Mit frischer Kraft zum zweiten Double

Ein drittes Mal Paris – Roubaix zu gewinnen und damit ein sechstes „Monument“, brachte Fabian Cancellara an den Rand seiner unglaublichen Leistungsfähigkeit. Im Gespräch mit Procycling bekennt er, zwischendurch von Zweifeln geplagt gewesen zu sein, doch mit schierer Kraft und Renninstinkt fuhr er zu einem seiner schönsten Erfolge. Am Ende der Klassiker-Saison steht nun eine neue Herausforderung – ein Titel, der ihm bislang fehlt …

 

Er sah aus, als hätte er einen Faustkampf ohne Handschuhe bestritten, saß mit benommenem Blick und staubbedeckt auf dem Boden. Der feine graue Staub aus den Feldern, durch die er gerade gefahren war, war in jede Pore seines Gesichts eingedrungen. Wo er sich mit dem Speichel aus seinen Lippen verband, sah es aus wie getrocknetes Blut. Er sah aus, als hätte er sich aus der Hölle herausgekämpft – so, wie ein Sieger von Paris – Roubaix aussehen sollte.
Der Erfolg bei Paris – Roubaix 2013 hatte Fabian Cancellara ganz schön mitgenommen. Es war „der körperlich anstrengendste und heldenhafteste Tag. Ich wusste nicht, wo ich war“, sagte er, wobei er jene dunklen Randzonen an den äußersten Grenzen seiner erstaunlichen körperlichen Leistungsfähigkeit meinte. „Ich bin für Flandern und Roubaix geschaffen. Wenn ich jetzt all die Monumente sehe, sehe ich, dass sie auf einzigartige, besondere Weise gewonnen werden.“ Vier Tage nach seinem Sieg in Roubaix war Cancellara schließlich wieder zu Hause in der Nähe von Bern – entspannt zwar, doch er zahlte noch den Preis für seinen Ritt über die Pflastersteine. Es ist das erste Mal, dass er die Nachwirkungen eines Rennens so lange spüren musste – die Sehnen entzündet , die Beinmuskulatur überansprucht. Der Reifendruck war vielleicht zu hoch, schließt er daraus.

Doch die Schmerzen lassen nach. Und während Cancellaras Kräfte zurückkehren, kann er auf seine Erfolge des Frühjahrs zurückblicken: das zweite Flandern-Roubaix-Double in seiner 13-jährigen Laufbahn und ein dritter Sieg beim E3 Prijs Vlaanderen-Harelbeke. Auf längere Sicht betrachtet, kann der Schweizer zufrieden damit sein, seine außerordentlich beständige Bilanz bei diesen Frühjahrsklassikern weiter ausgebaut zu haben. Bei den letzten drei Auflagen von Mailand – San Remo, Flandern und Paris – Roubaix, die er zu Ende fuhr – also ohne die nicht beendete Flandern-Rundfahrt im letzten Jahr – kam er stets aufs Podium. Und zum ersten Mal in fünf Monaten hatte er auch wieder Zeit, sich seiner Familie und seinen Aufgaben im Haushalt zu widmen. Cancellara braucht die Auszeit. „Am wichtigsten ist es jetzt, wieder auf den Boden zu kommen und ein normales Leben zu führen. Du kannst das Gefühl für Siege verlieren, und zu Hause ist es dasselbe – du verlierst den Kontakt zu den normalen Dingen. Einfach wieder hier zu sein und zu putzen und zu spülen – ich brauche das. Ich brauche meine Ruhe.“

In sportlicher Hinsicht ist es eine Neuauflage der Saison 2010, nur schöner, denn er erzielte die Siege dieses Mal nach einem verkorksten Jahr 2012, in dem Verletzungen und Turbulenzen im Team unwillkommene Ablenkungen darstellten. Für Cancellara ist das Leben also in Ordnung. Nachdem er sich monatelang konzentriert hat, kann er endlich abschalten. Manchmal wirkt er während des Interviews – mit Blick auf die Altstadt von Bern – fast zu entspannt. Er greift Ideen und Gedanken auf, um sie wieder fallen zu lassen, bevor er sie zu Ende führt. Aber so ist Cancellara: immer lebhaft, immer schon beim nächsten Schritt, sei es in Gedanken oder bei einem Rennen. 

