Starker Kolumbianer auf zu großem Rad

Wie streng wird Sky den jungen Kolumbianer Nairo Quintana bei der diesjährigen Tour bewachen? Der kleine Kolumbianer konnte das Superteam schon mehrmals überrumpeln – so einen Fahrer darf man einfach nicht aus den Augen lassen.

 

Während Bradley Wiggins’ perfekter Vorbereitung auf die Tour de France 2012 bekam es das Team Sky nur einmal mit einem Fahrer zu tun, der sich nicht nur weigerte, sich den Rhythmus diktieren zu lassen, sondern dem es tatsächlich gelang, die übermächtigen Briten zu schlagen. Auf der gebirgigsten Etappe des Critérium du Dauphiné im Juni machte sich Nairo Quintana (Movistar) auf dem Col de Joux Plane, dem schwersten Anstieg des Rennens, aus dem Staub. Die Taktik des Team Sky war damals wie heute, ein unerbittliches Tempo anzuschlagen, um alle anderen von weiteren Angriffen abzuschrecken, und abgesehen von einem Vorstoß durch Cadel Evans in der Abfahrt gelang das den Sky-Fahrern auch. Ungeachtet der Geschehnisse weiter hinten kam Quintana vor dem von Sky angeführten Verfolgerfeld ins Ziel. Bis dahin war die Dauphiné 2012 ganz nach den Vorstellungen der Briten verlaufen. Sie holten nicht nur den Gesamtsieg mit Wiggins, sondern waren auch mit drei Fahrern auf den Plätzen eins bis vier vertreten. Quintana, der in der Gesamtwertung der Dauphiné weit hinten lag, war da nur ein kleiner Wermutstropfen. Viel verheerender für das britische Team war sein Etappensieg bei der Baskenland-Rundfahrt im April vor den Sky-Fahrern Sergio Henao und Richie Porte. Entgegen fast allen Erwartungen gewann Quintana damit das Rennen.

Quintanas Movistar-Teamkollegen sind überzeugt, dass der 23 Jahre alte Kolumbianer noch einen großen Verbesserungsspielraum hat. Juan José Cobo, der einzige Fahrer, der die kombinierte Sky-„A“-Mannschaft um Wiggins und Froome bei einer dreiwöchigen Rundfahrt – der Vuelta a España 2011 – schlagen konnte, stellt fest: „Bei der Vuelta a España 2012 war Nairo im letzten Anstieg immer noch bei Alejandro Valverde – und das bei seiner ersten großen Rundfahrt.“ Ein besonderer Höhepunkt war, dass Quintana auf dem Cuitu Negru, einem der gefürchtetsten Anstiege des Rennens, Sechster wurde, nachdem er für seinen Kapitän gearbeitet hatte. „Das zeigt, dass er das Zeug dazu hat, große Rundfahrten zu gewinnen“, bemerkt Cobo.
In diesem Jahr soll Quintana sein Debüt bei der Tour de France geben. Der Kolumbianer gilt als so große potenzielle Gefahr, dass einer der Verantwortlichen im Sky-Management gegenüber Procycling sagte, man werde ihm „überhaupt keinen Spielraum lassen“. Das könnte eine gute Idee sein, zumal Quintana nicht nur ein begnadeter Kletterer ist. Denn wie Cobo betont, „war er in seinen ersten Monaten bei Movistar [2012] schon in der Lage, die Vuelta a Murcia zu gewinnen. Was uns überraschte, war nicht, dass er nicht nur die gebirgige erste Etappe gewann [und damit die Gesamtführung übernahm], sondern dass er gar keine Angst vor dem Zeitfahren auf der 2. Etappe hatte. Wir wussten, dass er klettern kann, aber nicht, dass er gegen die Uhr so gut ist.“ Auch Sky musste bei der diesjährigen Vuelta al País Vasco feststellen, wie stark der Kolumbianer in dieser Disziplin ist. Es sah alles danach aus, dass Henao und Porte den Gesamtsieg unter sich ausmachen würden, bis Quintana im abschließenden Zeitfahren auf einem technisch anspruchsvollen Kurs mit einem sensationellen Ritt an den beiden vorbeizog.

