Alles auf Anfang

Nach einer verkorksten Saison 2013 will es Tom Boonen in diesem Jahr noch einmal wissen. Der Fahrer von Omega Pharma – Quick-Step hat früh mit dem Training angefangen, aber kann er seine Form in Siege ummünzen – und auf dem Kopfsteinpflaster Geschichte schreiben?

 

Stellen wir uns einmal vor, die Flandern-Rundfahrt oder Paris – Roubaix würden morgen abgeschafft, weil sie als prähistorische Rennen nicht mehr in den globalisierten Radsport des 21. Jahrhunderts passen. Was würde Tom Boonen ohne seine Jagdgründe tun? Keine schmalen Straßen mit furchtbarem Kopfsteinpflaster mehr, keine Massen von jubelnden Fans mehr auf den Straßen von Flandern und Nordfrankreich. Tom Boonen lächelt über dieses „Was wäre wenn“-Szenario – er kann sich eine Welt ohne diese beiden Rennen einfach nicht vorstellen. „Obwohl, wenn das passieren würde, wäre ich der perfekte Reiseleiter“, sagt er. „Ich könnte sagen: ‚Hier habe ich Fabian Cancellara einmal abgehängt.‘ Aber die Klassiker des Nordens werden nicht verschwinden. Das sind die Rennen, die dem Radsport seine epischen Proportionen geben.“

Im Herbst 2013 leuchten die Blätter an den Bäumen vor Tom Boonens Haus in Mol in tausend verschiedenen Farbabstufungen. Der König der Klassiker ist guter Dinge, trägt ein schwarzes T-Shirt und Gummistiefel. Der Fotograf bittet ihn, sich neben den Teich in seinem Garten zu stellen, und dann in den Teich. Ein Fasan läuft vorbei. „Es ist ein Privileg, hier zu wohnen, mitten in der Natur“, sagt Boonen. „Der Herbst ist meine Lieblingszeit. Wenn ich in den Garten schaue, sehe ich alle möglichen Tiere – Vögel, Füchse und Rehe. Und weil jedes Jahr ein seltener Fischreiher vorbeikommt, lasse ich die Vogelbeobachter in meinen Garten. Die liegen den ganzen Tag hier herum und schauen ihn an.“

Wir sind hier, um über seine Zukunft im Radsport zu sprechen, aber vorher blickt Boonen auf ein Jahr zurück, in dem er phänomenales Pech hatte – wieder einmal. Mit einer Darminfektion im November 2012 ging es los, dann im Januar eine Notoperation wegen einer Entzündung im Ellenbogen, die ihn fast den Arm gekostet hätte. Zum zweiten Mal in zwei Monaten musste Boonen Antibiotika nehmen und sein Trainingsprogramm zurückfahren. Dann gefährdete ein Sturz bei Gent – Wevelgem kurz vor dem berüchtigten Kemmelberg seine Teilnahme an der Flandern-Rundfahrt. Boonen stand in Brügge am Start, stürzte wieder, brach sich eine Rippe und konnte Paris – Roubaix vergessen. Im Sommer musste er die Dänemark-Rundfahrt wegen Sitzbeschwerden vorsorglich auslassen, bevor diese sich erheblich verschlimmerten. Und obwohl ein Etappensieg bei der Tour de Wallonie im Juli hoffen ließ, wurde kurz darauf bekannt, dass er 2013 keine Rennen mehr bestreiten würde. Das einzig Positive in dieser düsteren Zeit war, dass Omega Pharma – Quick-Step seinen Vertrag um zwei Jahre verlängerte und damit Gerüchte zerstreute, Boonen wolle seine Karriere beenden.

Alles wieder auf Anfang zu setzen, ist natürlich nichts Neues für Boonen. Als ihn Procycling im März 2011 auf der Titelseite hatte, erholte er sich gerade von einer Infektion in der Kniescheibe, die einen chirurgischen Eingriff erforderte, im Juni 2012 feierte ein großer Artikel das „Revival von Belgiens unverwüstlichem Sportidol“. Dieses Mal hat Boonen Anfang Oktober das Training wieder aufgenommen. Als wir ihn treffen, ist er gesund, fit und motiviert, seine Position als einer der Topfahrer des Pelotons zurückzuerobern. Sein Hauptaugenmerk liegt, wenig überraschend, auf den Frühjahrs-Klassikern – ein vierter Sieg bei der Flandern-Rundfahrt, ein fünfter bei Paris – Roubaix. Könnte er beides erreichen und damit Geschichte schreiben? Könnte 2014 das Jahr dafür sein?
 