Paris – Roubaix war ein höllisches Rennen. Alle Kopfsteinklassiker waren das, und damit erlaubten sie Cancellara, das ganze Ausmaß seines Könnens zu demonstrieren. Bei E3 Harelbeke und Flandern sahen die Fans einen klassischen Cancellara im oberen Drehzahlbereich. Seine Fähigkeit, im entscheidenden Moment einen Gang hochzuschalten, war eindrucksvoll, und er beendete beide Rennen als Solist. Aber seine diesjährigen Rivalen – vor allem Peter Sagan und Sep Vanmarcke, die bei Flandern beziehungsweise Roubaix Zweiter hinter Cancellara wurden und das durch einen erst indisponierten, dann verletzten Tom Boonen erzeugte Vakuum ausfüllten – mussten in den Wind gehen, als sie mit ihm fuhren.

Cancellaras Bereitschaft, andere arbeiten zu lassen, war neu. Sie schlich sich in ein Repertoire ein, das einmal nur aus schierer Power zu bestehen schien. Es war, als hätte Cancellera irgendwann zwischen den Olympischen Spielen und den Klassikern eine tief sitzende Angst vor der Niederlage abgeschüttelt, und überraschenderweise trug das zu seinem Sieg bei. Bei Roubaix kam alles zusammen: die Kraft, die Taktik und das Glück. „Das Peloton wollte mich und mein Team zerstören“, sagte Cancellara. „Irgendwie haben sie das Team gesprengt, und wir kamen in Schwierigkeiten. Ich war früh auf mich allein gestellt“, erinnert er sich wenige Tage später an das Rennen. Isoliert auf den Straßen Nordfrankreichs, umgeben von einem Pulk von Omega-Pharma-Quick-Step-, Blanco- und BMC-Fahrern, gab es Momente, in denen er zweifelte – als ob er gegen das Pavé kämpfen würde, statt darüber hinwegzugleiten.

„In Flandern war ich sehr stark, aber bei Roubaix hatte ich nicht dasselbe Gefühl – ich spürte diese Anspannung“, erklärt er. „Ich verlor im Rennen die Zuversicht. Vor Arenberg brauchte etwas zu essen, aber als ich mich zum Auto zurückfallen ließ, gab mir das etwas mehr – als sei da eine Aura um das Auto herum. Ich entspannte mich und sprach kurz, aber nicht über Funk. Einfach direkt mit Dirk Demol und dem Mechaniker, und das gab mir dieses gewisse Extra.“
Cancellara könne sich nicht erinnern, sagt er, wie er die letzten 40 Kilometer gefahren sei. „Ich habe den Schlüssel zu diesem Sieg noch nicht gefunden“, überlegt er, bevor er sich verschwörerisch über seine heiße Schokolade beugt. „Ab einem bestimmten Moment – die letzten 40 bis 20 Kilometer – ich weiß nicht … Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Ich hatte nur den Stöpsel im Ohr, der mir versicherte, dass ich stark bin, dass ich gut bin und dass sie alle erledigt sind“, sagt er.

