Fahrer des Jahres

Alle rechneten bei der Tour mit einem Duell zwischen Chris Froome und Alberto Contador, aber es war Vincenzo Nibali, der vier Etappen gewann, das Rennen dominierte und in den drei Wochen keinen Fehler machte. Während den Favoriten ihre Steuerkünste zum Verhängnis wurden, geriet das Rennen zur Weihe des wohl vollendetsten Rundfahrers seiner Generation, der sich einem erlesenen Kreis von Champions anschloss: dem Club der sechs Fahrer, die alle drei großen
Landesrundfahrten gewonnen haben. Dabei war Nibalis Start ins Jahr 2014 nicht sehr verheißungsvoll gewesen: „Ich hatte einen lausigen Winter und Frühling und bin als Tour-de-France-Sieger daraus hervorgegangen.“ Procycling spricht mit einem maillot jaune, das seinesgleichen sucht.

 

Am 6. Juni 2014, zwei Tage vor der Dauphiné, brachte die Gazzetta dello Sport einen ungewöhnlichen Artikel, in dem es hieß, dass Vincenzo Nibali, Sieger des Giro 2013 und der Vuelta 2010, Ende April einen Brief von seinen Arbeitgebern bekommen hatte. Offenbar von Astana-Boss Alexander Winokurow unterschrieben, war in dem Brief von „scarso rendimento“ die Rede – „mangelnder Leistung“. Dass Nibali bei Paris – Nizza keine Rolle spielte und bei Flandern und Lüttich hinterherfuhr, kam nicht ganz überraschend – er war gerade zum ersten Mal Vater geworden. Der Bericht der Gazzetta wurde von der internationalen Radsportpresse aufgegriffen, die spekulierte, dass es bei Astana drunter und drüber gehe; dass Nibali demotiviert sei; dass die Kombination aus italienischem Management und kasachischem Geld nicht funktioniere. Unterdessen schienen Chris Froome und Alberto Contador, Sieger der Tour de Romandie beziehungsweise der Baskenland-Rundfahrt, auf dem richtigen Weg zu sein. Während sich die beiden auf der ersten Straßenetappe der Dauphiné am Col du Béal ein Kopf-an-Kopf-Rennen lieferten, bummelte Nibali weiter hinten herum. Es schien, als hätte er es so spektakulär vermasselt, dass Contador und Froome bei der Tour de France in ihrer eigenen Liga sein würden.

Am Ende der Dauphiné, nachdem er eine Woche hinterhergefahren war, überwand sich Nibali auf der letzten Etappe zu einer Attacke – erfolglos, wie sich herausstellte. Als Andrew Talansky ins Gelbe Trikot schlüpfte und Froome auf dem Weg nach Courchevel dramatisch einbrach, hatte Nibali so etwas Ähnliches wie Form gefunden. Er war nicht großartig, aber er war auch nicht der Passivposten, den wir erwartet hatten. Außerdem weiß jeder, dass die Dauphiné ein Sitzkrieg ist.
Procycling ist in der Toskana und trifft den souveränsten Tour-de-France-Sieger der letzten zehn Jahre. Der Mann mit den „mangelnden Resultaten“ hat sich dem Club jener sechs Fahrer angeschlossen, die sich mit Vuelta, Giro und Tour die Dreifach-Krone des Radsports aufsetzen konnten. Die anderen sind Jacques Anquetil, Felice Gimondi, Eddy Merckx, Bernard Hinault und Alberto Contador, der das Triple 2008 komplettierte. So viel zu scarso rendimento.
„Das Ding mit dem Brief war einfach klassischer italienischer Radsportjournalismus“, sagt er uns. „Ich habe tatsächlich einen Brief von Astana bekommen, aber was in dem Artikel nicht erwähnt wurde, war, dass alle anderen im Team auch einen bekommen haben. Die Kasachen finden, dass sie viel Geld in das Team investieren, und ob es uns gefällt oder nicht, legen sie großen Wert auf WorldTour-Punkte.“

