlor das Trikot schließlich am ersten Tag in den Alpen an Lance Armstrong. Als Voeckler 2011 auf diese beeindruckende Leistung noch eins draufsetzte und nur wegen eines taktischen Fehlers nach zehn Tagen in Gelb das Podium verpasste, war er bereits die Radsport-Galions-figur seines Landes. Diesen Status verdankte er einer Reihe von spektakulären Leistungen – und, wie er sagt, dem Umstand, einer Generation von französischen Fahrern anzugehören, die weniger talentiert ist als die, die ihr vorausging, oder die, die ihr jetzt folgt. Aber obwohl Fahrer wie Thibaut Pinot, Romain Bardet und Arnaud Démare nachgerückt sind, hat Voeckler seinen Status als Bannerträger der Franzosen, als ihr „chouchou“, behalten.
 
Als er sich mit Procycling in seinem Hotel in York zusammensetzt – wenige Stunden, nachdem er seine zweijährige Durststrecke bei der Eröffnungsetappe der Tour de Yorkshire beinahe beendet hätte –, spricht Voeckler gelassen über seine knappe Niederlage gegen Sky-Profi Lars-Petter Nordhaug in Scarborough. „Ich erzähle dir nichts Neues, wenn ich dir sage, dass Sky ein sehr starkes Team hat und dass Nordhaug heute nicht nur der Schnellste, sondern auch der Stärkste war. Auf dem letzten Anstieg ist er 100 Meter Vollgas gefahren, da habe ich gesehen, dass er stärker ist als der Rest von uns.“ Er fügt hinzu: „Ich weiß, wie gut Sky unterwegs ist, wie professionell alle sind, wie stark sie sind, deswegen ist es schwer, sie zu schlagen. Ich werde es versuchen, aber ich will dabei nicht alles verlieren, was ich hier verdient habe.“ Während er über seine Einstellung zu dem neuen dreitägigen Rennen in Großbritannien spricht, bietet er einen Einblick in seine Rennphilosophie. „Was mir im Radsport gefällt, ist anzugreifen und zu gewinnen. Ich war nie der stärkste Fahrer im Peloton. Es hatte für mich nie einen Sinn, mit dem Angreifen zu warten – du musst es einfach drauf anlegen und manchmal funktioniert es und manchmal verschwendest du am Ende einfach nur deine Energie. Nur so kann ich Erfolg haben und nur so macht mir der Radsport Spaß. So fahre ich, seit ich Profi bin, und so war ich auch vorher schon, als ich in den jüngeren Kategorien war.“
 
Dass er Rennen auf eine bestimmte Weise fahren will, ist auch ein Grund, warum er bei der ersten Auflage der Tour de Yorkshire (Kategorie 2.1) angetreten ist statt beim gleichzeitig laufenden WorldTour-Rennen Tour de Romandie. „Ich schaue mir die Roadbooks an. Als ich mich für Yorkshire und gegen die Romandie entschieden habe, war es, weil ich hier im letzten Jahr die Tour de France gefahren bin und wusste, dass die Straßen mir gut liegen.“ Es mag mehr Ranglistenpunkte und Prestige beim prominenter besetzten Rennen in der Schweiz gegeben haben, aber Voeckler betont, dass die Etappen der Tour de Romandie, die auf Sprinter, Kletterer und Zeitfahrer zugeschnitten sind, einem Baroudeur – selbst einem seiner Klasse – nicht viele Siegchancen bieten. Auf die Frage, mit welchen Erwartungen er in das erste ASO-Rennen in Großbritannien gegangen ist, sagt er: „Ich gehe immer mit einer klaren Vorstellung in ein Rennen und das hängt davon ab, in welcher Form ich bin und wie sich meine Beine anfühlen. Wenn du Profi bist, kannst du nicht sagen: Ich trete hier an und mal sehen, was passiert. Du musst darüber nachdenken, was passieren wird. Und selbst wenn ich nur 50 Prozent meiner Bestform habe, versuche ich etwas auszurichten, indem ich der Mannschaft helfe und zu attackieren versuche.“ Aber er gibt zu, dass er sich während seiner Vorbereitung auf Yorkshire nicht das Szenario vorstellen konnte, das sich auf dem Weg nach Scarborough entwickelte. „Ich war überrascht“, gibt er zu, „aber als ich die Straße sah und wie Sky vorne aufs Tempo drückte, sagte ich mir: ‚Du musst gleich hinter ihnen bleiben, weil es eine sehr schmale Straße ist, wo es immer auf und ab geht.‘ Man muss sich an die Straßenverhältnisse anpassen und daran, wie sie sich auf die Strategien der Teams auswirken.“
 
