Geschichte neu geschrieben

Lance Armstrongs Name ist aus den Siegerlisten gelöscht worden. Muss die Geschichte nun neu geschrieben werden? Procycling präsentiert eine Parallelwelt: die letzten 14 Jahre ohne Armstrong.

 

April 1998
Auf einer Pressekonferenz in Austin, Texas, gibt Lance Armstrong bekannt, er werde sich aus dem Profiradsport zurückziehen und sich ganz seiner 1997 gegründeten Livestrong Foundation widmen, um Geld für den Kampf gegen Krebs zu sammeln. „Radrennen sind das Allerletzte, was ich jetzt machen möchte. Ich will jetzt vor allem wieder leben lernen“, sagt der 26 Jahre alte Amerikaner, der 18 Monate keine Rennen gefahren war, da er wegen Hodenkrebs in fortgeschrittenem Stadium behandelt wurde.

24. Juli 1999
Nachdem er im abschließenden Zeitfahren in Futuroscope den Tour-Gesamtsieg perfekt gemacht hat, nimmt der frühere Festina-Fahrer Alex Zülle auf der Sieger-Pressekonferenz gegenüber den Journalisten Platz – und wünscht sich, weit, weit weg zu sein. Während des Rennens ist der Schweizer, der jetzt in den Farben von Banesto fährt, ständig nach seiner Verwicklung in die Festina-Affäre, die das Rennen im Vorjahr erschüttert hatte, und seinem anschließenden Doping-Geständnis gefragt worden. Seine Glaubwürdigkeit ist permanent angezweifelt worden; außerhalb des Teams will niemand Partei für ihn ergreifen. Die Berichterstattung über seinen Siegesritt ist so negativ ausgefallen, dass Zülle in Start- und Zielorten beschimpft wurde, und auf einigen Bergetappen fühlte er sich derart bedroht, dass er im Schutz des Pelotons fuhr – in dem Wissen, dass auch viele andere Fahrer mitten im Feld fahren wollten, statt mit den aufgebrachten Fans am Straßenrand konfrontiert zu sein.

Zülle ist froh, dass er den Banesto-Pressesprecher Francis Lafargue an seiner Seite hat. Der joviale Franzose wird ihn hoffentlich gut durch die nächste halbe Stunde bringen … „Erste Frage bitte an Alex Zülle.“ Einer der bekanntesten Reporter der L’Équipe steht auf und ein Mitarbeiter des Presseraums eilt zu ihm, um ihm ein Mikrophon zu reichen. „Alex, zunächst einmal Gratulation zu Ihrem Sieg. Können Sie uns sagen, wie es sich anfühlt, etwas zu gewinnen, was jetzt Tour de Farce genannt wird?“ Zülle weiß, dass er seine Fehler aus der Vergangenheit zugeben muss. Er tut dies, bevor er über die Opfer spricht, die er gebracht hat, um für die Tour in Form zu sein, und sich für die Unterstützung seiner Mannschaft bedankt. Der Sprecher bittet um die nächste Frage, aber niemand hebt die Hand. Einige Momente später schleichen Zülle und Lafargue lautlos von der Bühne, von Pfiffen verfolgt.

 
Juli 2000
Der Profiradsport steckt in der Krise. Suspekte Fahrer dominieren den Sport und es wachsen keine Talente nach, um sie zu ersetzen. Ende 1999 sind einige große Sponsoren ausgestiegen; als Grund haben sie den Beschluss des IOC angeführt, den Straßenradsport aus dem Programm der Olympischen Spiele 2000 in Sydney zu streichen. Weitere Sponsoren haben sich zurückgezogen, nachdem Fahrer in ihren Teams positiv getestet worden oder mit einem erhöhten Hämatokritwert aufgefallen sind. Die UCI beruft sich auf ihre Gesundheitstests, die sie 1997 eingeführt hat, um den Radsport zu säubern, räumt aber ein, dass vor der diesjährigen Tour drastischere Maßnahmen notwendig sind.

