Der gleiche. Nur anders …

Der Neffe der italienischen Legende scheint im Begriff zu sein, ebenso den Stolz der Familiendynastie wie des italienischen Radsports wiederherzustellen. Procycling trifft Moreno Moser – einen jungen Mann, der viel vorhat.

 

 Sich die Tour de France 2012 in Italien, unter Italienern, anzuschauen, war in mancher Hinsicht ein ernüchterndes Erlebnis. Vincenzo Nibali fuhr schön und mutig, doch tat er das weitgehend in einem Vakuum. Sein Liquigas-Team, bei Rundfahrten seit Jahren Bannerträger des italienischen Radsports, wurde von einem stärkeren Team überrollt. Gestandene gregari wie Alessandro Vanotti oder sogar Ivan Basso hatten keine Antwort auf die Sky-Armada. Derweil war Lampre, der andere italienische Vertreter in der WorldTour, einfach überfordert.

Nibalis angeborene Klasse konnte die Risse übertünchen, doch die Statistik ist bezeichnend: Von 198 Startern in Lüttich waren nur 15 Italiener. Vor zehn Jahren gingen in Luxemburg 27 an den Start, 1992 waren es ähnlich viele. Aber damals war der italienische Radsport mit Weltklassefahrern wie Gianni Bugno und Claudio Chiappucci gesegnet, mit Klassiker-Champions wie Moreno Argentin und Maurizio Fondriest. Heute scheinen weder Basso noch Damiano Cunego auf höchstem Niveau mithalten zu können, während Michele Scarponis Top-Referenzen immer fadenscheiniger wirken. Die Ressourcen schienen noch nie so knapp zu sein, und das olympische Straßenteam zeigte das perfekt. Ohne einen Weltklasse-Sprinter oder einen echten Klassikerspezialisten konnten sie das Podium in London vergessen.

Während Nibali bei der Tour Glanzlichter setzte, durchquerte ein anderes Etappenrennen, ein sehr schnelles, den Süden Polens. Das Feld der Polen-Rundfahrt 2012 umfasste im Wesentlichen zwei Gruppen. Einige im 200 Mann starken Peloton holten sich den Feinschliff für Olympia. Für Fahrer wie Boonen und Lars Boom bot die Etappenfahrt eine sicherere und entspanntere Umgebung, um an der Vorbereitung zu feilen. Aber die große Mehrheit der Fahrer war einfach deswegen in Polen, weil sie – und ihre Teams – nicht für die Tour de France nominiert waren. 38 von ihnen waren Italiener.

Doch dort, weit entfernt vom Wahnsinn der Tour de France, gewann ein 21 Jahre alter Italiener, und zwar mit Klasse. Er gewann mit Stil und einer Eleganz, die an einen Champion von vor 30 Jahren erinnert, einen der wirklich großen Namen des italienischen Radsports. Damals war Beppe Saronni der Star einer blühenden italienischen Szene, seine erbittere Rivalität mit Francesco Moser elektrisierte den Sport. 1982, als ihr Konkurrenzkampf am heißesten war, starteten bei der Tour nur 17 Italiener. Doch die Gründe waren ganz andere. Der Radsport war damals so populär, dass sie einfach keine Notwendigkeit sahen, sich jenseits der Grenze zu betätigen. Sie fuhren die Klassiker und den Giro, dann nutzten sie den Juli, um neue Kraft zu tanken. Für sie war die Tour ohne Belang, während Bernard Hinault, der große französische Champion, den Giro dreimal fuhr.

Radsport ist heute eine globale Sportart, nicht mehr die Domäne der traditionellen europäischen Supermächte. Die Welt der Radrennen hat sich geändert, und objektiv betrachtet repräsentieren Länder wie Italien, Belgien und Frankreich nun eine viel kleinere Ecke dieser Welt. Wo es Hungersnöte gibt, beschwören die Leute instinktiv reichere Ernten herauf, Tatsache jedoch ist, dass der Junge des Vergleichs mit Saronni würdig ist. Er preschte in Polen zu zwei Etappenerfolgen und zum Gesamtsieg, und selbst der große Mann selbst sah sich veranlasst festzustellen, dass es Ähnlichkeiten gibt. In der provinziellen Welt des italienischen Radsports kann es kein höheres Lob geben. Die Ironie – und die ist wirklich köstlich – ist, dass dieser Junge Moser heißt. Und das haben wir uns jetzt nicht ausgedacht.

