Wand des Schreckens

Nach 50 Jahren Abwesenheit stand die gewaltige Muro di Sormano dieses Jahr wieder auf dem Programm der Lombardei-Rundfahrt – zum Leidwesen der Fahrer und zur Freude der Fans. Procycling hat sich die Show angeschaut.

 

Die erwartungsvolle Menge drängt in die Mitte der Straße. Alle versuchen, einen Blick auf das Asphaltband zu werfen, das im Nebel verschwindet; es ist dieses Asphaltband, weswegen sie hier sind. Alle Gedanken an den kalten Herbsttag, die Regenschauer, die der Nebel mit sich bringt, sind vergessen, als die akustischen Vorboten des Rennens zu vernehmen sind. Das Knattern der Rotoren eines unsichtbaren Hubschraubers erfüllt die Luft, und in den tief hängenden Wolken durchdringen die Sirenen der vorausfahrenden Autos das Grau, das über der Muro di Sormano hängt, wie ein Omen der Herausforderung, die die Fahrer erwartet. Zwei Kilometer lang, im Schnitt 17 Prozent und teilweise bis zu 30 Prozent steil – alle sind hier, um zu sehen, wie die Teilnehmer der Lombardei-Rundfahrt einen der brutalsten Anstiege Italiens in Angriff nehmen.
 
Vier Stunden zuvor wartete Procycling in der norditalienischen Stadt Bergamo mit den Tifosi darauf, dass die besten Fahrer der Welt beim „Rennen der fallenden Blätter“, dem letzten großen Klassiker der Saison, an den Start gehen. Während die Fahrer noch bequem in den warmen Teambussen saßen, äußerte sich Shayne Bannan, Manager des australischen Orica-GreenEdge-Teams, zur Muro: „Sie hat uns auf jeden Fall zu denken gegeben. Alle unsere Fahrer haben heute Kompaktkurbeln und 34 x 27 als kleinste Übersetzung. Taktisch wird es heute interessant. Das Rennen ist spät in der Saison und die Fahrer sind körperlich und mental erschöpft. Außerdem kommt der Anstieg 80 km vor dem Ziel, zu früh, um ihn als Abschussrampe zu nutzen. Ich glaube, dort werden wir eine erlesene Gruppe, sagen wir mal, ein kleines Feld von Fahrern sehen, die ein Resultat holen können oder für einen Teamkollegen fahren. Es ist ein brutaler Anstieg, aber es
wird nur ein Teil des Zermürbungsprozesses sein. Das wirkliche Ergebnis der Muro werden wir erst später sehen, nicht dort.“

Dario Cioni, Ex-Profi und heute Pressesprecher des Teams Sky, sagte: „Solche Anstiege sind fast zu hart. Es gibt nur wenige Fahrer, die auf einer so steilen Rampe angreifen und diesen Angriff durchziehen können. Es wird mehr ums Überleben gehen und die Fahrer werden nur das Nötigste tun, um dort hochzukommen. Danach kommt eine lange Abfahrt und genügend Zeit, um sich auf der Straße um den See her-um neu zu gruppieren, bevor der nächste Anstieg kommt. Ehrlich gesagt, wenn die Wettervorhersage stimmt – starker Regen – ist die technische Abfahrt von der Muro di Sormano für den Ausgang des Rennens vielleicht entscheidender als dieser Anstieg.“

In diesem Jahr stand die Muro di Sormano nicht nur zum ersten Mal seit 50 Jahren, sondern überhaupt erst zum vierten Mal auf dem Programm einer der vielen Variationen des Herbstklassikers. 1905 erstmals ausgetragen, wurde das Rennen 1960 vom damaligen Organisator Vincenzo Torianni um die „Mauer“ erweitert. Der Italiener erklärte: „Ich will ein schweres Rennen, das eines Champions würdig ist.“ Wegen seiner Brutalität wurde der Anstieg sofort berühmt. Er stand auch 1961 und 1962 im Streckenprofil, fiel dann aber in Ungnade. Von der Lombardei-Rundfahrt nicht mehr besucht, wurde die Muro vernachlässigt, und ihr Straßenbelag verwitterte zusehends.

Auf der Kuppe der Muro ist ein Café, das vor der Ankunft des Rennens proppenvoll ist mit Tifosi, die dem strömenden Regen entkommen wollen. Es herrscht lautes Gedränge, und im Fernsehen ist im Hintergrund noch einmal der Höhepunkt der Lombardei-Rundfahrt 2006 zu sehen (ein emotionaler Paolo Bettini schießt alle Vorsicht in den Wind und fährt als Solist zum Sieg). Nick Blow, ein in Belgien lebender Brite, erklärt, warum er hier ist: „Ich liebe dieses Rennen. Dass sie die Muro eingebaut haben, fand ich spannend, also habe ich die Reise gebucht und bin hergekommen. Ich habe zweimal versucht, sie hochzufahren, aber ohne Erfolg. Sie ist wahnsinnig steil. Ich will gar nicht daran denken, wie die Profis hier hochfahren, aber ich freue mich darauf, es zu sehen!“