Es sind Quintanas Qualitäten als Allrounder, die ihn bei einer dreiwöchigen Rundfahrt zu einem gefährlichen Herausforderer machen. Sein erstes Ausrufezeichen in Europa indes setzte er 2009 bei der Subida a Urkiola – ein heute nicht mehr existierendes Eintagesrennen mit Bergankunft, das als Rückspiel für die am Vortag ausgetragene Clásica San Sebastián galt. Auf dem Urkiola-Anstieg, dem wohl steilsten Berg im Baskenland, wurde Quintana in den Farben eines kleinen südamerikanischen Teams namens Boyaca es Para Vivirla (Boyaca muss man erleben) mit erst 19 Jahren Siebter. „Es war das größte Rennen, das das Team in jenem Jahr bestritt“, erzählt Quintana. „Ich war noch ziemlich jung und in dem Sommer gerade erst Profi geworden. Ehrlich gesagt hätte ich mir nie träumen lassen, dass ich dort so gut abschneiden würde, als ich gerade meine ersten Schritte machte. Das hat viele Türen für mich geöffnet.“ Es ist ein oft bemühtes Klischee, dass Sportler aus armen Verhältnissen hungriger auf Erfolg sind. In Quintanas Fall jedoch stimmt es. Er fing an zu arbeiten, sobald er laufen konnte, schob Gemüsekarren für seinen behinderten Vater, einen Gemüsehändler im ländlichen Kolumbien. Dennoch empfand er seine Kindheit nicht als hart. „Ja, wir haben schon sehr früh gearbeitet. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist, dass ich in einem Bus zwischen anderen Bauern und Säcken mit Obst und Gemüse sitze. Aber es war nicht schlecht. Es ist wie mit allem anderen – wenn man einmal damit angefangen hat, gewöhnt man sich daran. Wir hatten auch gute Zeiten.“

Auch andere Erfahrungen halfen Quintana, Ausdauer zu entwickeln – so etwa seine tägliche Radtour zur Schule von seinem Heimatort Combita nordöstlich von Bogotá. Dabei musste der junge Nairo jedes Mal erst einen Berg hinunterfahren und sich dann 16 Kilometer bergauf kämpfen. Seine Tage waren daher sehr lang, zumal er, wie viele andere junge Kolumbianer, nicht nur die Schule besuchte, sondern seiner Familie auch täglich bei der Arbeit half. „Combita liegt auf 1.700 Meter Höhe“, erzählt Quintana. „Aber mein Elternhaus war noch viel höher, auf 3.000 Metern. Meine Schule lag auf einem anderen Berg, in einem Ort namens Arcabuco. Der Anstieg dorthin hatte im Schnitt rund acht Prozent Steigung und war 16 Kilometer lang. Die Strecke bin ich drei Jahre lang – von meinem 15. bis 18. Lebensjahr – jeden Tag gefahren. Das hat mein Interesse am Radsport geweckt.“ Es gab keine Radsport-Tradition in seiner Familie, sagt er – „ich wäre nie auf die Idee gekommen“. Aber da der Anstieg auf Quintanas Schulweg so schwer war, nutzten einige Amateure aus der Gegend ihn zum Training, und eines Tages fuhr Quintana mit einer dieser Gruppen mit, um zu sehen, ob er mithalten konnte. „Sie traten immer wieder an, aber sie wurden mich nicht los“, sagt er mit einem Anflug von Stolz in seiner ruhigen Stimme. „Als ich zu Hause war, habe ich das meinem Vater erzählt, und er hat sich sehr gefreut. Er kaufte mir ein Rennrad, und dann fuhren wir zu den Dorfrennen.“
 
