Den Bann gebrochen

Vincenzo Nibali fuhr nach Paris als überzeugender Sieger eines dramatischen und frei fließenden Rennens, das Frankreichs und Italiens Liebe zur Tour erneuerte. Doch wie immer im Radsport standen Fans, Teams und Fahrer anschließend mit ebenso vielen Fragen wie Antworten da.

 

Der Scherz von Astana-Sportdirektor Beppe Martinelli mit Paolo Slongo war einer der kumpelhaften Späße, die in der Welt des Profi-Radsports üblich sind. „Ich würde dich ja umarmen“, witzelte er, „aber ich kriege meine Arme nicht um deinen Bauch!“ Slongo war sicher nicht beleidigt. Vincenzo Nibalis grauhaariger Coach – von seinen Schützlingen liebevoll „Panda“ genannt – war zu erfreut über das, was er gerade auf den letzten 1.000 oder 800 Metern der 2. Etappe der Tour nach Sheffield gesehen hatte. Nibalis Coup, sich im Stil eines Finisseurs von Froome, Contador und anderen abzusetzen, war genau die Art von instinktiver Aktion, die Slongo einst auf die Palme brachte und von der man vermutete, dass sie die Karriere des Sizilianers im Keim ersticken würde. Lange Zeit, nachdem Slongo 2008 anfing, mit Nibali zu arbeiten, war ihre Beziehung eine „Hassliebe“ wie Slongo sagte. Bei einer Gelegenheit sagte ihm Slongo, dass er seine Sachen packen und das Trainingslager verlassen solle. Die Botschaft – dass Nibali mehr auf seine Wattzahlen achten und weniger seinen Launen nachgehen sollte – schien schließlich bei der Vuelta 2010 angekommen zu sein, die Nibali gewann. „Seitdem vertraut er mir blind“, sagte Slongo später der L’Équipe. An jenem Nachmittag in Sheffield teilte uns Slongo mit: „Wenn ich Contador oder Froome trainieren würde, würde ich mir Sorgen machen.“ Auch wir hätten ihn beim Wort nehmen sollen.
 
Zu dem Zeitpunkt sah es in Sheffield so aus, als würden die Trostpreise früh verteilt. In Wirklichkeit sollten dieser Etappensieg und das erste Gelbe Trikot in Nibalis Karriere rückblickend eine Warnung und eine Blaupause sein – obwohl er das Astana-türkise Trikot auf dem Weg nach Paris nur noch einmal tragen sollte –, als Tony Gallopin im Elsass einen Tag Spitzenreiter war. Der Ton war bereits vorgegeben: Dies sollte die völlig neue, impressionistische Tour werden, die Christian Prudhomme und sein Streckenchef Thierry Gouvenou sich vorgestellt hatten, als sie eine Route mit den Yorkshire Dales, dem Pavé von Paris – Roubaix, den Vogesen, dem Jura, den Alpen und den Pyrenäen absteckten. Es sollte genau Nibalis Art von Tour werden – bei der Kopf und Beine, Geschick und Kraft, Mut und Pragmatismus sowie Glück und Urteilsvermögen gleichermaßen gefragt waren. Nibalis technisch vollendeter Ritt über das Pavé auf der 5. Etappe war der emblematische Moment des ersten italienischen Sieges seit Marco Pantani 1998. Aber selbst in dieser Kategorie stand er allein und noch für etwas anderes als Kraft und Ausdauer; es war vor allem eine Flüssigkeit und Freiheit an Nibalis Ritt über das Pavé, der ihn von Weitem und für die Puristen eher zur Kunst denn zur Wissenschaft machte. Die Hobby-Analytiker, die zu diesem Zeitpunkt dachten, dass Nibali dem Druck nicht standhalten würde, hatten noch nicht gemerkt, dass er Stress und sein Rad mit derselben nonchalanten Ruhe beherrschte.
 
Geschichten über seine Nickerchen vor einem Rennen hatten schon vor der Tour die Runde gemacht. Fünf Kilometer vor dem Gipfel in Chamrousse auf der ersten Alpenetappe stand Carlo Franceschi, Nibalis Sportlicher Leiter, Vermieter und Ersatzvater in seiner Zeit als Junior und Amateur in der Toskana, und erinnerte sich: „Er schlief in der Sekunde ein, in der er ins Auto stieg, wenn wir auf dem Weg zu einem Rennen waren, wachte auf, wenn wir ankamen, und dann wieder, wenn wir abfuhren. Bei der Weltmeisterschaft in Zolder 2002 dachten seine Teamkollegen zwei Stunden vor dem Rennen, er wäre verloren gegangen; sie waren alle aus dem Bus gestiegen, um ein bisschen spazieren zu gehen, ohne zu merken, dass er in seiner Ecke noch schlief. Deswegen regeneriert er natürlich so gut; er vergeudet keine mentale Energie auf das Rennen, bevor er über die Startlinie fährt.“
 
