Schmerz & Ekstase

Frankreich musste bei der 100. Ausgabe bis zur Königsetappe warten, bei der Christophe Riblon den ersten Heimsieg einfuhr. Tejay Van Garderen hatte einmal mehr das Nachsehen.

 

Für jeden der beiden Fahrer wäre der Sieg eine Erlösung, doch nur einer von beiden konnte es schaffen. Für Tejay Van Garderen, den viele als den US-Rundfahrer der Zukunft sehen, war es eine zehrende Tour gewesen. Als größter Verlierer bei Skys Feldzug in Richtung Ax 3 Domaines verlor er einen Tag später in der höllischen Hitze der Pyrenäen erneut den Anschluss. Die Gründe für dieses Abschneiden sind ihm entweder selber nicht klar oder er möchte sie nicht mitteilen – jedenfalls hatte er bereits über 35 Minuten Rückstand, bevor die zweite Woche auch nur begonnen hatte. Zu einer Phase, als er gehofft hatte, einen komfortablen Rang in den Top Ten einzunehmen, musste sich der Sieger der Kalifornien-Rundfahrt Gedanken darüber machen, wie – oder ob – sein Rennen gerettet werden könnte. Für ihn würde ein Sieg in Alpe d’Huez die Erlösung bedeuten.

Für Christophe Riblon von AG2R ging es nicht darum, sich oder sein Team zu retten, sondern eine ganze Nation. Bei der großen Feier zur 100. Tour waren die Franzosen bislang nur Zaungäste geblieben. Thibaut Pinot, der 2012 ins Rampenlicht fuhr, sah sich erneut mit seiner Angst vor Abfahrten konfrontiert, auch der einstige Etappensieger Thomas Voeckler zündete dieses Mal nicht. Pierre Rolland legte es statt auf Einzelerfolge vergeblich auf das Gepunktete Trikot an, Sprinthoffnung Nacer Bouhanni musste vor der sechsten Etappe wegen Krankheit und Verletzung das Handtuch werfen. Der im Klassement bestplatzierte Fahrer Jean-Christophe Peraud stürzte beim zweiten Zeitfahren und zog dabei sein Schlüsselbein, das er sich am Morgen im Training gebrochen hatte, weiter in Mitleidenschaft. Die Uhr tickte, und die Franzosen warteten ungeduldig auf einen Sieger. Sie sollten ihren Wunsch erfüllt bekommen.
 
Alle für einen auf der Alpe
 
Der erstmalige Doppelanstieg nach Alpe d’Huez stahl bei der Vorstellung der Tour-Route Ende letzten Jahres allen die Show; als der 18. Juli jedoch näher rückte, zog die Etappe für den Geschmack der ASO zu viel negative Aufmerksamkeit auf sich. Im Hintergrund brodelte die für diesen Tag geplante Veröffentlichung des Doping-Reports des französischen Senats zum Rennen 1998, die laut Samuel Dumoulin „ein Feuer entfachen“ würde. Er war einer der Teilnehmer der Fahrerdelegation, die den Sportminister Valerie Fourneyron getroffen hatte, um eine Verschiebung des Termins durchzusetzen. Am Ende siegte die Vernunft, der Report sollte drei Tage nach dem Ziellauf seine Wirkung zeigen, aber es lauerte noch ein weiterer Schatten – der Col de Sarenne. Während sich der einst stürmische Protest von Umweltschützern, die das Vordringen der Tour zum Pass beklagten, beruhigt hatte, wuchs die Enttäuschung über die mangelnde Eignung seiner zerklüfteten Abfahrt, als der Tag herannahte. Zu einer ernsten Angelegenheit wurde der Sarenne, als er im Juni beim Criterium du Dauphiné erstmalig auf der Route stand. Auf der Pressekonferenz vor dem Rennen rief der auf Abfahrten bekanntermaßen zögerliche Andy Schleck die Organisatoren dazu auf, die Routenführung über den Pass zu überdenken. „Für mich ergibt das keinen Sinn. Wenn du einen Platten in einer Kurve hast, kannst du sehr tief fallen.“ Diesen Kommentar hatte er vielleicht im Sinn, als er sich beim ersten Anstieg nach Alpe d’Huez aus dem Feld löste und die schließlich vergebliche Gelegenheit ergriff, die Abfahrt alleine, in seinem eigenen Tempo, anzugehen.

Der Pass selbst war für Privatfahrzeuge seit dem 14. Juli geschlossen worden, um den Belag zu schützen und Verunreinigungen zu vermeiden; die Organisatoren wollten ihn in den Stunden vor dem Rennen dazu ständig säubern.
Es war jedoch der drohende Regen, der die Nerven reizte. Der Träger des Gelben Trikots, Chris Froome, rief am Vorabend der Etappe dazu auf, die „gefährliche“ Abfahrt zu neutralisieren, sollte es so bleiben. Vielleicht wurde er durch das Ende der sechzehnten Etappe mit der Abfahrt vom berüchtigten Col de Manse aufgeschreckt, als er Alberto Contador beschuldigte, ihn auf der Abfahrt, die den Spanier auf den Asphalt schleuderte, einem Risiko ausgesetzt zu haben. Da Froome auf den Anstiegen unangreifbar schien, wurden die Abfahrten für seine Rivalen schnell zur einzigen Möglichkeit, Zeit gutzumachen. Sogar Bjarne Riis meldete sich zu Wort und schlug trocken vor, dass Froome doch die Bremse ziehen sollte, wenn es ihm zu schnell werden würde: „Dies ist ein Radrennen und keine Spazierfahrt am Sonntagmorgen.“

