Am Ende des Regenbogens

Judith Arndt mag zwar ihren vierten WM-Titel und damit ihr viertes Regenbogentrikot geholt haben, aber auch das konnte sie nicht davon abbringen, ihre Radschuhe an den Nagel zu hängen.

 

Judith Arndt hatte ihren letzten Auftritt als Profi vergangenen September bei der Weltmeisterschaft in Limburg. Sie verlässt den Sport so, wie es jeder Athlet gerne irgendwann tun würde – noch immer auf dem Zenit ihrer Leistung. Die Allrounderin machte ihre Ansprüche auf den zweiten WM-Titel in Folge beim Einzelzeitfahren deutlich: Sie kam 33 Sekunden vor der zweitplatzierten Amerikanerin Evelyn Stevens ins Ziel. 2011 hatte Arndt im Vorfeld der WM bereits einige Einzelzeitfahren gewonnen; die Saison des Jahres darauf war allerdings eine etwas schwierigere Angelegenheit. Mit nur einem Sieg im Einzelzeitfahren in petto kam sie in Valkenburg an. „Es ist völlig anders“, so Arndt in Bezug auf ihre beiden Zeitfahrtitel. „Letztes Jahr war deshalb anders, weil ich wusste, dass ich danach weitermachen werde. Es ist ein anderes Gefühl und schwierig zu beschreiben. Ich denke, der erste Titel ist immer irgendwie einfacher, aber dafür umso emotionaler. Es ist schwer zu erklären.“ Als Sahnehäubchen verhalf Arndt ihrem Orica-AIS-Team zur Silbermedaille im Mannschaftszeitfahren ein paar Tage später. Specialized-Lululemon holte Gold mit einem Vorsprung von 24 Sekunden – diesen Abstand konnte nicht einmal Arndt wettmachen.

Die 36-Jährige konnte den Ruhestand kaum erwarten: „Ich mag den Lifestyle nicht mehr, es passt einfach nicht zu mir.“ Sie kennt den sportlichen Wettkampf seit ihrer Jugend und ist seit 17 Jahren Profi. Im Anschluss an ihre Karriere startete Arndt mit ihrer Partnerin Anna Wilson einen Neuanfang in Melbourne, Australien. Auch ein Abschluss in Soziologie liegt auf diesem neu eingeschlagenen Weg – darüber hinaus hat sie noch keine Pläne. „Ich wollte mich einfach mit etwas beschäftigen, das mich interessiert. Ich will nicht wirklich eine zweite Karriere.“ In der Vergangenheit hatten viele Fahrer nach ihrer aktiven Zeit Probleme, sich an das normale Leben zu gewöhnen, aber Arndt gehen andere Dinge durch den Kopf. „Ich mache mir ein wenig Sorgen, weil ich 2013 kein Geld verdienen werde. Das ist komisch für mich, weil ich in den letzten 20 Jahren nie in dieser Situation war.“ In ihren Jahren als Profi hat sich Arndt einen beachtlichen Palmarès er-arbeitet. Hier nur die Kurzfassung: vier Weltmeistertitel, 17 nationale Titel, neun Siege bei Rundfahrten, zwei Erfolge bei der Flandern-Rundfahrt und dazu jede Menge Etappensiege. Insgesamt konnte sie deutlich über 100 Siege auf Straße und Bahn einfahren. Das Einzige, was in ihrem Lebenslauf fehlt, ist Gold bei Olympia, auch wenn sie diesem Traum ein paar Mal ganz nahe war. Im vergangenen Sommer, bei ihrer letzten Chance in London, musste sich Arndt nur der Titelverteidigerin Kristin Armstrong aus den USA geschlagen geben und gewann Silber.
 