Nibali gibt offen zu, dass sein Winter aus einer Reihe von Gründen alles andere als ideal verlief. Nachdem er 2013 beim Giro und der Vuelta alles aus sich herausgeholt hatte, musste er bei der Weltmeisterschaft die italienische Fahne hochhalten. Nach seinem vierten Platz – trotz eines schweren Sturzes auf der vorletzten Runde – war er völlig ausgepowert. Während er und seine Frau Rachele sich auf die Geburt ihrer Tochter Emma vorbereiteten, zauderte er.
„Es war der kumulative Effekt und ich hatte unterschätzt, wie sich der Giro-Sieg auf mich auswirken würde. Das Rennen forderte seinen Tribut, dazu kamen zeitraubende Verpflichtungen danach. Ein italienischer Giro-Sieger ist so eine große Sache, und dann kommt Emma zur Welt. Das eine oder andere war immer los, sodass ich nicht zur Ruhe gekommen bin. Bei der Tour de Romandie war ich total erschöpft und überhaupt nicht gut drauf.“ Einen Tag nach der Tour de Romandie traf er die größte Entscheidung in seiner Radsportkarriere. „Ich war in einer Abwärtsspirale, die ich unterbrechen musste. Mein Körper war müde und ich war mental erschöpft. Ich sagte meinem Trainer Paolo Slongo, dass ich eine richtige Pause machen wollte. Das wusste damals niemand – ich habe es bisher niemandem erzählt –, aber ich habe mein Rennrad zwölf Tage nicht angerührt. Wir sind eine Woche zu meinen Eltern nach Sizilien gefahren. Ich habe gut geschlafen und gut gegessen, was wichtig war, und wir haben einfach die gemeinsame Zeit genossen. Ich habe mich komplett aus dem Radsport ausgeklinkt, und im Nachhinein war das ziemlich mutig. Und doch bin ich stolz, dass ich das gemacht habe, denn sonst hätte ich die Tour auf keinen Fall gewonnen.“

Es ist ein bemerkenswertes Eingeständnis und möglicherweise etwas Einmaliges: Dass sich ein Tour-Favorit im Mai zwei Wochen freinimmt, ist unorthodox, fast ketzerisch. Dass er das Rennen anschließend dominierte, sagt viel über sein Köpfchen als Rennfahrer. Nibali mag als bescheiden und zurückhaltend gelten (oder tranquilo, wie er sagen würde), doch das heißt nicht, dass er nicht intensiv und strategisch über den Sport nachdenkt, den er liebt. Er weiß genau, dass – was den Radsport angeht – weniger ausnahmslos mehr ist. „Auf einen Tour-de-France-Sieg arbeitest du jahrelang hin. Du reifst körperlich, aber du musst auch mit deinen Ressourcen haushalten. Die Vuelta im letzten Jahr, als ich Chris Horner unterlag, war ein Beispiel. Ich bin ohne großen Druck ins Rennen gegangen und war nicht annähernd in der Form, die ich beim Giro hatte. Weil ich körperlich nicht in Bestform war, musste ich mit dem Kopf arbeiten. Ich habe nicht gewonnen, aber ich habe viel darüber gelernt, was man mit den vorhandenen Mitteln erreichen kann.“

Nach der Pause fing er wieder an. Aus einer Stunde im Flachen wurden zwei, dann drei auf der Zeitfahrmaschine und so weiter. Die Auszeit war ein Geniestreich gewesen, und darin liegt das Paradox des scarso rendimento. Froome und Contador hatten bei der Tour de Romandie und Tirreno Punkte gesammelt – als Mittel zum Zweck, den am Ende keiner von beiden erreichte. Doch dass Nibali im Frühjahr keine Zähler für Astana einfuhr, ist bereits vergessen.
„Du lernst auf die Signale zu reagieren, die dein Körper dir sendet. Es ist mir egal, was die Leute über meine Form schreiben, weil ich der Einzige bin, der das beurteilen kann. Ob ich bei der Dauphiné Fünfter oder 15. wurde, war nebensächlich für mich. Es ist nett, hier und dort und überall zu gewinnen, aber mein Ziel war die Tour. Ich wusste nach der Dauphiné, dass meine Form solide war, und dass ich die italienische Meisterschaft in der Woche vor Leeds gewann, war der Beweis. Die Leute schrieben mich ab, aber ich wusste, dass ich bereit war.“