Er nennt noch ein weiteres Motiv, warum er ein britisches Rennen einer niedrigeren Kategorie der Romandie vorgezogen hat. „Dass die Fahrer im Feld heutzutage auf das reagieren müssen, was um sie herum auf der Straße passiert, ist der Grund, warum ich immer gegen Funk war. Ich denke, vom Funkverkehr profitieren nur die großen Teams, die die besten Fahrer haben und deren Mannschaftskollegen die Kapitäne anderer Teams sein könnten. So können sie die Rennen noch mehr kontrollieren. Für mich wäre die beste Lösung ein einseitiger Funkverkehr von Radio Tour, um den Fahrern zu sagen: ‚Seid vorsichtig, da steht ein Auto; da kommt eine gefährliche Straße.‘ Ich glaube, die Rennen wären interessanter, wenn das der Fall wäre“, sagt er. Die Aussicht, Rennen auf diese Weise fahren zu können, ist etwas, was Voeckler nach 15 Jahren als Profi immer noch motiviert. Bouvet sieht Voecklers Taktik genau so wie der Fahrer selbst: „Wenn Thomas Voeckler an einem Rennen teilnimmt, ist er da, um ein Rennen zu fahren, er geht nie an den Start, um einfach mitzurollen“, erklärt Bouvet. „Er will von Februar bis Oktober in Aktion sein. Als er hierher kam, um die Tour de Yorkshire zu fahren, dann mit dem Ziel, etwas zu gewinnen. Und auch wenn er erkennt, dass es schwer werden wird, weil Nordhaug in den Anstiegen so stark ist, gibt er deswegen nicht klein bei. Generell glaube ich, dass wir den besten Voeckler schon gesehen haben, dass er vor ein paar Jahren in seinem Zenit war. Aber er kann immer noch einige gute Ergebnisse holen, indem er bei seinem üblichen Stil bleibt.“
 
Da Voeckler jetzt 36 ist und der Sponsorenvertrag mit Europcar Ende des Jahres ausläuft, wird die Frage, wie lange der Franzose noch weitermacht, natürlich häufig gestellt. „Ich hoffe, dass Jean-René einen neuen Sponsor findet, denn ich würde gern noch ein Jahr beim Team bleiben“, sagt er über seinen Chef Bernaudeau. „Dann muss ich weitersehen, denn ich glaube nicht, dass ich mit 40 noch auf dem Rad sitzen werde.“ Nachdem er seine gesamte Laufbahn bei den verschiedenen Ausgaben von Bernaudeaus Mannschaften verbracht hat – vom Vendée-U-Farmteam über Bonjour, Brioches La Boulan-gère, Bouygues Télécom bis hin zu Europcar –, kann sich Voeckler vorstellen, zu einem anderen Team zu wechseln, vielleicht sogar zu einem ausländischen, vorausgesetzt, er kann so weitermachen wie bisher. Neue Tricks lernen will er in seinem Alter nicht mehr. „Ich liebe meinen Job immer noch. Das Schwierigste für mich ist, so weit von meiner Familie entfernt zu sein, und das Training kann nach 15 Jahren als Profi auch ein bisschen langweilig sein. Ich fahre lieber Rennen als zu trainieren, weswegen ich wohl der Fahrer bin, der im Moment die meisten Renntage hinter sich hat. So arbeite ich lieber. Ich wäre nicht fähig, lange weg zu sein auf Trainingslagern, weil das für mein seelisches Wohlbefinden überhaupt nicht gut ist. Aber wenn ich ein Rennen fahre, bin ich immer motiviert, egal, ob hier in Yorkshire oder beim Tro-Bro Léon in Frankreich, egal, ob es ein großes oder kleines Rennen ist. Für mich gibt es keine kleinen Rennen. Ich bin immer motiviert. Der Tag, an dem ich keine Motivation habe, wird der Tag sein, an dem ich ,stopp‘ sage“, erklärt er.

 