Cancellara täuschte keine Erschöpfung vor, als er sich zum zweiten Mal zum Mannschaftswagen zurückfallen ließ, betont er. Den Ausflug zum Auto missdeuteten Vanmarcke und andere als Zeichen der Schwäche, als Signal, entwischen zu können. Vielleicht war es nur ein zweiter Abstecher zum Auto, um sich in der Aura des Wagens zu sonnen, aber was auch immer der Grund war – er säte den Samen, aus dem sein Sieg erwuchs. Das Glück kam kurz darauf ins Spiel, als die Omega-Pharma-Quick-Step-Fahrer Stijn Vandenbergh und Zdenek Štybar sich durch Kollisionen mit Zuschauern von Cancellaras Hinterrad abkoppelten. Aber trotz des Motivationsschubs aus dem Mannschaftswagen beim finalen Kopf-an-Kopf-Rennen mit Vanmarcke zügelte Cancellara seinen Impuls, die Führungsarbeit zu leisten, was ihn wahrscheinlich den Sieg gekostet hätte. „Ich bin mit weniger Instinkt gefahren. Als Vanmarcke und ich 40 Sekunden hatten, war ich auf Draht und hart zu mir. Ich sagte ihm: ‚Ich mache nicht Tempo bis ins Ziel.‘ Ich musste mein Spiel spielen“, sagt Cancellara. Und so warf Cancellara nach fünf unteren Podiumsplätzen bei Frühjahrsklassikern in drei Jahren endlich die Rolle des willigen Zugpferdes ab und handelte überlegt.

Sein aktueller Reigen von Frühjahrssiegen gründete sich auf einen anstrengenden Winter, der sich an ein enttäuschendes Jahr 2012 anschloss. Als Cancellara Anfang Februar bei der Katar-Rundfahrt an den Start ging, hatte er fast sechs Monate kein Rennen mehr bestritten. Er war auch kaum zu Hause gewesen. Von Ende November bis zum Ende der Klassiker hatte er so gut wie nie in seinem eigenen Bett geschlafen. Vielleicht hin und wieder eine Nacht, und seine Frau Stephanie und die beiden Kinder hatten ihn im Trainingslager und bei Rennen besucht, aber es waren nur sehr wenige entspannte Stunden zu Hause. Selbst nach seiner Rückkehr von Roubaix lebt er gewohnheitsmäßig weiter aus dem Koffer; nicht einmal seinen Kulturbeutel hat er ausgepackt. 

Die Vorbereitung im Winter lief nicht immer glatt. Beim zweiten Trainingslager des Teams im Januar in Benidorm tat sich Cancellara schwer. „Ich war schlecht im Vergleich zu den anderen“, erinnert er sich. „Ich hatte gut trainiert, aber sie waren besser – irgendwie stärker.“ Die Pflichten des Trainingslagers riefen. Der Schweizer war die Galionsfigur des Teams geworden, da Fränk Schleck gesperrt war und sein Bruder Andy nach seiner Hüftverletzung nur langsam wieder in Form kam. Die Lösung war, sich in die Arbeit zu stürzen. Cancellara verzichtete auf Heimreisen und setzte stattdessen auf ein schlichtes Trainingslager mit seinem Teamkol-legen Jaroslaw Popowitsch in Spanien. „Training, Ausruhen, Essen, Massage, Training – und das zehn Tage am Stück, und es lief viel besser. Keine Presse, keine Fotos, niemand; nur gutes Wetter, und das brachte mich nach vorn“, sagt Cancellara und beendet den Satz mit einer Geste der Geschwindigkeit. Beim Strade Bianche Anfang März – ein Rennen, das er zweimal gewinnen konnte, aber dieses Mal als Vierter beendete – näherte sich Cancellara seiner Form, auch wenn er noch nicht ganz so glänzend aufgelegt war wie rund drei Wochen später. „Ich bin zufrieden mit meiner Leistung hier, weil es ein schweres Rennen war – schwerer als letztes Jahr, als ich gewonnen habe. Es war ein guter Formtest, und ich bin zufrieden damit, wo ich jetzt stehe“, sagte er hinter der ZielIinie.