Am nächsten Tisch sitzt Andrea Facchetti bei einem Kaffee: „Ich lebe in Sormano, und wir sind heute alle sehr stolz. Die Muro liegt uns sehr am Herzen und es war eine Gruppe aus der Gegend, die das Geld aufgetrieben hat, um die Straßendecke zu erneuern. Heute ist sie für den Verkehr geschlossen. Die Höhenmeter sind auf die Straße geschrieben, und große Worte von großen Fahrern, um diejenigen zu motivieren, die hierherkommen und die Herausforderung annehmen wollen.“

Draußen auf der Straße bricht das Licht der vorausfahrenden Autos durch den Nebel, und die Rufe der Tifosi werden lauter. Wenn man sieht, wie sich die besten Rennfahrer der Welt mit Schrittgeschwindigkeit nähern, ahnt man, wie schwer diese Steigung ist. Das ist nicht der Kavallerieangriff, den man an einigen Anstiegen sieht, das ist der Prototyp der Schinderei. Hinter zwei Ausreißern, die noch einen Vorsprung haben, aber ganz klar leiden, taucht eine Gruppe mit vielen Favoriten auf: Joaquim Rodríguez, Vincenzo Nibali, Alberto Contador, Nairo Quintana, Rigoberto Urán; ein Who is Who der besten Kletterer der Welt. Keiner von ihnen sieht locker aus, ihr Gesichtsausdruck zeigt, dass sie sich nur darauf konzentrieren, die „Wand“ irgendwie hochzukommen.

 

Dahinter fällt das Rennen auseinander. Nur 80 Fahrer sind von den 199 gestarteten übrig, sie fahren einzeln oder zu zweit an den Zuschauern vorbei. Viele werden von den Fans angeschoben, andere sind schwer zu erkennen, weil sie auf den glänzenden, schwarzen Asphalt schauen und nicht aufblicken, lieber nicht sehen wollen, was auf sie zukommt. Bemerkenswert ist, dass Sánchez und Gilbert in der Gruppe der Favoriten fehlen. Beide fahren ihr eigenes Tempo, wirken aber leicht panisch, dass sie Boden auf die Führenden verlieren. Als später die Zeiten ermittelt werden, zeigt sich, dass der Sky-Fahrer Sergio Henao die Muro mit 9:20 Minuten am schnellsten bezwungen hat, 20 Sekunden schneller als der Rekord von 1962.

Wie vorhergesagt, hat die Abfahrt von der Muro di Sormano einen größeren Einfluss auf das Rennen als die „Mauer“ selbst. Bei den rutschigen Straßen und kniffligen Kurven war klar, dass es Stürze geben würde. Gilbert in seinem neuen Regenbogentrikot und vier BMC-Teamkollegen kommen auf der Abfahrt zu Fall, für sie ist das Rennen beendet. Wäre das nicht passiert, wäre der Weltmeister auf den letzten Kilometern ein Faktor gewesen.

Als die Fahrer bei strömendem Regen das Ziel in Lecco erreichen, stehen ihnen die Anstrengung des Tages ins Gesicht geschrieben. Nur die in der Spitzengruppe sehen zufrieden aus; alle anderen haben den starren Fernblick von Leuten, die gelitten haben. 258 Kilometer bei Regen und Kälte, gefährliche Abfahrten und natürlich die supersteile Muro di Sormano haben ihren Tribut gefordert. Auf dem Weg ins Ziel sieht Procycling zahlreiche Fahrer, die nach einem Sturz auf den rutschigen Straßen Hilfe brauchen. Der Ausreißer Kevin De Weert wird blutend in einen Krankenwagen verfrachtet. Keine Chance, ein Foto zu machen, aber eigentlich wollen wir sowieso keins.

Hat die Muro di Sormano die angekündigte Rolle gespielt als Killer-Anstieg, der „eines Champions würdig“ ist? Schwer zu sagen. Die Lombardei-Rundfahrt 2012 war in jeder Hinsicht episch, 143 Fahrer stiegen aus, das Rennen trieb das Peloton an seine Grenzen. Wie vorhergesagt, war die Muro Teil dieses Selektionsprozesses, an dessen Ende Rodríguez, der die „Mauer“ in der zweitschnellsten Zeit hochfuhr, in letzter Minute mit einer Soloattacke triumphierte. Ein „wahrer Champion“? Ja. Niemand kann behaupten, dass einer der Fahrer, die ins Ziel kamen, etwas anderes hatte als einen brutalen Tag. Procycling würde sich freuen, wenn die Muro di Sormano auch bei künftigen Auflagen des italienischen Herbstklassikers auf dem Programm stünde, aber -näher am Ziel, damit die Fahrer sie für entscheidende Attacken nützen können. Dann würden die Funken wirklich fliegen.



Cover Procycling Ausgabe 106

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 106.

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