Moreno Moser gehört zur Moser-Dynastie, der jüngste Sprössling einer Rennfahrer-Familie, die seit Mitte der 1950er Jahre ganze sieben Profis hervorgebracht hat. Aber sein Vater ist nicht derjenige, der 273 Rennen gewonnen hat, jedes große auf dem Kalender außer der Tour. Vielmehr ist Moreno der Sohn des unbekannteren Moser, Diego. Der am wenigsten talentierte von vier Brüdern war der Einzige unter ihnen, der nie die Maglia Rosa des Giro trug. Stattdessen war er Wasserträger, ein gregario für Francesco. Diegos anderer Sohn, Leonardo, fuhr ebenfalls fünf Jahre als Profi, bevor er 2010 mit dem Radsport aufhörte.

Als Procycling im Dezember 2011 erstmals mit Moreno sprach, fragten wir ihn, ob er unter Druck stünde, weil er den bekanntesten Familiennamen im italienischen Radsport trägt. Zwei Wochen vor seinem 21. Geburtstag zeigte er eine Gelassenheit, die ungewöhnlich ist für einen so jungen Fahrer: „Ob Sie es glauben oder nicht, aber das ist kein Problem für mich. Ich bin Moreno, und meine Karriere wird dadurch definiert, was ich auf dem Rad mache, nicht was meine Onkel vor 30 oder 40 Jahren machten. Ich bin stolz auf meine Familie, aber ich bin ein ganz anderer Typ Rennfahrer, und ich will mich nicht mit Vergleichen verzetteln. Wir haben das Jahr 2011, und die Welt, in der mein Onkel Francesco fuhr, existiert nicht mehr. Er ist eine Legende, und natürlich weiß ich, was er erreicht hat. Aber aufgewachsen bin ich mit Marco Pantani – er war mein Idol als Junge.“

Zwei Monate nach diesem Gespräch gewann Moreno das erste Profirennen, an dem er teilnahm, die Trofeo Laigueglia. Er attackierte am legendä-ren Capo Mele, hielt sich in der Abfahrt die Verfolger vom Leib und gewann mit 50 Metern Vorsprung – so richtig à la Moser. Natürlich musste so etwas den Leuten Gesprächsstoff liefern. Die Italiener lieben nichts mehr, als sich an vergangene Glanzleistungen zu erinnern, und mehr denn je brauchen sie einen Helden. Obendrein war Moser die gesamte Saison gleichbleibend stark. „Ehrlich gesagt bin ich überrascht, wie gut es gelaufen ist. Ich hatte nicht damit gerechnet, vorne mitzufahren – und erst recht nicht, große Rennen zu gewinnen.“

Realistisch betrachtet hat Moreno Recht – es gibt keine Francesco Mosers mehr. Allerdings ist er bereits ein solider Zeitfahrer und hat keine offenkundigen Schwächen. Es bleibt abzuwarten, wie Moser im Hochgebirge zurechtkommen wird, doch er ist schnell und stark – man gewinnt keine WorldTour-Etappenrennen ohne außergewöhnliches Talent. Während viele über Peter Sagans langfristige Zukunft als Rundfahrer reden, weiß man bei Liquigas genau, dass der Italiener dieses Ziel eher erreichen könnte. Sagan ist gut, aber Tatsache ist auch, dass er 73 kg wiegt und kein besonderes Interesse am Zeitfahren hat. Moser wiegt 64 kg und hat gegen die Uhr schon gute Referenzen vorzuweisen.

 

Dank Sagans Feuerwerk bei der Tour stand Moser nicht im Rampenlicht der Medien, doch er lässt ohnehin lieber seine Beine sprechen. Er kann ein bisschen unbeteiligt wirken, aber wenn er etwas sagt, dann normalerweise, weil er etwas Relevantes zu sagen hat: „Ich verstehe, dass es Teil meines Jobs ist, und ich habe kein Problem damit. Hoffentlich bin ich keiner von denen, die nur um des Redens willen reden.“ Auf Fragen, was er in Zukunft erreichen kann, antwortet Moser ausweichend, obwohl er seine Entwicklung klar einschätzen kann. „Polen war großartig, aber da waren keine hohen Berge und es waren nur sieben Tage. Es ist ein großer Unterschied zwischen einem einwöchigen Etappenrennen auf welligem Terrain und einer großen Rundfahrt. Ich habe es als Serie von Eintagesrennen betrachtet.“ Auf die Frage, ob sein Sieg die Aufnahme ins Olympia-Team gerechtfertigt hätte, antwortete er diplomatisch: „Ich glaube, das Team hat sein Bestes gegeben und alle, die nominiert waren, haben es verdient.“

Doch Tatsache bleibt, dass Moser schon als Junior an großen Tagen aufblühte. So fuhr er im vergangenen Jahr einen hervorragenden „Baby Giro“; bei der Nachwuchs-Version der Italien-Rundfahrt gewann er zwei Etappen und wurde Gesamt-Fünfter. Vor allem aber gewann er die Königsetappe in den Dolomiten. Viele junge Fahrer glänzen auf diesem Niveau, können dann aber im Profibereich nie Fuß fassen. Bei Moser hingegen gelang der Übergang nahtlos. Der italienische Radsport leidet, aber sein dritter Platz bei der Landesmeisterschaft war beeindruckend. Auf einem Kurs mit fast 4.000 Klettermetern musste sich Moser nur Franco Pellizotti und Danilo Di Luca geschlagen geben. Dieser Palmarès zeigt, dass Moreno Moser eine große Zukunft hat.
 