Von den Junioren machte er gleich den Sprung zum Continental-Team Boyaca, das ihn unter Vertrag nahm, als er 2008 bei der kolumbianischen Version der Tour de l’Avenir Dritter geworden war. So war Quintana schon in sehr jungen Jahren ein Überflieger und trat bei U23-Rennen an, ohne je als Amateur gefahren zu sein. „Als Junior gab es nicht viele Rennen auf meinem Niveau. Ich wurde Vierter oder Fünfter bei Bergzeitfahren, einmal Zweiter, aber ich fuhr gegen Jungs, die drei oder vier Jahre älter als ich waren.“ 2010 wechselte er zu Colombia es Pasión, als Boyaca seinen Sponsor verlor und keine Rennen mehr in Europa bestreiten konnte. „Colombia es Pasión wollte mich schon 2009 verpflichten, aber Boyaca war mein örtliches Team. Aber als Boyaca in die Amateur-Ränge abstieg, konnte ich bei Colombia es Pasión unterschreiben.“ Im selben Jahr folgte mit dem Sieg bei der Tour de l’Avenir ein weiterer Meilenstein, bevor er 2011 die Bergwertung der Volta a Catalunya gewann. „Das zeigt mir, dass ich gut fuhr, ohne allzu große Fortschritte zu machen.“ Es rettete auch seine Karriere. Quintana stürzte bei der Vuelta a Colombia, zog sich schwere Handgelenksverletzungen zu und musste zwei Monate pausieren. Doch bereits seit der Tour de l’Avenir 2010 hatte Movistar ein Auge auf ihn geworfen. Und dann beeindruckte Quintana wieder mit einem „sehr guten Zeitfahren bei der Vuelta a Castilla y León auf einem Rad, das gar nicht in meiner Größe war und mir nicht einmal gehörte“. So kam es, dass er 2012, obwohl er die Hälfte der Saison 2011 verpasst hatte, bei dem spanischen Rennstall unterschrieb. Der Kolumbianer, der auf dem täglichen Weg zur Schule einen 16 Kilometer langen Anstieg gefahren war, war endlich angekommen.

„Ich war bei Movistar vom ersten Monat an in guter Form und konnte von der Vuelta a Murcia an gewinnen. Ich schlug in Murcia einige bekannte Fahrer wie Samuel Sánchez und Robert Gesink“, sagt er. Damit ist Quintana der erste Kolumbianer, der sich im Zeitfahren hervortut, seit Victor Hugo Peña und Santiago Botero, der 2002 Zeitfahr-Weltmeister wurde und ein Zeitfahren der Tour de France gewann. „Ich bin in Murcia gut gefahren, allerdings hatte ich mein Land bereits bei der Weltmeisterschaft im U23-Zeitfahren vertreten“, betont er. „Ich gehöre nicht zu den Topzeitfahrern, aber wenn man sich die [anderen] Kletterer anschaut, kann ich bei den Zeitfahren immer mithalten.“ Murcia war ein Durchbruch, aber der größte war, Sky beim Critérium du Dauphiné auf dem Joux Plane zu bezwingen. Sky war, wie Quintana sich erinnert, „allen anderen weit überlegen und davor auf jeder Etappe erschreckend schnell. Uns blieb nichts anderes übrig, als an ihren Hinterrädern zu bleiben. Auf der Etappe zum Joux Plane fühlte ich mich gut, also attackierte ich, um zu sehen, wie weit ich kommen konnte, doch mehr als 20 oder 30 Sekunden konnte ich nicht herausfahren. Sky war immer nah hinter mir, sie waren so stark. Niemand sonst traute sich zu attackieren. Dort zu gewinnen, hat mir viel Selbstvertrauen gegeben, ich fühle mich jetzt in den französischen Bergen viel selbstsicherer“, sagt er. „Gleich nach der Dauphiné bin ich die Route du Sud gefahren und habe dort auch die wichtigste Bergetappe gewonnen.“ Nur, dass er dieses Mal einen noch größeren Vorsprung hatte: Er distanzierte seinen nächsten Verfolger, den sehr viel erfahreneren Herbert Dupont (AG2R), um eine Minute und den ebenso routinierten Anthony Charteau (Europcar) gleich um vier Minuten.

Dabei war ein Grund, warum Quintana auf der Abfahrt vom Joux Plane nach Morzine – eine der schwersten in den Alpen – die Verfolger auf Distanz halten konnte, dass er das falsche Rad fuhr. „Der Biomechaniker des Teams hatte Mist gebaut und mir ein Rad gegeben, das zu groß war, aber er bestand darauf, dass es das richtige sei“, erzählt Quintana. „Aber weil der Rahmen etwas länger war, fühlte ich mich in der Abfahrt sicherer. Erst in diesem Jahr und nachdem ich mich die ganze Zeit beschwert hatte, konnte ich sie überreden, mir ein Rad zu geben, das eine Nummer kleiner ist … die richtige Größe.“ Jetzt käme er die Berge gut runter, sagt der Kolumbianer, fühle sich aber nicht ganz so sicher, „obwohl ich mit dem neuen Rad viel besser klettern kann. Ich kann besser drücken und merke, dass das Rad schneller reagiert, wenn ich antrete“. Er lacht über die Idee, dass Movistar ihm für die Abfahrten ein anderes Rad geben sollte, aber vielleicht würde es sich lohnen, darüber nachzudenken.