UCI-Präsident Hein Verbruggen fordert ein Gipfeltreffen mit Rennorganisatoren, Vertretern der Teams und der Vereinigung der Radprofis, deren Mitgliederzahl dramatisch geschrumpft ist. Alle sind sich einig, dass Dopingkontrollen oberste Priorität haben müssen, um die Glaubwürdigkeit wiederherzustellen, und dass eine unabhängige Organisation dafür zuständig sein muss. Auf einer Pressekonferenz nach dem Gipfel erklärt Verbruggen, flankiert von Tour-Direktor Jean-Marie Leblanc und dem französischen Profi Laurent Jalabert, dass er mit dem Präsidenten der Welt-Anti-Doping-Agentur, Dick Pound, darüber sprechen wird, ob die Verantwortung für die Tests in die Hände der WADA gelegt werden kann.
Auf Verbruggens Wunsch hin erklärt Pound, die WADA sei bereit, die Kontrollen zu übernehmen. Er fügt hinzu, dass er einen neuen Test zum Nachweis von pharmazeutischem EPO einsetzen wird, der vom französischen Anti-Doping-Labor in Châtenay-Malabry entwickelt worden ist.

Auf den Sportseiten der großen Zeitungen ist fast nichts darüber zu lesen, so sehr hat das Interesse am Radsport in den letzten paar Jahren nachgelassen. Auch die Fachzeitschriften haben gelitten, einige Publikationen sind vom Markt verschwunden, weil die Werbeeinnahmen zurückgegangen und die Auflagen geschrumpft sind. James Poole, Verkaufschef der vor kurzem eingegangenen englischen Procycling, sagt über die Situation: „Wir haben das Magazin 1999 gestartet, in dem Glauben, dass es ein guter Zeitpunkt sei, in den Sport einzusteigen, da so viel von Erneuerung die Rede war, doch wir haben uns gründlich geirrt. Viele große Stars haben eine schmutzige Weste und der Sport hat im Prinzip keine Glaubwürdigkeit mehr. Jetzt ist klar, dass er auch kaum noch Anhänger hat.“

Die Tour endet mit einem zweiten Sieg für Jan Ullrich, der jetzt für das spanische ONCE-Team fährt, nachdem Telekom als Sponsor ausgestiegen ist. Kelme-Fahrer Roberto Heras und Polti-Profi Richard Virenque komplettieren das Podium. Keiner von ihnen bekommt so viel positive Presse wie der inoffizielle Anti-Doping-Sprecher Christophe Bassons, der bei der Tour unter ferner liefen rangiert, aber sehr beliebt ist und – dank seiner täglichen Kolumne in L’Équipe – immer einflussreicher wird.
 

Mai 2001
Nach der Razzia in San Remo beim Giro d’Italia, bei der die Carabinieri mehr als 200 verbotene Produkte sichergestellt haben, greift die UCI zu dem noch nie dagewesenen Schritt, alle Fahrer, gegen deren Teams ermittelt wird, von der nächsten Tour auszuschließen. Das führt dazu, dass mehrere mögliche Favoriten nicht starten können, darunter Dario Frigo, Gilberto Simoni, Davide Rebellin, Abraham Olano, Laurent Dufaux und Jan Ullrich. Der Sieg geht an Andrej Kiwilew, der sich im abschließenden Zeitfahren gegen Joseba Beloki durchsetzt.

Aber wieder einmal ist das Rennen von einem Dopingskandal überschattet. Gezielte Tests durch die WADA fördern eine Reihe von positiven Ergebnissen zutage, die zu einer gründlicheren Untersuchung führen. Als ihnen eine Amnestie für Dopingvergehen angeboten wird, machen mehrere Fahrer Aussagen, die zur Zerschlagung eines großangelegten Doping-Netzwerks in Spanien führen. Die UCI und die Organisatoren der großen Rundfahrten geben eine gemeinsame Presseerklärung heraus, in der es heißt, dass jeder Fahrer, der bei einer großen Rundfahrt oder einem Weltcup-Rennen positiv getestet wird, gesperrt wird und seine Mannschaft nach Hause geschickt wird. Diese Regelung führt zum Ausschluss der Teams von Saeco und Mapei – Quick-Step vom Giro 2002. Einen Tag nach dem Ende des Rennens gibt die Firma Mapei ihren sofortigen Ausstieg bekannt, womit der Sport einen Sponsor verliert, der die dringend benötigten Mittel bisher großzügig bereitgestellt hat.
 

