Nichts stoppt die Tour de France

Im Exklusiv-Interview mit Procycling versichert Tour-Direktor Christian Prudhomme, dass nicht einmal der größte Dopingskandal des Sports der Tour entscheidend schaden könnte.

 

Wie hieß es einst: „Rien n’arrête le Tour de France“ – nichts stoppt die Tour de France. Ein halbes Jahrhundert später zeigt sich der aktuelle Tour-Direktor Christian Prudhomme ebenso unaufhaltsam, als ihn Procycling mit einer schwierigen Grundsatzfrage konfrontiert: Wenn die Tour in diesem Juli alle noch lebenden Profis einlädt, die das Rennen bis Paris durchgehalten haben – wird dann auch Lance Armstrong unter ihnen sein?

Ohne großes Zögern erwidert er in unmissverständlichem Tonfall: „Ich sage Ihnen ganz deutlich – es erscheint mir als nicht allzu wichtig.“ Danach wechselt der ehemalige Fernsehkommentator und Journalist Prudhomme, der 2005 das Amt des Tour-Direktors übernommen hatte, wieder in seinen Normalton. In halsbrecherischem Tempo liefert er eine höchst leidenschaftliche Beschreibung seiner Bewunderung für das Rennen, das er so sehr liebt. Als Kind verbrachte Prudhomme seine Freizeit damit, imaginäre Routen für Etappenrennen zu entwerfen. Der von ihm und seinem Management entworfene Grand Départ für 2014 könnte mit seinen drei Etappen in Großbritannien zumindest bei den dortigen Fans für eine ähnlich kindliche Begeisterung sorgen. „2013 haben wir mit Korsika den südlichsten Start in der Geschichte der Tour, und 2014 folgt dann der nördlichste“, erklärt Prudhomme. Und führt ergänzend aus, dass Yorkshire nicht so weit von der Tour entfernt sei, wie es scheine, weder kulturell, noch geographisch. Seiner Ansicht nach ist diese Nähe eine der wichtigsten Zutaten bei der Gestaltung der Strecke. „Egal, wo wir starten, ich glaube, dass es irgendeine historische Verbindung zum Rennen geben muss. Yorkshire hat diese durch Fahrer wie Brian Robinson in den 1950ern, Tom Simpson in den 1960ern und einige andere im letzten Jahrzehnt.“ Das britische Gastspiel der Tour begründet er mit der dort in den vergangenen 20 Jahren etablierten Tradition für Bahnrennen, außerdem mit der „öffentlichen Begeisterung beim Grand Départ in London 2007 und den Jubelstürmen, die ich beim olympischen Zeitfahren erleben durfte. Beides verdeutlicht den unglaublichen Support“.
 