Von da an holte sich Cancellara den Feinschliff nach einer bekannten Formel: „Tirreno gibt dir den letzten Schliff für San Remo; bei San Remo bekommst du die vielen Kilometer in die Beine, die du für Flandern und die späteren Rennen brauchst. Andere Leute trainieren für Rennen“, sagt er mit einem Seitenhieb auf das Team Sky, dessen Klassiker-Fraktion das kalte Belgien mied und stattdessen auf der Sonneninsel Teneriffa trainierte. „Ich trainiere, und dann brauche ich die Rennen und ein bisschen Training für die großen Rennen“, erklärt er. „Du hast Sky jetzt gesehen – sie waren auf Teneriffa und haben dann nur die belgischen Rennen bestritten – kein Tirreno – Adriatico, kein Paris – Nizza …“
Haben sie damit einen großen Fehler gemacht, fragt Procycling? Aber dafür ist Cancellara zu diplomatisch: „Für sie ist es okay, glaube ich … Aber diese Rennen bringen dir was, sie härten dich ab, weil du die richtige Umgebung hast.“

Schön herausgefahren mag der Roubaix-Sieg gewesen sein – sicherlich stellte er Cancellaras 2008er-San-Remo-Sieg in puncto Drama in den Schatten –, aber es ist dennoch ein Wiederholungserfolg. Es sind neue Siege, die den Schweizer Fahrer motivieren. Beweisstück A ist seine Einstellung zu Zeitfahren. Zu sagen, dass sie ihn nicht mehr interessieren, wäre übertrieben, allerdings nur leicht. Die Disziplin, die ihn berühmt machte und berüchtigt, ihm vier Regenbogentrikots einbrachte und die Rekordzahl an Tagen im Gelben Trikot der Tour, ohne das Rennen zu gewinnen, gibt ihm heute nicht mehr viel. „Ich bin überhaupt nicht hungrig auf Zeitfahren. Ich mache es, weil es halt meine Aufgabe ist. Wahrscheinlich brauche ich ein, zwei Ohrfeigen und einen Neustart“, scherzt Cancellara, wohl wissend, dass auch das seine Meinung nicht ändern würde.

 

Beweisstück B im Fall von Cancellaras Rastlosigkeit ist sein Programm für das restliche Jahr 2013. Kein Giro d’Italia und auch keine Tour, stattdessen fährt er die Vuelta a España, um sich auf die Weltmeisterschaft vorzubereiten, die in Florenz auf einem extrem anspruchsvollen Parcours mit einem 4,6 Kilometer langen Anstieg im abschließenden Rundkurs ausgetragen wird. Als Fahrer der modernen Zeit, in der das Spezialistentum dominiert, ist das geschichtsträchtige Regenbogentrikot des Weltmeisters die eine klaffende Lücke in Cancellaras Palmarès. All das wirft eine interessante, wenngleich hypothetische Frage auf: Würde Cancellara den neuerlichen Erfolg in Roubaix gegen einen Sieg beim letztjährigen olympischen Straßenrennen tauschen? Immerhin lag der Schweizer in London auf Medaillen-Kurs, bis er eine untypische Konzentrationsschwäche zeigte und in einer Rechtskurve in die Absperrung fuhr. Eines der denk-würdigsten Bilder von ihm ist, wie er sich an der Schulter eines Teammitarbeiters ausweint, nachdem er die Ziellinie lange nach dem Sieger Alexander Winokurow überquert hat.

Cancellara betont, dass er schon zwei Olympia-Medaillen besitzt: ein Zeitfahr-Gold und ein Straßenrennen-Silber aus Peking. Aber das beantwortet die Frage nicht: Olympisches Gold im Straßenrennen oder ein weiteres Roubaix?
Cancellara schaut weg, denkt einen Moment nach und gibt dann eine überraschende Antwort: „Olympia und Flandern im letzten Jahr waren, glaube ich, die schwersten Momente in meinem Sportlerleben. Das waren Momente, wo ich wirklich das Gefühl hatte, etwas verloren zu haben. Ich meine, die Goldmedaille war in Reichweite. Natürlich wäre es klasse, es wäre toll, als Rennfahrer diese Medaille zu haben – gerade in meinem Land, wo Olympia mehr zählt als die normalen Rennen …“ Er hält kurz inne. „Aber nein, lassen wir das“, sagt er schließlich. So gerne er auch Häkchen hinter neue Siege machen würde, haben die „Primavera“ und die Kopfsteinpflaster-Klassiker ihn tiefer und fester im Griff als neue Erfolge. Es ist bezeichnend für Cancellaras komplexe Einstellung zu seinem eigenen Erfolg.