Arndt kann auf eine extrem erfolgreiche Karriere zurückblicken, und trotzdem werden sich viele in erster Linie an den Vorfall bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen erinnern. Ihre Partnerin Petra Rossner wurde nicht in die deutsche Auswahl berufen, womit Arndt überhaupt nicht einverstanden war. Rossner war zwar in ihrem letzten Profijahr, aber trotzdem eine der besten Sprinterinnen zu dieser Zeit und die amtierende Deutsche Meisterin. Arndt ließ ihrem Frust freien Lauf und zeigte den am Ziel wartenden Fotografen den Mittelfinger. Gibt man Arndts Namen in eine Suchmaschine ein, stößt man ziemlich schnell auf Fotos von diesem Zwischenfall. Durch diese Aktion wurde sie berühmt-berüchtigt, allerdings war dies nicht beabsichtigt. „Ich hatte das nicht geplant. Ich habe das bis jetzt noch nie jemandem erzählt, aber ich hatte mir etwas auf die Hand geschrieben, das ich zeigen wollte. Der Schweiß hatte aber alles weggewaschen – als ich die Handschuhe auszog und die Hand leer war, zeigte ich den Mittelfinger. Als ich über die Ziellinie fuhr, dachte ich mir, dass das keine gute Idee war. Wäre ich Teil des Auswahlkomitees gewesen, hätte ich mich wohl nach Hause geschickt. Aber sie haben gar nichts getan; bis heute haben sie diesbezüglich nicht mit mir gesprochen.“ Ihr damaliger Sportdirektor bei Equipe Nürnberger, Jens Zemke, stand neben Arndts Mutter in der Nähe des Ziels, als er Zeuge ihrer Entgleisung wurde. „Wir waren total gut drauf, und dann bekam ich ein paar Anrufe. Ich hatte die Sponsoren am Telefon, die nicht so glücklich waren, dass sie den Mittelfinger gezeigt hatte. Wenn man jetzt darauf zurückblickt, hat es sie berühmt gemacht, weil sich niemand an den zweiten Platz erinnert. Jeder wird wissen, von wem du sprichst, wenn du sagst, hey, das war das Mädel mit dem Mittelfinger.“

Man möchte annehmen, dieses „Mädel mit dem Mittelfinger“ sei selbstbewusst, laut, mit einem starken Charakter – das war auch die Erwartung bei Procycling vor dem Interview –, doch nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein. Arndt ist ruhig und nachdenklich; sie ist eine starke Teamleaderin, aber sie hat nicht die herrische Präsenz mancher ihrer Kolleginnen. Sie ist die Art von Fahrerin, die keine zwei Mal darüber nachdenkt, ihre eigenen Siegeschancen aufzugeben, um jemand anderem zum Sieg zu verhelfen. Ronny Lauke, deutscher Nationaltrainer, sagt über sie: „Keine andere der Topfahrerinnen opfert sich so bereitwillig für die Teamkolleginnen wie sie. Vielleicht gefiel es ihr sogar besser, wenn sie einer Teamkollegin dabei geholfen hatte, ein Rennen zu gewinnen, als wenn sie es selbst gewonnen hätte. Das ist eine ihrer herausragendsten Eigenschaften.“ Zemke stimmt zu: „Wenn sie selbst nicht gewann, konnte man sich sicher sein, dass sie jemand ande-rem dabei half. Das macht es schwierig, eine Schwächephase bei ihr zu finden. Diese Schwächephase hatte ihren Grund vielleicht darin, dass jemand wie Petra Rossner oder Ina-Yoko [Teutenberg] sehr stark war und sie ihnen geholfen hat. Judith war immer auf einem sehr hohen Niveau. Ich glaube, es gab keinen Tag, an dem ich zu Judith hätte sagen können: Was war los heute? Das war nichts.“
 
Wie viele andere begann auch Arndt ihre Karriere auf der Bahn. 1997 wurde sie Weltmeisterin in der Einerverfolgung – im zarten Alter von 21 Jahren. Von 1996 bis 2000 war sie in dieser Disziplin Deutsche Meisterin; ohne Zweifel war dies das Vorspiel zu ihren beiden Weltmeistertiteln im Zeitfahren. Trotz ihrer Erfolge auf der Bahn verspürte Arndt den Reiz, es auf der Straße zu versuchen. „Ich war dort bereits Weltmeisterin und suchte eine neue Herausforderung, ich wollte eine gute Straßenrennfahrerin werden.“ Und genau so kam es auch – 2004 konnte sie ihre bereits prall gefüllte Titelsammlung um den Weltmeistertitel im Straßenrennen ergänzen. „Als ich 2004 in Verona den Weltmeister-titel auf der Straße gewann – ich glaube, das war der emotionale Höhepunkt meiner Karriere. Straßenweltmeisterin zu sein ist wohl der größte Erfolg im Radsport. 2004 war für mich außerdem ein schwieriges Jahr. Wir hatten einige Probleme bei Olympia. Dann habe ich bei der WM das Straßenrennen gewonnen und konnte ein ganzes Jahr lang das Regenbogentrikot tragen. Das war sehr emotional für mich. Ich war sehr glücklich.“

 