Auch wenn Voeckler nicht unbedingt ins Teammanagement wechseln will – zu wertvoll ist ihm die Zeit mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern –, glaubt Bouvet, dass er der ideale Kandidat dafür wäre. „Er hat sich sehr geändert, seit er 2004 im Gelben Trikot war. Er kann sich viel besser durchsetzen. In gewissem Maße hat er schon das Format eines Teamchefs. Ich glaube, jemand wie er könnte ein Team leiten“, ist der Journalist der L’Équipe überzeugt. Bouvet glaubt, dass Voeckler nicht nur davon profitiert, in Frankreich und im französischen Peloton beliebt zu sein, sondern auch von der Art und Weise, wie er sich diesen privilegierten Status erarbeitet hat. „Natürlich liegt das daran, dass er das Gelbe Trikot getragen hat, aber auch an der Art und Weise, wie er es behalten hat. Er hat alles aus sich herausgeholt, um es zu verteidigen. Was ich an Voeckler super finde, ist, dass er sein Schicksal selbst in die Hand nimmt. Er zieht Sachen ab, die manchmal fast unmöglich scheinen, ein bisschen wie Jacky Durand früher. Und diese Coups zu versuchen, hat ihn befähigt, größere Coups zu landen. Als er das Gelbe Trikot 2011 in Saint-Flour zum zweiten Mal holte, war er nicht mit diesem Ziel im Hinterkopf angetreten. Er wollte das Bergtrikot holen. Er eröffnet sich Chancen im Leben und weiß genau, wie man sie am besten ergreift.“ Nicht nur wegen seiner Beliebtheit ist er attraktiv für Sponsoren, glaubt Bouvet, sondern auch wegen der Loyalität, die er Bernaudeau bewiesen hat. „Er hat Angebote anderer Teams abgelehnt und Jean-René die Treue gehalten, als der einen neuen Sponsor suchte“, betont Bouvet. „Er wusste genau, wie er sich Geltung verschafft. Seit seinem zweiten Gelben Trikot – und während Bernaudeau auf Sponsorensuche war – hat er eine Aura entwickelt und wurde zu einer wirklich guten Galionsfigur für Sponsoren.“
 
Voeckler will sich zu seinen langfristigen Plänen nicht äußern, verfolgt aber die Auftritte seiner Profikollegen sehr genau, insbesondere die seiner jungen Landsleute, die im Moment für Furore sorgen. In einem Interview mit der französischen Zeitung Vélo im Frühjahr gefragt, welches der jungen französischen Talente ihm am ähnlichsten sei, nannte er den Etixx – Quick-Step-Fahrer Julian Alaphilippe. „Wie er an die Rennen herangeht, erinnert mich an mich. Ich habe der Vélo gesagt: Wenn ich Manager wäre, würde ich versuchen, ihn in mein Team zu holen, und letzte Woche hat er gezeigt, dass ich recht hatte“, sagt er über den jungen Franzosen wenige Tage nach dessen zweiten Plätzen beim Flèche Wallonne und Lüttich – Bastogne – Lüttich. „Zehn Jahre lang hatte es der französische Radsport schwer. Es wurde immer auf Doping zurückgeführt, aber ich habe immer gesagt, dass die mangelnden Ergebnisse französischer Fahrer nicht nur daran liegen. Wir haben jetzt eine Generation, die großartige Ergebnisse holt, aber man kann sich nicht darauf verlassen, immer einen so konstanten Nachwuchs an Fahrern zu haben. Überleg’ mal, wie lange es her ist, dass ein Belgier die Tour gewonnen hat. Ich glaube, ich habe recht behalten, denn in den letzten zwei oder drei Jahren war die neue Generation französischer Fahrer besser als meine Generation. Obwohl es dem Radsport jetzt besser geht, muss man auch sagen, dass die neue Generation viel stärker ist als meine.“
 
Im gleichen Artikel hatte der frühere Klassiker-Star Nick Nuyens Voeckler als einen der schlauesten Fahrer bezeichnet, gegen die er je angetreten war – neben Luca Paolini, Jelle Vanendert und Lars Boom –, und sagte über den Franzosen: „Er spielt gerne mit den anderen Fahrern, blufft und attackiert in Augenblicken, wo man am wenigsten damit rechnet. Er ist unberechenbar und ein formidabler Gegner.“ Teilt Voeckler die Meinung des Belgiers? „Es ist nicht perfekt, aber wie ich schon sagte: Ich muss die Talente nutzen, die ich habe. Beim diesjährigen Paris – Nizza wusste ich, dass ich nicht die Beine hatte, um gegen Ende des Rennens in den Bergen etwas auszurichten, also habe ich an den Tagen davor etwas probiert. Ich habe versucht, mit dem Peloton zu spielen, und am ersten Tag hätten wir [Voeckler und Anthony Delaplace] uns fast ins Ziel gerettet. Es wird immer schwerer, etwas Überraschendes zu machen, weil die Leute immer wissen, was kommt, aber wenn es funktioniert, ist es umso schöner.“ Bouvet schätzt den französischen Publikumsliebling höher ein: „Es hieß anfangs, seine Fähigkeiten seien begrenzt, aber mittlerweile haben wir erkannt, dass das nur zur Hälfte stimmt. Er hat große Rennen gewonnen, weil er mental so stark ist. Bernaudeau sagt immer, wenn er einen Fahrer mit dem Talent von Chavanel und dem Charakter von Voeckler hätte, hätte er einen Superchampion. Voeckler ist wirklich bemerkenswert und ziemlich einzigartig.“



Cover Procycling Ausgabe 138

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 138.

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