Überraschenderweise weiß er nicht genau, wie viele Siege er in seiner Karriere gefeiert hat, sagt Cancellara. Es sind mehr als 80 Siege bei UCI-Rennen inklusive Zeitfahren – aber für ihn ist jeder besonders. „Jeder wurde auf andere Art erreicht. Nicht nur bei Bergankunften oder so was … diese Art von Sieg habe ich nicht in meinem Palmarès, und das macht meine Siege zu etwas Besonderem. Das will ich nicht ändern.“ Schon zu Beginn der Saison sah es so aus, dass Cancellaras alter Widersacher Tom Boonen nicht so stark sein würde wie 2012. In einem verkorksten Winter war Boonen erst mit Darmproblemen im Krankenhaus und musste sich dann wegen einer Ellenbogenverletzung operieren lassen. Es hatte nie den Anschein, als ob Boonen seine bestechende Form vom Vorjahr wieder erreichen würde.

Seit fast einem Jahrzehnt sind Cancellara und Boonen die Titanen der Klassiker. 2011 neutralisierten sie sich gegenseitig, wovon andere profitierten, aber trotzdem haben sie zusammen in den letzten fünf Jahren bei Flandern und Roubaix sieben von zehn möglichen Titeln geholt. Dennoch scheint das Duo jedes Jahr abwechselnd Sonne und Neumond zu spielen: Der eine überstrahlt alles, während der andere durch Abwesenheit glänzt. In diesem Jahr musste Boonen wieder zuschauen, erholte sich nie ganz von den Zwischenfällen im Winter, und sein Frühjahr gipfelte im Ausstieg aus der Flandern-Rundfahrt auf einem Grünstreifen kurz nach dem Start in Brügge.

Dieses Jahr war zweifellos der Punkt, an dem sich die Nachfolger dieser beiden Titanen endgültig herauskristallisierten. Peter Sagan, der 23 Jahre alte Slowake, war durchgehend stark und entwickelte sich zum Hauptherausforderer. Sep Vanmarcke bewies in Roubaix jede Menge Mut, Köpfchen und Talent und könnte sich zum Spezialisten und Bannerträger entwickeln, sollte er einen ungebrochenen Lauf bei den Klassikern haben. Dahinter rangieren der Europcar-Fahrer Damien Gaudin, der trotz seines ungelenken Stils vielversprechend war, und der 26 Jahre alte Norweger Alexander Kristoff, der bei elf Rennen, von Mailand – San Remo bis Paris – Roubaix, zehnmal in die Top Ten fuhr. Sie sind alle Anfang bis Mitte 20 – eine neue Generation, die die 32 Jahre alten Helden Cancellara und Boonen wohl eines Tages ablösen wird.

Es war der Wheelies darbietende und popokneifende Sagan, der sich als gefährlichster Rivale entpuppte, sowohl auf der Straße als auch im medialen Rampenlicht. Seit Cancellaras „großbürgerlicher Geringschätzung“ – wie cyclingnews.com es treffend nannte – für Sagans Taktik auf der 1. Etappe der Tour, sich erst an das Hinterrad des Schweizers zu heften und dann überschwänglich über seinen Sieg zu jubeln, haben die beiden ein eher kühles Verhältnis. „Ich habe nicht groß mit ihm zu tun“, antwortet Cancellara ziemlich deutlich auf die Frage, wie sie sich verstehen. „Er ist ein junger, talentierte Fahrer mit einer großen Zukunft, und er hat schon viele große Siege“, räumt der Schweizer ein, wenn auch etwas roboterhaft.