Was findest du so attraktiv an diesen beiden Rennen?
Flandern und Roubaix haben mich berühmt gemacht. Aber es stimmt nicht, dass es für mich immer nur um diese beiden Rennen ging. Die Leute vergessen manchmal, dass ich über 20 Rennen in einer Saison gewonnen habe, drei Jahre hintereinander. In den Augen der flämischen Fans jedoch ist meine Saison ohne einen Sieg bei einem Frühjahrs-Klassiker nicht komplett.
 
Stört dich das?
Es ist schon eine Belastung und zeigt die Kurzsichtigkeit, die typisch ist für die Region, in der ich lebe. Aber es frustriert mich nicht. Es ist einfach so.
 
Warum reizt es dich, Paris – Roubaix zum fünften Mal zu gewinnen?
Es ist eine der wenigen Herausforderungen, die mir als Fahrer noch bleiben. Wenn ich dieses Ziel 2014 erreiche, wäre das das Ende einer wichtigen Zeit in meinem Leben.
 
Würdest du deine Karriere nach einem Sieg beenden?
Nein. Ich habe vor, meinen Zwei-Jahres-Vertrag zu erfüllen. Nach der Pechsträhne bin ich entschlossen, so viele Rennen zu fahren, wie ich kann. Wenn ich Glück habe und Flandern und Roubaix gewinne, würde ich bei beiden Rennen den Rekord halten. Das ist die größte Motivation, aber nicht die einzige.
 
Die meisten Fahrer hassen Kopfsteinpflaster. Du nicht.
Wenn es die ganze Saison lang über Pavé ginge, hätte ich schnell die Nase voll. Aber das Kopfsteinpflaster trennt die Jungen von den Männern. Ich hätte als Kind nie gedacht, dass ich bei diesen Rennen gut sein könnte, aber es kam einfach so. Ich stand bei meinem ersten Paris – Roubaix als Profi auf dem Podium (3.), mit 21, ging in eine Ausreißergruppe, die sich früh bildete, und fuhr danach das perfekte Rennen.
 
Willst du damit sagen, dass du per Zufall König des Kopfsteinpflasters wurdest?
Mehr oder weniger. Aber nach dem ersten Mal erkannte ich, dass ich bei dem Rennen wieder antreten und gewinnen kann. Ich dachte: Wenn mir das gelingt, ist meine Karriere ein Erfolg.
 
Worin besteht der Reiz der Kopfsteinpflaster-Rennen?
Auf den Pflastersteinen fällt die Maske. Paris – Roubaix ist ein sehr ehrliches Rennen. Wenn du wirklich gut bist, siehst du auf dem Kopfsteinpflaster jede Gefahr kommen. Du scheinst über die Steine hinwegzufliegen. Wenn du müde bist, verschwimmt alles, und das ist der Moment, wo du einen Platten hast oder stürzt.
 
Wie bereitest du dich darauf vor?
Ich verrate dir ein Geheimnis: Der Trick ist, nicht auf ihnen zu fahren. In der ersten Hälfte des Rennens versuchst du ihnen auszuweichen. Das gibt dir die Möglichkeit, im entscheidenden Moment auf den Steinen Vollgas zu geben. Je mehr du auf ihnen fährst, umso weniger Energie hast du.
 
Jagst du deinen Rivalen Angst ein, wenn du an dein Limit gehst?
Bei jedem anderen flämischen Frühjahrs-Klassiker: ja. Aber nicht in der Hölle des Nordens. Das ist das einzige Rennen, wo du jemanden im Flachen abhängen kannst. Berechnung ist alles. Fahr ein gleichmäßiges Tempo, achte auf deine Herzfrequenz, spar’ dir alles für die finale Attacke auf.
 
Wie viele Fahrer können das?
Fabian Cancellara und ich sind beide sehr gut. Viele Fahrer können auf dem Kopfsteinpflaster Großes leisten, aber Fabian und ich ragen heraus – wir haben eine Beschleunigung, die die Rivalen umbringt. Aber den richtigen Moment zu wählen, ist das A und O.

 

Was ist mit Peter Sagan? Er ist auf dem Vormarsch, und zwar ganz schön schnell.
Er ist unglaublich talentiert, das stimmt. Aber er ist noch sehr jung und es besteht immer die Gefahr, dass man sich verletzt. Wenn das passieren sollte, wie wird es sich auf ihn auswirken? Bisher ist für ihn alles glatt gelaufen. Geld ist auch so eine Sache. Sagan ist in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und verdient jetzt viel Geld – wie wird er damit umgehen? Aber wenn alles nach Plan läuft, wird es die jüngere Generation bei fast allen Rennen schwer haben, ihn zu schlagen.
 
Hast du dich bei einem „deiner“ Klassiker je unbesiegbar gefühlt?
Nein. Nie. Als Erstes versuche ich, ein starkes Team aufzubauen, wirklich entschlossene Fahrer um mich herum zu haben. Auf meine Rivalen achte ich nicht allzu sehr. Ich brauche nur ein paar Rennen, um zu erkennen, wie fit und motiviert sie sind.
 