Es wird oft betont, dass Contador und Froome bei der Tour 2014 auf der Strecke blieben. Natürlich werden wir nie wissen, was gewesen wäre, dennoch ist Oleg Tinkows Behauptung, dass Contador gewonnen hätte, wenn er nicht gestürzt wäre,  etwas arg vollmundig. Als er in Sheffield gewann und wie auf Kufen über das Kopfsteinpflaster glitt, hatte Nibali bereits gezeigt, dass er der Beste im Rennen war. Contador hätte Nibali vielleicht gefährlich werden können, wenn er auf dem Platzerwasel nicht gestürzt wäre, aber wahrscheinlicher ist, dass Nibali so oder so gewonnen hätte. Vielleicht nicht mit den 7:37 Minuten Vorsprung, die er auf den Zweitplatzierten Jean-Christophe Péraud hatte, aber trotzdem mit einem ausreichenden Polster. Da die Tour ebenso mit dem Kopf wie mit den Beinen gewonnen wird – wie wichtig war Sheffield psychologisch? „Mit der Zeit lernst du, das nicht mehr so sehr zu analysieren. Was mich angeht, war es ein guter Tag für mich und das Team, weil unser Mannschaftswagen an der Spitze fahren durfte. Ich hatte keine Ahnung, was uns in England erwartete, und nicht mit einer solchen Menge von Menschen gerechnet. Es war bestimmt schön, aber ich habe mich einfach 100-prozentig auf die Gefahr konzentriert, die von so vielen Zuschauern am Straßenrand ausgeht. Bevor Froome im Finale attackierte, war ich nur damit beschäftigt, mir meinen Weg zu bahnen.“

Und was war mit dem Pavé? Sieht er das rückblickend als Schlüssel zum Rennen? „Es war klar, dass das eine wichtige Etappe wird, deswegen haben wir uns intensiv darauf vorbereitet. Beim Fahren über Kopfsteinpflaster geht es um die richtige Mentalität, du musst auf jedes kleine Detail achten. Dazu zählt das Set-up der Rennmaschine – ich habe eine längere Gabel als andere – und du musst wissen, wie du dein Gewicht richtig verteilst und deine Energie einsetzt, all diese kleinen technischen Dinge. Dann kann dich die Aussicht auf das Pavé auch nicht schrecken. Ich war sicher, dass ich gut fahren würde. Ich glaube, dass das die halbe Miete war.“ Froomes Tour war ohnehin schon vor dem Kopfsteinpflaster beendet. Contador lieferte an dem Tag einen beherzten Ritt ab, verlor aber trotzdem über 2:30 Minuten und der Kontrast war verblüffend. Während Nibali über das Pavé schnurrte – und, nicht zu vergessen, Fabian Cancellara und Peter Sagan 40 Sekunden abnahm –, war Contador ganz der spanische Rundfahrer, der sich damit abgefunden hatte, auf dem Weg nach Roubaix einen fürchterlichen Tag zu haben. „Was die Radbeherrschung angeht, war es eine enorme Herausforderung, also dachte ich, dass es am besten ist, alles zu geben. Ich habe mich darauf konzentriert, schnell zu fahren, weil ich so die besten Chancen hatte, Stürze zu vermeiden und im Sattel zu bleiben. Der Trick, wenn es einen gibt, sind ein dicker Gang und lockere Hände. Ich habe versucht, mich so weit wie möglich zu entspannen und das Rad so viel wie möglich von den Stößen absorbieren zu lassen.“

 