Aber wenn sich jemand in Sagan hineinversetzen kann und in die berauschende Kombination, jung und hochtalentiert zu sein, dann Cancellara. Anfang der 2000er, als Cancellara beim italienischen Superteam Mapei Profi wurde, ging der Youngster – wie sich der englische Exprofi Charly Wegelius erinnert – älteren Fahrern mit demselben selbstbewussten Auftreten auf den Wecker, selbst wenn er nicht so frech war wie Sagan. „Er war dermaßen großspurig, es war unglaublich“, erzählt Wegelius. „Er war immer höflich, aber er wusste auch immer, wie gut er war. Wenn man dann noch etwas von dem Draufgängertum hat, das viel weniger talentierte Fahrer haben, wenn sie jung sind, dann fährt man schließlich im Training mit einigen der besten Fahrer der Welt pfeifend einen Anstieg hoch“, sagt der heutige Sportliche Leiter bei Garmin-Sharp. Cancellara hat eine Warnung für Sagan. „Ein junger Fahrer zu sein, sofort zu gewinnen, Geld zu verdienen und jede Menge Presse zu bekommen – irgendwann verursacht das eine Blockade der Ergebnisse. Aber im Moment ist er superstark.“
 
Noch höher zu bewerten sind die Frühjahrs-Erfolge des Schweizers angesichts seiner unbeirrten Fokussierung während einer schweren Zeit für das Team RadioShack-Nissan im Winter. Fränk Schleck: gesperrt. Teammanager Johan Bruyneel: allgemein unbeliebt und entlassen, nachdem er als Drahtzieher des Doping-Komplotts bei US Postal enttarnt wurde. Und Andy Schleck: nach seiner Verletzung immer noch nicht der Alte und weit davon entfernt, eine Gefahr darzustellen. Nissan stieg zu Beginn des Jahres aus, und RadioShack will sich offenbar am Ende der Saison zurückziehen. Trotz alledem blieb Cancellara permanant konzentriert, offensichtlich immun gegen die Ablenkungen, die dem Team zu schaffen machten.Trotzdem war er Berichten zufolge im letzten Jahr anscheinend so unzufrieden, dass er seinen Vertrag auflösen wollte. „Ich war nicht immer in der besten Situation“, sagt er. „Ich will nur Rad fahren und nicht in politische Probleme und Gerüchte verwickelt sein – das nervt“, sagt er. Wahrscheinlich meint er den Druck von außen und durch die Medien, wenn er hinzufügt: „Sie reden immer von Mafia, Bruyneel und Armstrong und Doping. Ich habe nichts mit ihnen zu tun, ich gehöre nur zum Team – ein Angestellter wie alle anderen.“Aber jeglicher Missmut, den er gehegt haben mag, wurde beschwichtigt durch Teammanager Luca Guercilena, der das Team nach Bruyneels Entlassung wieder aufbaute, die besänftigende Anwesenheit von Sportdirektor Dirk Demol und, das muss gesagt werden, seinen eigenen Status im Team. Cancellara fühlte sich sogar sicher genug, eine Breitseite gegen den früheren Teamchef Johan Bruyneel abzufeuern, nachdem die USADA ihre Urteilsbegründung im Fall Armstrong veröffentlich hatte. „Ich höre, dass der Name Bruyneel auf den 200 Seiten 129 Mal auftaucht“, wurde Cancellara im Oktober 2012 von Het Laatste Nieuws zitiert. „Ich will wissen, was passiert ist. Aber ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Weder für Bruyneel noch für das Team.“Cancellara muss sich selbst gegen Vorwürfe verteidigen, die in seine Richtung zielen.