Nach dem Pavé hatte Nibali bereits 2:37 Minuten Vorsprung auf Contador. Derweil war Chris Froome auf dem Heimweg nach Monaco. Je nachdem, mit wem man sprach, waren seine Stürze auf der 4. und 5. Etappe entweder schieres Pech oder Beweis für seine schlechtere Radbeherrschung, jedenfalls im Vergleich zu Nibali. Rückblickend hatte man im Sky-Lager später auch das Gefühl, dass der psychologische Druck, der auf dem Titelverteidiger lastete, Froome mehr beeinträchtigt hatte, als sie es sich zuvor eingestehen wollten. Vor allem die Kontroverse über seine medizinische Ausnahmegenehmigung bei der Tour de Romandie hatte wertvolle mentale und emotionale Kraft gekostet. Ebenso wie sein – nach Auffassung von Astana – unnötig heftiger Revierkampf mit Alberto Contador bei der Dauphiné.
 
Die Sage um Froomes Attest beschäftigte Sky so sehr, dass Brailsford gegen Ende ihrer desaströsen Tour zugab, dass dies und andere Ablenkungen auch ihn zu sehr in Anspruch genommen hatten. Es gab sicher Angelegenheiten, die zu besprechen und bewerten waren: Richie Portes Tauglichkeit als Kapitän bei einer großen Rundfahrt zum einen, die künftige Richtung von Geraint Thomas’ Karriere und auch Fehler in der Rekrutierung und Entwicklung, die zutage getreten waren. Brailsford bestritt, dass Thibaut Pinots Frühreife auch damit zu tun habe, dass er 2012 mit 22 Jahren bei der Tour ins kalte Wasser geworfen wurde – „er hätte es so oder so geschafft“. Trotzdem gab der Sky-Supremo auch zu, dass so junge Fahrer in große Rundfahrten zu schicken der Luxus der Armen sei, den sich ein so reiches und so ehrgeiziges Team wie Sky nicht hatte leisten können. Daher und aufgrund von Portes und Thomas’ mangelnder Erfahrung als Teamkapitän hätte es niemanden überraschen sollen, dass Sky so angeschlagen aus der Tour hervorging. Der technische Direktor von Omega Pharma – Quick-Step, Rolf Aldag, machte am zweiten Ruhetag eine Bemerkung über Nibali, die in Zukunft für Porte, Thomas und Sky gelten könnte: „Nibali ist einen wirklich interessanten Weg gegangen. Viele fahren ihre erste Tour und bekommen das Tour-Fieber: Sie sind besessen davon, das bestmögliche Resultat bei der Tour zu holen, lernen aber folglich nie, mit dem Druck umzugehen, den man hat, wenn man dort tatsächlich antritt, um zu gewinnen. Nibali ist anders an die Sache herangegangen und hat versucht, die Vuelta zu gewinnen, dann den Giro zu gewinnen, bevor er schließlich gesagt hat, dass er bereit ist, den Toursieg ernsthaft in Angriff zu nehmen. Er hat sich an diesen Druck, der ein anderer ist, gewöhnt.“
 
Brailsford hat jedoch auch recht, wenn er sagt, dass die größte Gefahr jetzt sei, „das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Radsport ist eine Sportart der marginalen Gewinne, wie er uns gelehrt hat, aber auch der feinen Unterschiede. Ohne seinen Sturz legen seine Resultate – eine kurzlebige Attacke auf der mörderisch steilen Jenkin Road auf der 2. Etappe, die Nibali nicht parieren konnte – nahe, dass Froome den Italiener in Bedrängnis gebracht hätte. Doch „Wenns“ und „Abers“ waren überall auf der Straße verstreut. Es gab Teams, deren Notfallpläne zu spektakulären Erfolgen führten. Matteo Trentin und Tony Martin hätten die 7. beziehungsweise 9. Etappe vielleicht auch für sich entschieden, wenn ihr Teamkollege Mark Cavendish nicht in Harrogate gestürzt wäre. Rafał Majka und Michael Rogers hingegen hätten wohl kaum drei Bergetappen und das Bergtrikot gewonnen, hätte Tinkoff-Saxo Bank nicht Contador verloren. Peter Sagan, der sich sein drittes Grünes Trikot in Serie mit pflichtbewusst gelangweilter Miene sicherte, muss sich gewünscht haben, dass es 2015 wäre und er bereits Tinkoffs Neonfarben verteidigen würde. Sagan gewann keine einzige Etappe, weil sein Cannondale-Team zu schwach war, seine Rivalen ihm nichts schenkten und er hin und wieder einen taktischen Fehler machte. Bei den Massensprints konnte der Slowake den reinen Sprintern wie Marcel Kittel und auch Alexander Kristoff nicht viel entgegensetzen. Im Alter von Kittel hatte Cavendish zwar dreimal so viele Siege auf seinem Palmarès stehen, doch der Thüringer von Giant-Shimano scheint derzeit weiter von seinem Zenit entfernt zu sein als die Rakete von der Isle of Man seinerzeit.
 