Sehr wenige Toursieger setzen sich in den Vogesen, den Alpen und den Pyrenäen durch, aber es sind auch nur wenige so klar überlegen. Wir fragen, wann Nibali angefangen hat, seine Fahrt im Gelben Trikot zu genießen? War es in Hautacam, wo er nach Belieben zu gewinnen schien? „In Hautacam fühlte ich mich gut. Das war eine Etappe, die ich gewinnen wollte. Andererseits hast du so viele Variablen, etwa die Ausreißer, und als Spitzenreiter hatte ich keinen großen Einfluss darauf, ob sie eingeholt werden. Selbst wenn du 100 Prozent in Form bist, kannst du nicht sicher sein, dass du so eine Etappe gewinnst. Deswegen habe ich mich gefreut, die Etappe zu gewinnen, aber ich habe nicht gedacht, dass ich die Tour schon gewonnen hätte.“ Außerdem, sagt uns Nibali, gehören Wörter wie „Genuss“ nicht in sein Rundfahrten-Vokabular. „Das kommt nicht vor. Als Kapitän hast du so viel zu verlieren und so viel, worauf du dich konzentrieren musst. Du denkst daran, wie du deine Teamkollegen optimal einsetzt, wie du sie zufriedenstellst, wie du sie vor unnötiger Arbeit bewahrst. Du denkst an Essen, Positionierung, was deine Rivalen denken könnten und wie du so viel Energie sparst wie möglich. Du bist 100 Prozent der Zeit konzentriert, und das hinzukriegen, ist eigentlich viel schwerer als die körperlichen Anforderungen. Wenn du das Gelbe Trikot trägst, hast du sehr viel zu verlieren; dein Instinkt ist, ein Häkchen hinter die Tage zu setzen. Mit jedem Tag kommst du dem Ziel näher und die Risiken nehmen exponentiell ab. Aber das Letzte, woran du denken solltest, ist Paris, weil du dann schon mit den Gedanken woanders bist. Wenn du das tust, wünschst du dir das alles weg, und dann kannst du dich vergessen. Ein Moment der Unaufmerksamkeit kann dich das ganze Rennen kosten. Ich will dir ein Beispiel nennen: Auf der Etappe nach Paris, als scheinbar schon alles in Butter war, plauderte ich mit Matteo Trentin. Ich konzentrierte mich nicht auf das, was ich tat, und fuhr gegen ein Katzenauge auf der Fahrbahn. Wahrscheinlich hat es niemand gesehen, aber einen Moment hatte ich keine Kontrolle über mein Rad. Das war dumm von mir und ich habe mich über mich selbst geärgert, weil es mich und mein Team die Tour hätte kosten können.“

Der Trick, sagt er uns, sei, das Chaos der Tour auszublenden. Abgesehen von den Etappen selbst waren Nibalis drei Wochen vollkommen systematisch. Er wusste, dass er jeden Vormittag ein kurzes Interview mit Alessandra De Stefano machen musste, der rasenden Reporterin von RAI. Dann fuhr er jede Etappe, trat bei den diversen Siegerehrungen auf und gab die obligatorischen Fernseh-Interviews. Dann wurde er schleunigst im Mannschaftswagen wegkutschiert und kam oft zur selben Zeit ins Mannschaftshotel wie die gregari. Der einzige wirkliche Unterschied war, dass seine Teamkollegen alle im Bus duschten, während er das sofort nach der Ankunft im Hotel tat. Danach gab es keine Interviews mehr (vor oder nach der Massage) und so wenig Stress wie möglich. Wenn das nach banaler Routine klingt, ist das genau der Punkt. „Damit es funktioniert, musst du die Variablen ausschalten und jeden Abend den Kopf freikriegen. Du versuchst, alles zu ordnen und extrem strukturiert vorzugehen. Ich habe Glück, weil ich das sowieso gut kann, und je mehr große Rundfahrten du bestreitest, umso besser kannst du mit deinen Reaktionen umgehen. Die Ruhetage sind viel anstrengender, weil sie dich aus dem Rhythmus bringen.“

Wie sieht er seinen Erfolg rückblickend? Ist sein Platz im italienischen Radsport-Pantheon wichtig für ihn? Hatte er überhaupt Zeit, das zu analysieren? „Ich habe mir von dem Rennen noch gar nichts angeschaut. Ich würde gerne, aber es war immer dies und das los und es blieb keine Zeit.“ Zu „dies und das“ zählen auch zeitraubende Termine zu Hause und in Kasachstan. Apropos – wir schneiden das heikle Thema der maglia tricolore an. Traditionell schmückt das Leibchen nichts weiter als eine italienische Flagge, um 90 Grad gedreht. Aber Nibali trägt ein türkisfarbenes Astana-Trikot mit einer horizontalen Trikolore, die auf der Brust unter dem Logo des Sponsors sitzt. Das Netto-Resultat ist ein hellblaues Trikot mit ungarischer Fahne, was in seiner Heimat für Empörung sorgte. „Erstens einmal war der italienische Verband damit einverstanden und zweitens wurde das mit Rücksicht auf die Sponsoren so gestaltet. Ob es mir gefällt oder nicht, ist nebensächlich, denn ohne die Sponsoren gibt es kein Team und letztlich keinen Radsport.“ Natürlich ist es nur ein Trikot, aber wir erwähnen es hier, weil es symptomatisch für seine Persönlichkeit ist. Die Kehrseite des Arguments ist, dass er Vincenzo Nibali, der Tour-de-France-Champion ist. Dass er das – an sich unverfängliche – Trikot akzeptiert, sagt viel über ihn. Er nimmt es hin (wie das überpolitisierte Management von Astana), weil er eigentlich ein sehr netter Mensch ist – und ein sehr bescheidener. Ohne ihn würde das Astana-Radsportteam neun Zehntel seines Werts verlieren, also wäre es nicht vermessen von ihm, eine „richtige“ maglia tricolore zu verlangen. Dass er – und nur er – nicht darauf besteht, ist bezeichnend. Und wie er gelernt hat, die Belastung des öffentlichen Lebens zu schultern, spricht Bände über seine Einstellung und seinen Charakter.