Vielleicht nicht so schwerwiegende wie 2008, als unbestätigte Gerüchte, er benutze CERA, ihn ärgerten und verbitterten, aber das Strafverfahren gegen Eufemiano Fuentes, das sich über das ganze Frühjahr hinzog, tangierte ihn im Februar. Er musste Vorwürfe zurückweisen, der mysteriöse Kunde namens „Clasicómano Luigi“ in den Unterlagen des spanischen Arztes gewesen zu sein.„Nein“, sagte er geradeheraus, als er bei der Katar-Rundfahrt gefragt wurde, ob er Fuentes je aufgesucht hat, und ein nachdrückliches „Nein“ war seine abschließende Antwort, als Procycling ihn fragte, ob er je nach Madrid gereist sei. Und trotzdem tut Cancellara die ganze Sache ab, indem er in Satzfragmente abgleitet, die die Situa-tion eher verschleiern als erhellen. „Das war ein Missverständnis. Da war ein Spanier, wie ich hörte, oder jemand, der das in der Zeitung geschrieben hat … Clasicómano und dann Luigi, Cecchini und Fuentes und Cancellara, und da war auch Riis und dies und das …“ Und so weiter. Als Erklärung ist es völlig untauglich. Cancellara kann sich auch nicht an einen Zwischenfall bei der Kalifornien-Rundfahrt 2008 erinnern, sagt er, wo eine Gruppe von Fahrern, die heute gesperrt sind, ihn am Start mit „Luigi“-Rufen verspottete. Vielleicht ist das Thema so abgegriffen, dass Cancellara es müde geworden ist, diese Fragen zu beantworten. Oder dass die Namen und Verbindungen zu verschlungen sind, um sie vernünftig zu erklären. Jedenfalls, so betont er, schlafe er immer noch ruhig und zufrieden zu Hause bei seiner Familie. Allerdings endet sein Vertrag – wie die der meisten Fahrer des Teams – in diesem Jahr. Dann ist es sicher Zeit für etwas Neues. „Ich bin ein freier Mann“, sagt er mit einem breiten Lächeln. Es ist das erste Mal seit Ende der Saison 2005, dass er auf dem Markt ist.

„Ich bin in einer Luxus-Situation, ich weiß. Ein Fahrer wird bewertet nach seinen Siegen, seiner Erfahrung und dem Wert von dem da“, sagt er und deutet auf das improvisierte Fotostudio, mit dem wir ihn für das nächste Titelblatt ablichten wollen. „Der ist höher als 2010“, erklärt er, versichert aber: „Im Moment denke ich nicht viel darüber nach, weil ich meine Ruhe brauche. Aber das ist etwas, womit ich mich beschäftigen muss.“
Allein nach der Art zu urteilen, wie er spricht, will Cancellara etwas Neues für die letzten zwei oder drei Jahre seiner Karriere, weicht aber der Frage aus, ob er bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio noch fahren wird. Denkt er vielleicht daran, sein eigenes Team aufzubauen? „Nein“, sagt Cancellara und wiederholt den Refrain, einfach nur ein Fahrer zu sein, ein Angestellter, der viel Erfahrung zu bieten hat. Das Schweizer Team IAM Cycling könnte dem Vernehmen nach ein kurzfristiges Ziel für ihn sein, auch wenn ihm, wie er sagt, noch keine Angebote vorliegen.

Nach den Erfolgen im Frühjahr sind seine Wünsche wieder leichter und angenehmer als die Kämpfe des Jahres 2012, als Verletzungen auszukurieren und Brände im Team zu löschen waren. Sein Erfolg hat dem in Turbulenzen geratenen Team gut getan und es wieder zusammengeschweißt. „Jetzt will ich einfach fahren und Leute um mich herum haben, mit denen es Spaß macht zu fahren“, sagt er. „Ich will Spaß haben und mit guten Leuten zusammen sein und eine klare und einfache Ausrichtung der Dinge haben, auf die es im modernen Radsport ankommt.“ Ob das bei RadioShack, IAM oder einem anderen Team ist, bleibt abzuwarten.
Das Einzige, was sich Cancellara im Moment sonst noch wünschen kann, ist ein bedächtiger und zielstrebiger Angriff auf den WM-Titel.



Cover Procycling Ausgabe 112

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 112.

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