Die Erwartungen sind auch deswegen so hoch, weil kein Italiener seit Pantani mehr die Tour gewonnen hat, und weil der Giro dringend wieder einen glaubwürdigen einheimischen Sieger braucht. Das könnte Nibali sein, aber selbst wenn er gewinnen sollte, wird er das in den Farben eines ausländischen Rennstalls tun. Dass kasachische oder britische Teams das größte und beste italienische Team überbieten, wäre vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar gewesen, aber Geld regiert nun mal die Welt. Gerüchten zufolge hat Alexander Winokurow Sagan und Moser Angebote gemacht. Auf Nachfrage sagt der, er habe nie an einen Wechsel gedacht. „Ich bin in diesem Team unter Leuten, die ich kenne und denen ich vertraue. Ich fange gerade erst an und bin absolut zufrieden bei Liquigas.“

Entscheidend wird sein, ob die Ambitionen – und das Budget – des Teams mit seinen eigenen mithalten können. Nibali ist nicht geldgierig, aber angeblich ist sein Gehalt für 2013 rund 25 Prozent höher, als Liquigas bezahlen konnte. Mosers Verdienstpotenzial ist weit von dem Nibalis entfernt, doch wenn er in diesem Tempo weitermacht, wird der Tag sicher kommen. In dieser Hinsicht wird sein genetisches Erbe ihm gute Dienste leisten. Die Mosers sind Leute vom Land, die harte Arbeit gewöhnt sind. Sie werden es ihrem Sprössling nicht erlauben, gierig zu werden; die Arbeitsethik, die kennzeichnend für seine Onkel war, hat Moreno ohnehin in höchstem Maße.

Moreno Moser ist ehrgeizig. Er machte kein Geheimnis aus seinem Wunsch, die Azzurri bei der Weltmeisterschaft in Valkenburg zu vertreten – auf einem Terrain, auf dem er in den nächsten Jahren wahrscheinlich glänzen wird. Mit seiner Kraft war sein Onkel ein Synonym für Roubaix, Moreno hingegen ist eine andere Art Rennfahrer  – er sagt, dass Lüttich das Rennen ist, das ihn am meisten reizt. Der junge Italiener entwickelt sich nicht nur zu einem exzellenten Rouleur, sondern auch zu einem hervorragenden Sprinter. Bescheiden sagt er, dass er sich in den Bergen „verteidigen“ kann. „Ich bin eher wie Saronni als wie Onkel Francesco, aber komischerweise hat keiner von ihnen Lüttich gewonnen. Von den heutigen Profis ist Gilbert mein Lieblingsfahrer.“

Aus seinen Ambitionen für 2013 macht er keinen Hehl: „Ich wäre enttäuscht, wenn ich nicht für den Giro nominiert würde. Ich sage nicht, dass ich bereit bin, aufs Gesamtklassement zu fahren, aber ich würde gerne in Neapel am Start stehen.“ Aber wie die Dinge sich bei Liquigas entwickeln, könnte er in Ermangelung anderen Personals als De-facto-Kapitän ins Rennen gehen. Eine gute Vorstellung von einem Rennfahrer namens Moser wäre Rückenwind nicht nur für das Rennen, sondern für den Radsport im Allgemeinen. Ob er 2013 bereit ist für die Dolomiten, bleibt abzuwarten, aber er hat die Zeit auf seiner Seite und scheint alle Trümpfe im Ärmel zu haben.

Das letzte Wort hat einer der Fußsoldaten des Pelotons. Nach seinem Sieg auf der 6. Etappe in Polen, twitterte Liquigas-Fahrer Ted King sinngemäß: „Mannomann, heute hat es wehgetan. Und @MorenoMoser hat gewonnen. Wahnsinn, er ist gut?…“ Man bekommt den Eindruck, dass wir in den kommenden Jahren noch viel mehr davon zu sehen bekommen. Merken Sie sich diesen Namen – Moser. Moreno Moser.



Cover Procycling Ausgabe 105

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 105.

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