Wenn Kittel, Crashs und Nibalis wachsende Autorität die Geschichten der ersten Woche waren, so entwickelte sich die spannendste Nebenhandlung der Tour 2014, als das Rennen in die Vogesen führte. Thibaut Pinots zweiter Platz in La Planche des Belle Filles, wo die ersten sechs Fahrer diese Plätze auch in der Endabrechnung einnehmen sollten, deutete es bereits an; Tony Gallopins Eroberung des Gelben Trikots am nächsten Tag bestätigte, dass dies eine Tour würde, bei der die Franzosen Grund zum Jubeln haben. Seit Jahren haben wir vermutet, dass Pinot, Romain Bardet und Gallopin (neben Bryan Coquard und Arnaud Démare) zu einer goldenen Generation gehören; was niemand vor der Grande Boucle vorhergesagt hatte, war, dass sie so unerschrocken das Vakuum ausfüllen würden, das Froome und Contador hinterlassen hatten. Insbesondere Pinot zeigte nicht nur Talent, sondern eine immense Entschlossenheit, den Kritikern und den quälenden Erinnerungen an seine Tour 2013 zu trotzen. Wir wissen noch nicht, ob er ein künftiger Toursieger sein kann, aber er verkörpert bereits die diversen Qualitäten, um französische Radsport-Fans jeden Alters und Geschlechts zu vereinen und zu begeistern: eitel genug, um die Presse nach der Etappe in Chamrousse warten zu lassen, während er sich in der spiegelnden Scheibe des Teambusses mit seinen Haaren beschäftigte; altmodisch genug, um nach der Tour zuzugeben, dass er sich nichts sehnlicher wünscht, als einen Tag alleine angeln zu gehen; penibel genug, um seit Langem ein Anhänger von Wattmessgeräten zu sein; lässig genug, um jeden Tag ohne Luftpumpe oder Ersatzschlauch trainieren zu gehen – und gelegentlich auf einem platten Reifen nach Hause zu fahren. „Ich will nicht, dass mein kleines Leben sich ändert“, sagte Pinot. Das könnte sich als Wunschdenken herausstellen.

 

Am anderen Ende der Altersskala lieferte Jean-Christophe Péraud eine andere Geschichte der Ausdauer – nicht nur seiner eigenen, sondern auch der des französischen Radsports. FDJ-Profi Jérémy Roy sagte, wenn ihm eine Sache in Yorkshire nicht gefehlt hat, dann der verächtliche Umgang der französischen Fans mit ihren eigenen Fahrern, vor allem die häufigen „Fainéants!“- (Drückeberger)-Rufe. Das erste zu zwei Dritteln gallische Podium seit 1984 sollte nächstes Jahr für weniger Zwischenrufe und mehr Applaus sorgen, obwohl es schwer wird für Péraud, 2014 wieder einen zweiten Platz herauszufahren. Seine Tränen und die seines Teammanagers Vincent Lavenu nach dem abschließenden Zeitfahren zeigten, dass auch sie entschlossen waren, einen einzigartigen Moment auszukosten.
 
Vincenzo Nibali hingegen steht nun vor der Herausforderung, sich bei der Tour 2015 gegen Froome und Contador zu behaupten. Seine Wattzahlen über drei Wochen reichten nicht ganz an Froomes Fabeljahr 2013 heran, waren aber beeindruckend genug, damit die üblichen Verdächtigen ihre Zweifel anmeldeten. Wie bei Froome in der Saison 2013 behauptete der frühere Festina-Coach und agent provocateur, Antoine Vayer, dass Nibalis Zahlen verdächtig und die eines „Mutanten“ seien. Nach der Hälfte der Tour wurden Fragen nach Doping ein täglicher Bestandteil von Pressekonferenzen. Nibalis Antworten waren ausnahmslos cool, manchmal ausführlich und für sich allein genommen nie eine Einladung zum Zweifel. Doch das Misstrauen begleitete den designierten Champion bis nach Paris und dauerte an, als die Sonne am letzten Sonntag hinter dem Arc de Triomphe unterging.
 