Während unseres Interviews kommt ein sechsjähriger Junge an der Hand eines Erwachsenden herein. Er trägt ein „Nibali Fans Club“-T-Shirt und hat Poster und Filzstift dabei, aber als er sein Idol trifft, ist er so überwältigt, dass er sich kaum traut, ihn anzuschauen. Nibali, der nach eigenen Angaben von Natur aus „etwas introvertiert“ ist, fühlt sich in solchen Situationen sichtlich unwohl. Obwohl er kein geborener Nikolaus ist, gibt er sich große Mühe, dem Jungen die Befangenheit zu nehmen, und das Kind verlässt den Raum mit einem Autogramm, einem Foto und einem Lächeln so breit wie die Champs-Élysées. Es ist eine kleine, einfache Geste, doch ohne Kamera und weit weg vom Rampenlicht der Tour de France ist es rührend. Nibali scheint nichts von der Überheblichkeit zu haben, die Arm-strongs Regentschaft charakterisierte, und viel unkomplizierter und ausgeglichener zu sein als Leute wie Pantani, Wiggins oder Evans. Er ist ein Athlet, der keinen Wert auf Ruhm legt, obwohl er seine zunehmende Bekanntheit akzeptiert. Ihm reicht ein kleiner Kreis von Freunden und Vertrauten, während er sich auf seinen Sport konzentriert – und darauf, ein guter Vater zu sein. Vincenzo Nibali mag nicht die Star-Qualitäten eines Wiggins oder Armstrong haben, aber insgesamt spielt das keine Rolle. Er kommt aus einer ganz anderen Tradition und einer ganz anderen Radsportkultur. Er respektiert die Geschichte und Werte des Sports und seine Bescheidenheit und Zurückhaltung sind ein Relikt aus einer ganz anderen Ära des Radsports. Darin liegt ein anderes Paradox, denn aus unzähligen Gründen sind seine Tugenden genau die, die die Tour de France im Zeitalter nach Armstrong braucht.

Also ein Sieg beim Giro, der Vuelta und der Tour, und jetzt wohl der kompletteste Rundfahrer der Welt. Man könnte einwenden, dass bessere Kletterer als Nibali die Tour gewonnen haben, aber man kann sich kaum einen vollendeteren Radrennfahrer vorstellen als ihn. Froome, ob brillanter Athlet oder nicht, wird nie Nibalis Kalkül und Radbeherrschung haben. Contador ist ein großartiger Fahrer, aber an seinem Palmarès klebt jede Menge Mist. Als wir uns verabschieden, sagt uns der Toursieger von 2014, dass er bald nach Florenz fährt, um am Begräbnis von Alfredo Martini teilzunehmen. Ein bescheidener, aber sehr guter gregario in der Coppi/Bartali-Nachkriegsära, wurde Martini später Sprachrohr und geistiger Führer des italienischen Radsports. Nibali macht sich auf den Weg, nachdem er uns gesagt hat, dass er nichts lieber hätte als endlich seine Ruhe – und Zeit für Rachele und die sechs Monate alte Emma. Er macht es, weil er weiß, dass er dem Radsport und seinen Leuten verpflichtet ist und weil es sein Instinkt ist zu geben. In seiner Bescheidenheit und Einfachheit – wenn auch noch nicht in seiner Wissensbreite – erinnert er an Martini. Felice Gimondis Leistungen auf dem Rad und Alfredo Martinis angeborene Bescheidenheit als Mensch – es gibt kein größeres Kompliment.



Cover Procycling Ausgabe 131

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 131.

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