Das Doppel-Double

Während Alberto Contador Anlauf auf das Giro-d’Italia/Tour-de-France-Double nimmt, fragt Procycling den einzigen Fahrer, der das Bravourstück zweimal hintereinander schaffte, Miguel Indurain, ob sein junger Landsmann Erfolg haben kann. Der sonst so zurückhaltende Spanier hat überraschend viel zu dem Thema zu sagen.

 

Alberto Contador hat den einzigen spanischen Giro-Tour-Doppelsieger, Miguel Indurain, nie „live“ in Italien fahren sehen, als dieser 1992 und 1993 sensationell die Italien- und die Frankreich-Rundfahrt gewann, bevor er 1994 eine schmerzhafte Niederlage kassierte. „Das erste Jahr, wo mich Radsport im Fernsehen interessierte, war 1995, und ich glaube nicht, dass sie den Giro in dem Jahr gezeigt haben“, erinnert sich Contador im Gespräch mit Procycling. Er hat recht: Das spanische Fernsehen übertrug den Giro d’Italia nach Indurains Niederlage gegen Jewgeni Berzin und Marco Pantani 1994 und der Nichtteilnahme des Spaniers im folgenden Jahr nicht mehr. „Aber ich habe mir diese Giros später angesehen, als mein Bruder mir die Videos gebracht hat“, fährt er fort. „Und von 1998 oder 1999 an habe ich es mir im Internet angeschaut.“
 
Contador ist zu jung, um sich zu erinnern, welche Wirkung Indurains Siege beim Giro d’Italia hatten. Er war der erste Spanier, der den Giro gewann, und mit seinen zwei Erfolgen dort in den Jahren 1992 und 1993 ist Indurain der einzige Fahrer, der je ein „Doppel-Double“ aus Giro- und Tour-Siegen in zwei aufeinanderfolgenden Jahren perfekt gemacht hat. 1992 war das abschließende Zeitfahren des Giro – eine 66 Kilometer lange Prüfung am letzten Tag – ein großes Zugeständnis der Organisatoren an Indurain. Doch schon lange vorher hatte Indurain das Rosa Trikot übernommen und lag voll auf Kurs. Viel besser gegen die Uhr als seine Hauptrivalen – Claudio Chiappucci und der 1991er-Sieger Franco Chioccioli, ganz zu schweigen von den Außenseitern Andy Hampsten und Laurent Fignon –, legte Indurain den Grundstein für seinen zweiten „Grand Tour“-Erfolg mit einem Sieg beim 38-km-Zeitfahren auf der 4. Etappe. Dann verteidigte er das Spitzenreitertrikot für den Rest des Rennens. 18 Tage später war das Spiel vorbei.
 
Okay, ganz so einfach war es nicht, aber fast. Die großen Bergetappen wie die Berg-ankünfte am Terminillo auf der 10. Etappe oder die beiden Tage in den Dolomiten am Ende der zweiten Woche konnten Indurain nicht in die Knie zwingen. Auch das übliche Trio von Bergetappen in der letzten Woche des Rennens – nach Pian del Re, Pila und Verbania – konnte seinen Vorsprung nicht schmälern. „Sie greifen mich immer weniger an“, sagte der Toursieger auf seiner gewohnt kurzen Pressekonferenz nach der 18. Etappe. Als das finale 66-km-Monsterzeitfahren nach Mailand anstand, war der Bauernsohn bereits klar auf dem Weg zum Gesamtsieg. Indurains Sieg mit fünf Minuten und zwölf Sekunden Vorsprung auf seinen Rivalen Claudio Chiappucci – den er im letzten Zeitfahren überholte, obwohl dieser drei Minuten vor ihm gestartet war – steigerte die Erwartungen in Spanien, dass Indurain auch die Tour gewinnen könnte, enorm. Doch auch damit hatte er keine Probleme und gewann seine zweite Tour de France in Serie noch überzeugender als seine erste.
 