 

Selbst mit dem falschen Rad trug Quintana wesentlich zum Erfolg seines Movistar-Teamkollegen Alejandro Valverde bei der Vuelta a España 2012 bei. Valverde wurde Gesamt-Zweiter und hätte das Rennen gewinnen können, wenn er sich nicht verkalkuliert hätte, als Contador auf dem Weg nach Fuente Dé attackierte. „Zur Vuelta kam ich direkt aus Kolumbien, wo es mittags zehn bis 20 Grad kälter war. Als ich in Pamplona bei 37 Grad am Start stand, kam mein Körper damit nicht zurecht. Zu Beginn der zweiten Woche hatte ich mich dann glücklicherweise an die Hitze gewöhnt und war bereit, Gas zu geben. Es war wirklich eine sehr schwere Vuelta.“

Bei der diesjährigen Tour will er vor allem „wieder Valverde helfen, er ist auf einem sehr guten Niveau“. Angesichts der gebirgigen Route der Tour und der Tatsache, dass Valverde in diesem Jahr 33 wurde, könnte es für den Spanier jetzt oder nie heißen. „Aber“, sagt Quintana, „wenn es Chancen für mich gibt, werde ich sie ergreifen.“ Quintana steht zusammen mit Sergio Henao, Rigoberto Urán (beide Sky) und Carlos Alberto Betancur (AG2R) an der Spitze einer neuen Generation kolumbianischer Kletterer. Aber obwohl er zu jung ist, um sich an die großen Kolumbianer bei der Tour in den 80er-Jahren zu erinnern, hat Quintana die kolumbianischen Fahrer der jüngeren Zeit noch gut im Gedächtnis und sagt, dass „es kein Comeback der Kolumbianer nach 30 Jahren ist. Wir waren die ganze Zeit da“. Er verweist auf Maurizio Ardila („einer von Denis Mentschows besten Domestiken“), Santiago Botero und Mauricio Soler („der große Leistungen bei Bergetappen der Tour de France abgeliefert hat und immer sehr beständig war“) als bekannteste kolumbianische Fahrer der letzten Jahre. „Und dann gab es den Zeitfahr-Spezialisten Victor Hugo Peña alias ‚El Tiburón‘ [der Hai], der 2003 als erster Kolumbianer das Gelbe Trikot des Spitzenreiters der Tour de France trug.“ Und der 2010 und 2011 eine Art Vaterfigur bei Quintanas zweijährigem Intermezzo bei Colombia es Pasión war.

Die Einführung des biologischen Passes, sagt er, habe dazu geführt, „dass es nicht nur ein oder zwei, sondern eine größere Zahl“ von Kolumbianern an die Weltspitze geschafft habe. Und damit haben sie auch einem interessanten Thema wieder zu Aktualität verholfen – den Vorteilen des Lebens auf großer Höhe. „Ich zum Beispiel lebe 1.800 Meter über dem Meeresspiegel. Ich bin auf dieser Höhe geboren und aufgewachsen, und ich glaube, das macht sich bemerkbar. Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wie sehr es sich auswirkt, weil es hier in Europa so viele gute Fahrer gibt.“ Quintana hat schon bewiesen, dass er Fahrern wie Richie Porte mehr als eben-bürtig ist – sogar, als der Australier nach seinem Sieg bei Paris – Nizza in Bestform war. Wie hoch kann er noch hinauskommen? Valverde zum Beispiel sagt, Quintana habe „eine enorme Zukunft, selbst wenn er noch sehr jung ist“, und gibt sich überzeugt: „Er kann eine Rolle als Teamkapitän spielen, wenn ich nicht da bin, wie er bei der Volta a Catalunya gezeigt hat.“ Was die diesjährige Tour angeht, so sagt Valverde, dass Quintana sein Debüt geben und „nach und nach etwas über das Rennen lernen“ werde. Könnte der Kolumbianer den Movistar-Kapitän in den Schatten stellen? Das werden wir im Juli sehen. Aber Quintana hat in diesem Frühjahr schon ein deutlich höheres Niveau erreicht. Und ohne den Druck der Kapitänsrolle könnte er viel mehr erreichen, als irgendjemand ihm zutraut – vor allem, wenn er das richtige Rad hat.



Cover Procycling Ausgabe 113

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 113.

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