„2014 ist sowohl eine Anerkennung dafür, was Großbritannien dem Radsport bereits gegeben hat, als auch dafür, was es bezüglich der zukünftig wachsenden Internationalität des Sports zu leisten imstande ist. Wiggins ist Tour-Sieger, wurde in Belgien geboren und hat einen australischen Vater. Der zweitplatzierte Froome wurde in Kenia geboren, wuchs in Südafrika auf und besitzt einen britischen Pass. Großbritannien steht sinnbildlich für die Öffnung des Radsports für alle erdenklichen neuen Länder und deren Radsporttradition.“ Um diesen Punkt zu unterstreichen, erzählt Prudhomme von einem Besuch in einem Pub in Yorkshire. Dort hatte der Wirt nach Bekanntwerden des Grand Départ 2014 eine Wand weiß mit roten Punkten, eine andere gelb und eine weitere grün gestrichen. „Ich sagte ihm, er müsse englischsprachiger Belgier sein, und als er mich fragte, wieso, sagte ich: ‚Weil niemand den Radsport so sehr liebt wie die Belgier!‘ Auf der Tafel für die Tagessuppe stand sogar ein Countdown – X Tage bis zum Grand Départ!“
Prudhomme macht aber auch klar, dass noch vor 15 Jahren „ein Start in Yorkshire nicht selbstverständlich gewesen“ wäre. „Als wir festlegten, in Harrogate zu starten, stellte sich heraus, dass es nicht unweit von dem Ort war, an dem Mark Cavendish als Kind immer seine Ferien verbrachte. Es war keine Absicht, doch niemand will mir das glauben! Großbritannien ist inzwischen eine Weltmacht im Radsport, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Als ich mich in Harrogate mit den Verantwortlichen traf, erzählten fünf von zehn Anwesenden, wie sehr sie die Tour liebten, und die übrigen fünf sagten, dass sie auch Radfahren würden!“ Der Tour-Chef ist überzeugt davon, dass die Begeisterung in Großbritannien nicht nur eine Seifenblase ist, die beim kleinsten Widerstand zu platzen droht – wie es nach dem Tour-Sieg durch Jan Ullrich hierzulande geschah –, und er betont: „Die Begeisterung des Landes fußt nicht nur auf einem, sondern auf mehreren Fahrern. Momentan ist es nach seinem Tour-Sieg natürlich Wiggins, vor ihm war es Mark Cavendish, und vor vier oder fünf Jahren war es Chris Hoy. Ich denke, man kann durchaus von einem fest verwurzelten Interesse sprechen. Selbst auf der politischen Bühne stand der Radsport im Rampenlicht, als Ken Livingstone [der ehemalige Bürgermeister von London] 2007 das Rennen dazu nutzte, die Leute zum Radfahren zu animieren. Ich habe zwar keine aktuellen Zahlen, aber 2008 war es zumindest so, dass zehn Prozent mehr Menschen Rad fuhren. Dieser Anstieg dauert bis heute an.“
Ist Großbritannien also die berühmte Ausnahme von der Regel? Immerhin schwanken die französischen Einschaltquoten für die Tour, und man verlässt sich zunehmend auf eine ältere Altersgruppe; dasselbe gilt für die andere große Radsportnation Italien. „Trotz der generellen Probleme im Profi-Sport und trotz des Dopings hatten wir noch nie so viele Bewerbungen aus so vielen Städten für einen Start, ein Ziel oder den Grand Départ,“ erzählt Prudhomme, bevor er diesen Umstand umgehend einordnet: „Aber wir sprechen hier nun einmal von der Tour.“ Die einzigen Grenzen für die Tour sind momentan logistischer Natur. „Zurzeit steht ein Start in Australien nicht zur Diskussion, denn es ist einfach nicht praktikabel. Bezüglich der Geschichtsträchtigkeit sieht es anders aus – Australien hat so viele großartige Fahrer und mit Cadel Evans 2011 zudem einen Tour-Sieger. Außerdem gibt es mit der Tour Down Under noch ein wirklich tolles Rennen. Sollte es allerdings irgendwann einmal möglich sein, von Paris in zwei Stunden nach Sydney zu kommen – wer weiß? Entscheidend ist vielmehr die ‚Natürlichkeit‘. Gibt es keine Champions, keine Geschichte und keine Radsportkultur, dann macht es einfach keinen Sinn.“
 