Der Sieg beim Giro 1993 war komplizierter. Es ging damit los, dass Indurain wegen eines Sturms in den Alpen steckenblieb, bevor das Rennen begonnen hatte, und endete mit einer Kontroverse, wenn auch nicht speziell für Indurain, sondern für sein Team. Es hieß, Festina habe bei dem Rennen verdächtig eng mit Banesto zusammengearbeitet. Die Vorwürfe führten zu einem großen Stühlerücken im Management des Festina-Teams, wobei Bruno Roussel, dem später vorgeworfen wurde, bei der Tour 1998 Doping in der Mannschaft organisiert zu haben, als Teamchef übernahm. Doch das sollte erst noch kommen. Indurains größte Sorge unmittelbar vor dem Rennen war einfach, dorthin zu kommen. Nach dem Eintagesrennen Giro dell’Appennino setzte er sich in einen Hubschrauber, um das potenziell entscheidende, 55 Kilometer lange Bergzeitfahren nach Sestriere in der dritten Woche in Augenschein zu nehmen. Sestriere war 1992 Schauplatz einer Langstreckenattacke auf Indurain durch Chiappucci bei der Tour gewesen. Jetzt verursachte es ihm Probleme anderer Art, da ein heftiger Sturm in den Alpen einen Flug zum Giro-Start auf Elba unmöglich machte.
 
Schließlich schaffte Indurain es mit einem recht unglamourösen Verkehrsmittel nach Elba: Er fuhr im Banesto-Team-Lkw mit, der mit zwei Mechanikern aus Spanien kam, und erreichte Elba mit der Fähre nur einen Tag vor Beginn des Rennens. „Ich dachte fast, wir schaffen es nicht“, bemerkte er. Weitere Probleme sollten folgen. Durch die deutlich reduzierten Zeitfahrkilometer beim Giro fuhr Indurain erst ins Rosa Trikot, nachdem er die sehr hügelige Prüfung zur Halbzeit – 28 statt 60 Kilometer – in der Adria-Stadt Senigallia gewonnen hatte. Einen Tag später verlor er das Leibchen an Bruno Leali. Ähnlich wie bei der Tour de France 1991, wo er auf einer Pyrenäen-Etappe, nicht bei einem Zeitfahren, das Gelbe Trikot geholt hatte, war Indurains Taktik, seine Rivalen in den Anstiegen zu zermürben, um sie dann im abschließenden Zeitfahren endgültig abzuservieren. Auf der 14. Etappe nach Corvara, einer extrem schweren, 245 Kilometer langen Berg-etappe mit fünf klassifizierten Anstiegen, übernahm der Spanier die Führung erneut. Er schredderte das Feld an der Marmolata und entledigte sich aller Rivalen bis auf drei oder vier. Als Chiappucci dann attackierte, folgte er ihm bis ins Ziel. „Il diavolo“ gewann die Etappe, Indurain jedoch war wieder Spitzenreiter.
 
Obwohl Indurain seinen Vorsprung beim Zeitfahren nach Sestriere weiter ausbaute, wo er das Feld pflichtgemäß deklassierte und einen beeindruckenden Etappensieg feierte, sollten noch einige Feuerwerke folgen. Der Litauer Pjotr Ugrumow forderte Indurain im Anstieg nach Oropa auf der 20. Etappe heraus. Eine Attacke nach der anderen durch Ugrumow, gepaart mit einigen Vorstößen durch Stephen Roche und Claudio Chiappucci, sorgten dafür, dass der Träger des Rosa Trikots schließlich die Beine hochnahm und Ugrumow fahren ließ. Banesto-Direktor José Miguel Echavarri schien viel nervöser zu sein als der stets gleichmütige Indurain, überholte den Rest des Rennkonvois in halsbrecherischer Manier und schrie seinen Schützling an: „Ganz ruhig bleiben, Miguel, du kannst höchstens 30 Sekunden verlieren.“ Wie sich herausstellte, verlor Indurain 36, aber der Abstand in der Endabrechnung zwischen ihm und Ugrumow von 58 Sekunden zeigte, wie knapp es schließlich war. Echavarri bekam wegen seines gefährlichen Überholmanövers eine Strafe von 24.500 Peseten aufgebrummt (heute rund 360 Euro), aber das kümmerte ihn nicht angesichts der Tatsache, dass Indurain so kurz vor dem Sieg stand und es bald etwas zu feiern gab. Wie Echavarri sagte: „Das macht nichts. Bald gebe ich mehr Geld für Champagner aus.“ Er hatte recht und er hatte noch mehr Grund zum Jubeln, als Indurain im Juli seine dritte Tour in Folge gewann.
 