Als es dann tatsächlich in die Abfahrt ging, passierte – wenig. Enttäuschung ist vielleicht das falsche Wort, da niemand hoffte, die Fahrer und ihre Räder über den Rand stürzen zu sehen. Vielleicht passierte genau das, was wir auf einer Abfahrt hätten erwarten sollen, die sogar für Drahtseilakteure wie Contador zu steil und gefährlich ist, um irgendetwas Theatralisches zu versuchen. Es lief nicht völlig ohne Zwischenfälle, da der Regen über Nacht den hastig erneuerten Belag hatte schmierig werden lassen. Das bereitete Riblon Schwierigkeiten und führte zu einem Abstecher ins Gebüsch. Dann verlor Van Garderen 40 entscheidende Sekunden, als er darauf wartete, dass sein Teamwagen einen Kettenklemmer behob. Aber ansonsten gab es wenige dramatische Szenen. In der Gruppe ums Gelbe Trikot blieb alles ziemlich ruhig, abgesehen von Contador und Roman Kreuziger, die versuchten wegzukommen. Mit einer langen Flachpassage bis zum zweiten Abstieg und der zahlenmäßigen Stärke von Sky hielt sich Froome zurück, hätte er doch dort, wie er später anmerkte, mehr verlieren als jemals gewinnen können.

Reichlich Dramatik rund um das Gelbe Trikot lieferte dann der Schlussanstieg nach Alpe d’Huez. Froome war kurz vor einem Hungerast  – er bezeichnete das in der Pressekonferenz nach der zwanzigsten Etappe als den schlimmsten Moment seines Rennens –, womit erwiesen ist, dass jeder, sogar der Führende, einen schlechten Tag in den Bergen haben kann. Sein anschließendes Bußgeld (vielleicht die besten 200 Schweizer Franken, die er jemals bezahlt hat) und 20 Sekunden Strafe für die Versorgung mit Nahrung durch Richie Porte auf den letzten sechs Kilometern war im Nachhinein ein Diskussionspunkt. Der Tag gehörte jedoch zweifellos den Ausreißern.

Für Stolz und Ehre

AG2R hatte bei der Tour auf Peraud und das Klassement gesetzt. Er lag auf dem 9. Platz und hatte durchaus das Potenzial, weiter nach vorne zu kommen. Sein Ausscheiden führte zu einem abrupten Wechsel der Strategie. Riblon folgte der Marschroute, Etappensiegen hinterherzujagen und proaktiv zu sein, die sein Sportlicher Leiter Julien Jurdie ausgegeben hatte, als er sich gemeinsam mit Van Garderen in die frühe, neun Mann starke Fluchtgruppe begab. Der Franzose hatte einen schwierigen Start in die Saison, eine schwer diagnostizierbare Rückenverletzung hielt ihn bis März zurück. Seine Auswahl für die Tour kam spät, genauer gesagt am Abend der Nationalen Meisterschaften. Riblon versicherte Teammanager Vincent Lavenu, es sei eine Entscheidung gewesen, die er nicht bereuen werde.

Auch das Ziel von BMC war mittlerweile, in Fluchtgruppen zu kommen und Etappensiege einzufahren – bislang allerdings ohne großen Erfolg. Heute sollte es anders sein. Im Nachhinein gab Van Garderen zu, er habe beim ersten Anstieg nach Alpe d’Huez niemals geglaubt, dass der siebenminütige Abstand auf das Peloton für den Sieg reichen würde. Stattdessen wollte er, die meiste Zeit des Rennens unauffällig geblieben, einfach nur Präsenz zeigen. Als noch zehn Kilometer zu fahren waren, sah die Sache anders aus. Zum zweiten Mal innerhalb von 90 Minuten hängte Van Garderen Riblon ab. „Ich dachte: Das war’s jetzt“, sagte Riblon. Es blieb ein Abstand von 4:20 Minuten auf die Froome-Gruppe, und der erste Tour-Etappensieg in der Karriere Van Garderens war in greifbarer Nähe. Fünf Kilometer später hatte sich nicht viel geändert, doch Riblon kam wieder heran. Als die Kameras sie zwei Kilometer später wieder einfingen, verzog Van Garderen das Gesicht und wenige Augenblicke später brach er ein. Riblon ließ nicht locker und hatte den schwächelnden Amerikaner bald wieder im Blick: „Ich kenne Tejay gut, und aufgrund seiner Position auf dem Rad wusste ich, dass er in Schwierigkeiten war. Als ich ihn bei Kilometer 1,5 einholte, griff ich unmittelbar an, weil ich wollte, dass ihm klar wurde, dass er keine Chance hatte.“

Für Van Garderen war diese Niederlage kurz vor Schluss ein weiterer Tiefschlag, den er auf dieser Tour hinnehmen musste. Er sprach zunächst mit niemandem und wurde schnell in den Teambus gebracht. Als er später am Abend herauskam, gab er zu Protokoll, es sei „schmerzlich“ gewesen zu verlieren: „Es gibt Millionen von Dingen zu sagen, aber man kann nicht ändern, was passiert ist.“ Er fand jedoch auch einen positiven Aspekt. „Insgesamt wird es mich für die Zukunft stärker machen. Dies ist mein letztes Jahr als Nachwuchsfahrer. Im kommenden Jahr wird diese Ausrede nicht mehr gelten.“

Für Riblon war es der Sieg, der seine Karriere definieren wird – und der, wie er selber sagt, seinen Erfolg in Ax 3 Domaines auf den Tag genau vor drei Jahren in den Schatten stellt. Sein ungläubiges Gesicht, das Lächeln und die Tränen beim Überfahren der Linie waren die eines Underdogs, der soeben einen verletzten Nationalstolz am größten aller Tage wiederhergestellt hatte.



Cover Procycling Ausgabe 115

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 115.

Heft Bestellen