Wie Prudhomme erklärt, waren bei der Gestaltung der Strecke der 100. Tour vor allem die Orte und Ziele von Bedeutung, „die die Tour zu dem gemacht haben, was sie heute ist. 2003 entschied sich Jean-Marie Leblanc für eine Strecke auf Grundlage der ersten Tour von 1903, und 2010 hatten wir vier Etappen in den Pyrenäen, um den ersten Besuch dort im Jahr 1910 zu feiern. 2011 gab es eine Bergankunft auf dem Galibier, ebenfalls zum Jubiläum. Als wir uns dann Gedanken über die Strecke 2013 machten, ging es darum, was wir uns vorstellen, wenn wir über die Tour sprechen, und was sich die Leute vorstellen, wenn sie über Frankreich sprechen. Wenn es um die Tour geht, sprechen sie über den Mont Ventoux und Alpe d’Huez. Aber was ist mit Frankreich? Die Leute sprechen über Versailles, über Mont Saint-Michel. Letzterem haben wir bisher nur einmal, 1990, einen Besuch abgestattet. Der zweite muss in diesem Jahr folgen, denn die dortigen Straßenbauarbeiten werden eine spätere Rückkehr der Tour unmöglich machen.
In Versailles gibt es im Park eine sieben Kilometer lange neutralisierte Rennphase. Jahrelang haben wir darüber verhandelt, und für das 100. Jubiläum hat es nun endlich geklappt. Das Gleiche gilt für die Ankunft zum Sonnenuntergang auf den Champs-Élysées und für die Umrundung des Eiffelturms. Für das Jubiläum wollten wir sichergehen, dass wir den Leuten etwas Besonderes bieten können.“
Dazu gehört auch die Tribüne auf dem Place de la Concorde, eigens errichtet für die Fahrer, die die Tour bezwingen konnten. „Sie sind Teil der Legende des Rennens,“ schwärmt Prudhomme. „Die Giganten der Tour sind nicht zwangsläufig berühmt. Man kann es ein wenig mit einem unbekannten Soldaten vergleichen – es muss nicht immer jemand mit hohem Bekanntheitsgrad sein, der die wahren Werte der Tour verkörpert, nämlich Mut und Teamgeist. Daran sollte man sich immer wieder erinnern, und wir sind sehr glücklich darüber, dass die Vereinigung älterer Fahrer unter Führung von Jean-Marie Leblanc sich dafür entschieden hat.“
Auch wenn es bei der Tour 2013 vor allem darum geht, sich der langen und legendären Geschichte des Rennens bewusst zu werden, bleibt trotzdem Platz für Neuerungen. Man nehme beispielsweise den erstmaligen Start auf Korsika – jahrelang war es die einzige Region Frankreichs, die nie um eine Etappe der Tour gebeten hatte. Dazu kommt, wie Prudhomme betont, „die erste Gelegenheit für einen Sprinter seit 1966, am Ende der ersten Etappe das Gelbe Trikot überstreifen zu dürfen. Wir hatten zwar zuvor bereits Flachetappen am ersten Tag [2007 und 2011], jedoch immer mit einer ansteigenden Zielgeraden. Dieses Mal ist es ziemlich flach. Danach ziehen wir die Schrauben bezüglich des Terrains an. Die zweite Etappe hat einen sehr steilen Anstieg, und die darauffolgende Etappe bietet entlang der Küste über 145 Kilometer Tausende von engen Kurven; die 180 Fahrer werden unmöglich alle zusammen ins Ziel kommen können“.
Prudhommes Ziel ist also, sicherzustellen, dass die Jubiläumstour mit einem würdigen Start beginnt. Und was ist mit der restlichen Strecke für 2013? „Am ersten Wochenende warten die Pyrenäen, danach Mont Saint-Michel, dann geht es diagonal durch Frankreich, den Alpen und dem Mont Ventoux entgegen.“ Für ihn liegt der Höhepunkt eindeutig in den Alpen: „Ist man Kletterer und liegt vier Minuten zurück, schaut man sich die Route an und sieht, dass drei große Bergetappen warten. Dann sagt man sich: ‚Alles klar, hier muss ich jeden Tag 90 Sekunden gutmachen.‘“
Dass ein Kletterer so plant, ist natürlich reine Spekulation, doch Prudhomme hat begriffen, dass er lediglich die Bühne für das große Schauspiel der Tour bieten kann. Sollten die Fahrer die Möglichkeiten der Strecke nicht ausnutzen (wie etwa 2004 auf der Mittelgebirgs-etappe nach Saint Flour, die auf dem Papier vielversprechend aussah, aber letztlich nicht wirklich Action bot), dann wird diese Tour wenigstens für ihre Neuerungen und ihre Verneigung vor der Geschichte in Erinnerung bleiben.
Prudhomme versichert, dass die Strecke nicht zum Vor- oder Nachteil eines bestimmten Fahrers konzipiert wurde, sondern vielmehr auf ein Aufeinandertreffen der Topfahrer hinarbeitet. Allerdings ist auch dies nur bis zu einem bestimmten Punkt planbar. Der Tour-Chef wird nachdenklich, als er sich an die letztjährige Etappe nach Porrentruy erinnert, wo Thibaut Pinot zu einem Solosieg fuhr: „Können Sie sich vorstellen, was Contador dort hätte tun können? Man kann es nur bis zu einem gewissen Punkt planen. Nach 2011 haben wir mehr Zeitfahrten hinzugefügt, um die Sache für 2012 ausgeglichener zu gestalten. So kurzfristig war allerdings lediglich eine Änderung von ungefähr zehn Kilometern möglich. 2012 hatten wir dann keinen Contador, keinen Andy Schleck und einen Wiggins, der stärker war als jemals zuvor. 2012 haben wir uns verzockt [mit dem Wunsch, dass die Strecke einen Showdown der Favoriten fördern sollte].“

 

Welche Eigenschaften der Tour möchte Prudhomme bewahren, nun, da das 100. Jubiläum vor der Tür steht? „Die Art und Weise, wie die Kinder die Tour sehen, wenn sie an ihnen vorbeizieht. Mein ultimatives Ziel als Direktor ist es, diesen Enthusiasmus zu bewahren. Im März war ich beim Critérium International; ich hatte viele Meetings und konnte nicht zu dem von uns am Vormittag organisierten Juniorenrennen gehen. Allerdings habe ich die Kinder hinter den Absperrungen gesehen, wie sie mit vor Bewunderung funkelnden Augen die Fahrer beim Zeitfahren beobachtet haben. Ich habe eines von ihnen eingeladen, einem Fahrer in einem offiziellen Auto zu folgen – es sagte nur ‚Ja, ja ja!‘. Der Blick in seinen Augen war derselbe, den ich auch als Kind hatte, als ich die Tour gesehen habe. Das gilt es zu bewahren. Seine geographische Dimension, die Tatsache, dass die Rennen ebenso an Bergpässen wie auf Kopfsteinpflaster-Passagen stattfinden, bietet dem Radsport die große Möglichkeit, die Gesellschaft in seinen Bann zu ziehen – viel mehr, als es ein Stadion oder ein Tennisplatz vermögen. Obwohl wir also auch zurückblicken, sollten wir nicht zu sehr in Nostalgie verfallen. Wir müssen den Blick auch in die Zukunft richten.“
Prudhomme ist außerdem verpflichtet, die Tradition fortzuführen, immerwährend neue Schauplätze für das Rennen zu finden, um die Strecke „frisch“ zu halten. Dies gilt insbesondere deshalb, weil einige Türen zur großartigen Vergangenheit der Tour inzwischen zugefallen sind: „Wir würden gerne zum Puy de Dôme zurückkehren. Allerdings ist die Straße inzwischen einer Zugstrecke gewichen und endet in einer Sackgasse.“ Also wird uns eine Wiederholung des berühmten Duells zwischen Poulidor und Anquetil im Jahr 1964 leider versagt bleiben.