Jeder Verdacht wird vor allem von der dunklen jüngeren Vergangenheit des Sports genährt. „Der Radsport hat einen hohen Preis für die Fehler früherer Fahrer bezahlt“, sagte Nibali im Laufe der drei Wochen wiederholt, und das galt auch für seinen eigenen Ruf. 2009 behauptete der Amore-e-Vita-Boss Ivano Fanini, Fotos zu besitzen oder gesehen zu haben, auf denen Nibali im Training mit Michele Ferrari zu sehen sei. Nibalis Anwälte reichten eine Unterlassungsklage ein – mit Erfolg. Seltsamerweise schien Fanini am Ende der Tour den Rechtsstreit als Auszeichnung zu betrachten, behauptete er doch, dass „Nibali der einzige Fahrer ist, der wegen dieser Behauptungen rechtliche Schritte gegen mich eingeleitet hat“. Er pries Nibali auch als „stärksten Toursieger überhaupt“.
 
Zu Nibalis Leidwesen ist ein Lob von Fanini keine Unbedenklichkeitsbescheinigung und trägt nicht dazu bei, die Vorbehalte der Kritiker gegenüber dem Astana-Teammanager Alexander Winokurow und seine alten Kontakte zu Ferrari zu entkräften. Auch alte, sehr vage Gerüchte über Slongo und Ferrari tauchten bei der Tour wieder auf; diejenigen, die das Liquigas-Team Mitte der Nullerjahre gut kannten, behaupten, dass Mario Cipollini Ferrari 2005 in den Schoß der Familie einlud. Sie sagen, Ferrari habe bald das halbe Team trainiert und behandelt und Slongo habe die andere Hälfte übernommen, als er 2008 dazukam. Es liegt nahe – nach dieser Version –, dass Slongo und Ferrari sich zumindest kennen. Einige Probleme dabei: Slongo weist jegliche Verbindung zurück und ein früherer Liquigas-Fahrer, Leonardo Bertagnolli, erwähnte Ferrari, aber nicht Slongo, als er 2011 vor einem italienischen Gericht umfassend über seine Kontakte und die seiner Teamkollegen zu dem Mediziner aussagte. Bertagnolli sagte auch, dass Liquigas seinen Fahrern von 2008 an verbot, Ferrari zu konsultieren – das Jahr, in dem Slongo zum Team kam. Während er einige prominente Fahrer namentlich belastete, erwähnte Bertagnolli Nibali überhaupt nicht.
 
Nibali ist also ohne Filz und Indizien im Gepäck unterwegs und das ist nicht einmal der überzeugendste Grund, an ihn zu glauben. Sein Vater Salvatore drohte angeblich, seinem Sohn „die Augen auszustechen“, wenn er je betrügen sollte. Nibali ist bereits als Neuprofi gegen den Strom geschwommen und lehnte ein Angebot seines Fassa-Bortolo-Managers Giancarlo Ferretti ab, ihn einem anderen berüchtigten Mediziner, Luigi Cecchini, anzuvertrauen. 2008 sagte Nibali der italienischen Zeitschrift Bicisport, dass Doper „Diebe sind, die man einsperren müsste“. Bei der Tour in jenem Jahr versicherte uns sein ehemaliger Liquigas-Sportdirektor Stefano Zanatta, dass er von Riccardo Riccòs dopingbeflügelter Dominanz auf den ersten beiden Bergetappen angewidert gewesen sei. „Nibali wusste, was los war, und es war erniedrigend für ihn“, erinnerte sich Zanatta. „Wir haben ihm gesagt, dass sein Talent sich schließlich durchsetzen würde, aber er war wirklich niedergeschlagen. Und dann wurde Riccò natürlich positiv getestet …“
 
Am ermutigendsten überhaupt war vielleicht ein Indikator, den die Verschwörungstheoretiker ignorierten: Auf den meisten Bergetappen waren die Abstände zwischen Nibali und den Fahrern, die normalerweise um Top-Ten-Plätze kämpfen würden, nicht um Podiumsplätze, minimal. Nichts davon sollte irgendjemanden veranlassen, seine Hand ins Feuer zu legen, doch derzeit gibt es keinen Grund, in Nibali etwas anderes zu sehen als einen anmutigen Champion. Sechs Jahre, nachdem Riccò so viel Schaden angerichtet hat, scheint sich Zanattas Prophezeiung erfüllt zu haben.



Cover Procycling Ausgabe 127

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 127.

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