Seit ihrem Wechsel auf die Straße gab es für Arndt nur ein paar kurze Intermezzos auf der Rennbahn. In ihrem letzten Jahr entschied sie sich aber für ein finales Gastspiel im Velodrom bei den Olympischen Spielen in London. „Der Nationaltrainer kam zu mir wegen der Mannschaftsverfolgung. Ich fragte, was ich zu tun hätte – viel war es nicht. Meine Karriere begann auf der Bahn, und es war schön für mich, dorthin zurückzukehren – ,back to the roots‘ sozusagen.“ Das Abenteuer wurde mit gemischtem Erfolg belohnt: Zwar erreichte das deutsche Team einen neuen persönlichen Rekord, aber insgesamt reichte es nur zum achten Platz. Arndt war nie der Typ, sich mit etwas zufriedenzugeben, nur weil sie gut darin war. Lauke ging mit Arndt zur Schule, und ihre Wege kreuzten sich wieder, als er beim Frauenteam von T-Mobile Sportdirektor wurde, wie er sich erinnert: „Ich traf auf eine Person, die genau wusste, was sie wollte. Ihr Fokus lag immer darauf, sich zu ver-bessern und alles aus sich herauszuholen. Sie fragte immer, wie sie sich verbessern könnte, und verschrieb sich ganz dem Sport.“

Nach sechs Jahren bei T-Mobile und dessen Nachfolger HTC Highroad entschied sie sich 2012 für einen Tapetenwechsel und versuchte ihr Glück beim neu gegründeten Orica-AIS-Team. Auch wenn sich die Anzahl ihrer Siege auf acht halbierte, reichte es zu zweiten Plätzen auf der UCI-Weltrangliste und beim WorldCup hinter Marianne Vos. Arndt liebt Herausforderungen und das sportliche Kräftemessen auf höchstem Niveau. Genau das werde sie vermissen, erzählt sie: „Ich glaube, ich werde die Wettkämpfe am meisten vermissen, denn sie sind Teil meines Charakters. Ich weiß, dass ich gesagt habe, ich könnte nicht mehr mithalten. Daher muss ich mir etwas anderes suchen, wo ich das kann. Vielleicht das eine oder andere Trainingsrennen oder andere Sport-arten wie Laufen.“ 2007 lief Arndt den Dresden Marathon in drei Stunden und 32 Minuten, nachdem sie nur eine Woche vorher davon erfahren hatte. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass sie sich allzu lange ausruht …
 
Arndt hinterlässt ein großes Loch im deutschen Nationalteam, das nur schwer zu stopfen sein wird. Ina-Yoko Teutenberg wird sich ebenfalls bald zur Ruhe setzen, und damit wird der Druck auf den Schultern von Fahrerinnen wie Trixi Worrack lasten. Ein einst hochtalentiertes Team verliert immer mehr Leistungsträgerinnen. Fragt man Arndt, ob sie den Radsport mit einem guten Gefühl verlässt, bekommt man die nüchterne Antwort: „Nein. Es wäre schön, wenn die UCI etwas investieren würde, aber die verlassen sich nur auf den Straßenrennsport der Männer.“ In dieser Saison verließ mit AA-Drinks einer der ältesten Sponsoren des Frauenradsports die große Bühne. Dazu steht nach dem kompletten Rückzug der Bank aus dem Radsport auch das Rabobank-Team der Frauen ohne Sponsor da. Ihr Erfolg als Fahrerin drängte Arndt in die Position als mögliche Anführerin, als Gallionsfigur für den Frauenradsport, insbesondere hierzulande. Allerdings kam sie nur schwer mit dieser Rolle zurecht.

Zemke, der jetzt als Teammanager bei MTN-Qhubeka tätig ist, glaubt, dass Arndts Schüchternheit eine Rückkehr auf die Bühne des Radsports vielleicht verhindern könnte. „Ich glaube nicht, dass Teamchef ein guter Job für sie wäre. Ich sehe sie eher außerhalb des Sports, beispielsweise im Sportjournalismus. Sie ist etwas verschlossen und ein wenig nach innen gekehrt. Sie ist nicht so offenherzig, dass jeder sich gleich von Anfang an als guter Freund fühlt. Es dauert, bis man ihr Vertrauen spürt.“ Geht es nach Arndt, ist eine Rückkehr zum Radsport – in welcher Form auch immer – ausgeschlossen. Den Gedanken, einmal Sportliche Leiterin zu werden, lehnt sie kategorisch ab: „In Wirklichkeit ist es ein furchtbarer Job. Du kannst keine Beziehung führen, wenn du irgendeine Funktion im Radsport hast. In den vergangenen 20 Jahren hat es sich immer angefühlt, als ob man weniger wert sei. Wir werden behandelt, als seien wir zweite Wahl. Ich hatte dieses Gefühl während meiner gesamten Karriere, und damit ist jetzt Schluss.“ 



Cover Procycling Ausgabe 108

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 108.

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