Es gibt noch andere unüberwindbare Hindernisse bei der Routenplanung, beispielsweise das Terrain mancher Regionen Frankreichs. „Zieht man eine imaginäre Linie zwischen dem Baskenland und Elsass-Lothringen, liegen links davon keinerlei Berge. Allerdings befinden sich eben dort auch die drei Regionen Frankreichs, die das Radfahren am allermeisten lieben: die Bretagne, die Normandie und der Norden. Es ist nicht wie in Spanien oder Italien, wo man gewissermaßen überall Berge hat. Wir stehen somit vor der Herausforderung, dort Anstiege und andere Besonderheiten zu finden, die die Gegend interessant machen.“ Besonderheiten wie die Mûr de Bretagne, die, wie sich Prudhomme erinnert, erst zwei Tage vor der finalen Deadline für die Route der Tour 2011 am 15. September 2010 bestätigt wurde. Der Grund dafür war ein Bauer, der eine astronomische Pacht für sein Feld verlangte und somit eine vorherige Etappenankunft in einem nahe gelegenen Ort verhinderte. 
„Dies führte zum Finish auf der Mûr de Bretagne – wir waren zwar bereits 25 oder 30 Mal vorbeigekommen, hatten aber nie gedacht, sie als Etappenziel einzuplanen. Es war nicht nur das – die größte Belohnung für diese Beharrlichkeit war die Tatsache, dass der dortige Gewinner Cadel Evans schlussendlich auch der Sieger der Tour de France wurde. Außerdem ist sie nun auch ein Etappenziel bei der Amateurausgabe der Tour de Bretagne und etabliert sich damit zunehmend. Wir sind allerdings keine Idioten. Am Cap Fréhel – ein Ort, der ökologisch besonders interessant ist – kamen wir 2011 nie wirklich vorbei. Wir haben es umfahren und den Namen behalten. Die Öffentlichkeit konnte das Rennen im Fernsehen verfolgen, die Strecke allerdings sparte den Ort aus. Es wird jedoch immer schwerer, unsere Vorstellungen umzusetzen. Man muss immer mehr Genehmigungen einholen.“
Trotzdem: Prudhommes Enthusiasmus für das Rennen hilft ihm dabei, die immer größer werdenden Herausforderungen zu meistern und die Hindernisse zu überwinden – auch nach Armstrong, Landis oder Riccardo Riccò. Plötzlich sagt er: „Die schönste Erinnerung als Direktor ist der Galibier 2011. Drei Jahre zuvor, also 2008, war ich dort mit Bernard Thévenet, wir haben am Gipfel einen Kaffee getrunken und zwei junge Frauen getroffen. Die beiden waren Touristinnen aus Singapur und auf einem typischen Kurztrip durch Europa – Madrid, Paris, London und der Galibier, den sie ausschließlich von der Tour de France kannten. Als sie hörten, dass der Kerl neben mir die Tour tatsächlich einmal gewonnen hatte, konnten sie es nicht fassen. Dann, am Tag der Etappe selbst, begab ich mich mit Eddy Merckx auf den Gipfel des Izoard. Bernard Hinault und Bernard Thévenet warteten dort auf uns, um am Denkmal für Louison Bobet und Fausto Coppi einen Kranz niederzulegen. Als wir dann warteten, hörten wir plötzlich ‚Attacke von Andy Schleck‘ – mit einem Mal war ich wieder wie ein kleines Kind, das die Legenden der Tour bewundert. Dann kam Andy Schleck vorbei, Thomas Voeckler konnte das Trikot verteidigen und Cadel Evans tat, was nötig war, um das Rennen zu gewinnen. Die Belohnung war um ein Tausendfaches höher als das, was ich dafür geleistet hatte. In diesem Moment war ich nicht mehr Tour-Direktor, nein, ich war ein träumender kleiner Junge.“



Cover Procycling Ausgabe 113

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 113.

Heft Bestellen