Kann Zdenek Štybar jemals Sylvain Chavanel bei OPQS ersetzen?
Štybar ist explosiver als Chava und er ist sehr lernbegierig. Außerdem ist er ein Tier, wenn es ums Training geht. Lange hatte ich den Eindruck, dass er am Limit ist, trainingsmäßig. Aber die letztjährige Vuelta hat seine Möglichkeiten als Fahrer vertieft. Er ist ein wichtiger Aktivposten für die Klassiker.
 
Was kann er von dir lernen?
Die Streckenkenntnisse und wie er in hektischen Situationen ruhig bleibt. Viele Fahrer, die unerfahren sind, lassen sich von dem Prestige eines Rennens beeindrucken. Der Trick ist jedoch, an Flandern oder Roubaix heranzugehen wie an jedes andere Rennen. Wenn ich gegen Zdenek Štybar führe, würde ich ihn wohl während des Rennens verrückt machen.
 
Sind die Kopfsteinpflaster-Rennen das, was dich motiviert?
Ja, aber ich kann auch andere Rennen genießen. Wenn ich zum Beispiel für die Tour de Wallonie motiviert bin, genieße ich jeden Tag dieser Woche. Aber ich hoffe wirklich, dass Fabian Cancellara und ich im April in Bestform sind. Ich freue mich auf einen großen Kampf. Und wie er ausgeht – ich weiß es nicht.
 
Bis dahin sind es noch fünf Monate. Konzentrierst du dich jetzt schon darauf?
Nein, noch nicht. Die Tour de San Luis in Argentinien wird mein erstes Rennen sein. Bei einem Comeback nach einer schweren Verletzung musst du es Tag für Tag angehen. Wieder in Form zu kommen, wird hart, aber es gibt keinen anderen Weg. Als Rennfahrer bist du normalerweise elf Monate im Jahr fit, deswegen habe ich noch viel aufzuholen. Im Moment versuche ich, meinen Körper wieder aufzubauen. Danach folgt ein Termin auf den anderen. Das erste Trainingslager geht bis kurz vor Weihnachten, dann geht es nach den Feiertagen sofort nach Spanien. Am 15. Januar fliege ich nach Argentinien.
 
Und die Tour de France 2014?
Ich muss das Management fragen, aber ich würde gerne wieder zur Tour.
 
Wegen der Kopfsteinpflaster auf der 5. Etappe?
Ich bin die Etappe mit Kopfsteinpflaster bei der Tour 2004 gefahren. Das war der reine Wahnsinn auf den Straßen nach Wasquehal. Die Etappe im nächsten Jahr ist dagegen viel ausgewogener und hat schwerere Abschnitte. Weißt du, was lustig ist? Niemand scheint über die sechs Bergetappen zu reden. Alle haben anscheinend Angst vor den Pflastersteinen.
 
Nibali will Flandern fahren, um ein Gefühl fürs Pavé zu entwickeln.
Wirklich? Das ist Unsinn – Roubaix und Flandern sind zwei verschiedene Rennen, und alle sind im Frühjahr in Topform. Das ist bei der Tour nicht der Fall. Es wäre etwas ganz Besonderes für mich, eine weitere Tour-Etappe zu gewinnen. Diese Etappe ist eine einzigartige Möglichkeit für mich, weil die Mannschaft auf jeder anderen Flachetappe für Cavendish arbeiten wird.
 
Du willst also die 5. Etappe gewinnen?
Das möchte man meinen. Da wir Mark Cavendish in der Mannschaft haben, kann ich keine Etappe mehr im Sprint gewinnen. Aber das ist eine tolle Gelegenheit.
 
Wirst du obendrein den Anfahrer für Cavendish spielen?
Ich werde wahrscheinlich der dritte oder vierte Mann sein. Deine Bedeutung im Sprintzug hängt nicht davon, wie nahe du an seinem Ende, an Cav, bist. Um den Sprint oder meine Position im Zug mache ich mir keinen Kopf. Ich würde gerne in die Tour gehen, um alles und alle auf der Spur zu halten. Petacchi könnte den Job auch machen, aber er ist noch relativ neu in der Mannschaft. Obwohl das Team 2013 eine sehr gute Tour gefahren ist, gibt es Verbesserungsspielraum. 2014 wird das Team bei den Sprints noch stärker sein, mit Renshaw, Petacchi, Steegmans und Terpstra. Und die meisten dieser Jungs kommen mit dem Kopfsteinpflaster gut zurecht.
 
Der beste Sprintzug aller Zeiten und ein Paradestück auf dem Pavé?
Ich hoffe es.



Cover Procycling Ausgabe 120

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 120.

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