Kann Contador also in Indurains Reifenspuren fahren und das Giro-Tour-Double schaffen? „Das hängt von seiner Form ab und ich weiß nichts darüber oder über sein Team“, sagt Indurain, vorsichtig wie immer, zu Procycling. „Er wird mehr darüber wissen als ich. Ein Faktor, der für Contador spricht, ist sein Alter. Wenn du älter wirst, wird deine Form beständiger und hält länger. Das ist definitiv ein Plus bei großen Rundfahrten.“ Erfahrung ist laut Indurain eher als Frische der Schlüssel zum Erfolg bei einer doppelten „Grand Tour“-Offensive. „Das Giro-Tour-Double ist definitiv machbar, aber du musst die richtige Mentalität haben und wissen, wie du deine Energie verbrauchst und wann. Du kannst zum Beispiel nicht einfach rasant in die Saison starten; du musst es etwas langsamer angehen lassen und dich deiner Bestform nähern, wenn du dich dem Start des Giro näherst.“ Indurain selbst wusste „schon zu Beginn jedes Jahres, dass ich das Double anstreben würde, aber der Giro war nie mein Hauptziel. Es ging alles um die Tour. Ein guter Giro war eine Zugabe.“

 

Jedenfalls hatte der Giro damals, erinnert sich Indurain, eine ganz andere Atmosphäre als heute. „Es war viel hausbackener, viel mehr die eigene Landesrundfahrt der Italiener, wo Ausländer kein großes Gewicht hatten und keinen großen Einfluss auf das Rennen nahmen. Heute ist das Feld ganz anders zusammengesetzt, es ist viel internationaler und eher wie die Tour de France. Ich weiß nicht, ob das an der ProTour [sic] liegt, vielleicht, aber es hat sich auf jeden Fall geändert.“ Damals sei es so weit gekommen, sagt Indurain, dass der italienische Einfluss auf den Giro d’Italia so groß war, dass „wir bei Banesto unseren Rennstil ihrem anpassen mussten, nicht umgekehrt“. Was die langfristigen physischen Auswirkungen eines Giro-Tour-Doppels angeht – und das sollte Contador zur Kenntnis nehmen –, sagt er: „Sie machen sich nicht nur ein paar Monate, sondern auch noch in der nächsten Saison voll bemerkbar. Ich war 1993 immer noch erschöpft, als ich den Giro fuhr, und deshalb war der Giro viel schwerer, weil ich mich 1992 bei dem Double so verausgabt hatte.“
 
Indurains Rat für Contador, wie er die Zeit zwischen dem Giro und der Tour angehen soll, ist, dass es keinen einfachen Rat gibt. „Was für einen Fahrer gut ist, ist für den anderen Unsinn; was ein Fahrer mag, taugt für den nächsten überhaupt nichts  und so weiter und so fort. Du musst das von Fall zu Fall sehen. Ein weiterer Faktor ist, ob der schwerste Teil der Tour früher oder später im Rennen kommt, denn das wirkt sich darauf aus, wie du sie jeweils in Angriff nimmst. Es gibt also viele verschiedene Faktoren, die beeinflussen, was du machst. Allgemeine Ratschläge funktionieren nicht. Ich kann nur sagen: Ein Giro-Tour-Double ist sehr schwer.“



Cover Procycling Ausgabe 135

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 135.

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