Juli 2004
Das IOC lehnt eine Wiederaufnahme des Straßenradsports ins Programm der Olympischen Spiele in Athen ab, erklärt sich aber bereit, für Olympia 2008 über eine erneute Einführung nachzudenken. Das Komitee würdigt die Erfolge des Testprogramms der WADA, die verstärkt werden durch die Entschlossenheit der UCI, alle erwischten Doper mit langen Strafen zu belegen. Das IOC lobt auch den Biologischen Pass, der nach allgemeiner Auffassung für mehr Fairness im Radsport sorgt. Zudem werden die Fahrer, deren Pass Auffälligkeiten zeigt, drei Monate suspendiert, während ihr Fall untersucht wird. Sandy Casars Sieg bei der Tour de France verleiht dem Sport wieder Glaubwürdigkeit und beschert dem Rennen zum ersten Mal seit den späten 1980ern wieder deutlich mehr Zuschauer am Straßenrand und vor den Bildschirmen.
 

Januar 2005
Nach dem Erfolg der britischen Bahnfahrer bei den Spielen in Athen stellt das Pay-TV-Unternehmen Sky ein Straßenteam auf die Beine, das die Kriterien erfüllt, um in die neu aufgelegte ProTour aufgenommen zu werden. Mit dabei sind einige britische Olympiamedaillengewinner wie Bradley Wiggins, Steve Cummings, Chris Newton und Rob Hayles sowie erfahrene Straßenprofis wie Roger Hammond und Charly Wegelius. Das Team verpflichtet auch den Mountainbike-Weltmeister Floyd Landis und den Veteranen Tyler Hamilton, der damit endlich die Chance bekommt, eine ganze Saison in Europa zu bestreiten. Das britische Team ist auch ein großer Unterstützer der neuen WorldTour der Frauen, die das IOC als Teil eines Reformpakets gefordert hat, bevor der Straßenradsport bei den Spielen in Peking 2008 wieder ins Programm genommen wird. Jeder ProTour-Rennstall muss nun ein Frauen-Team haben, das eine neue Rennserie bestreitet, die auf denselben Strecken wie die ProTour-Rennen der Männer ausgetragen werden. Sky-Fahrerin Emma Pooley ist „hocherfreut“ über die neue Initiative. „Wir fahren jetzt erst seit ein paar Wochen, aber es ist, als hätte sich eine neue Welt für den Frauenradsport aufgetan. Das Team stellt unsere Ergebnisse auf seine Website, sie kümmern sich um uns und interessieren sich für uns. Sie wollen den Sport voranbringen, und zwar, weil sich die Sponsoren auch für den Frauenradsport interessieren – denn auch Frauen kaufen Fahrräder. So einfach ist das.“

Im Interview für die erste Ausgabe der wieder auf den Markt gebrachten Zeitschrift Procycling betont die neue UCI-Präsidentin Sylvia Schenk, eine treibende Kraft hinter der Kampagne zur Förderung des Frauenradsports, dass der Radsport damit ein Vorreiter in Sachen Gleichberechtigung werden wird. Sie begrüßt auch, dass T-Mobile sich acht Jahre nach dem Ausstieg von Telekom wieder im Radsport engagiert. Um seinen Anteil am schnell wachsenden Mobilfunkmarkt zu vergrößern, setzt T-Mobile auf junge Talente wie den hochgehandelten Sprinter Mark Cavendish, den Puncheur Edvald Boasson Hagen, den Zeitfahrspezialisten Tony Martin und den vielversprechenden Deutschen Meister Gerald Ciolek.

Doch keines dieser beiden neuen Teams kann die Franzosen davon abhalten, die Tour erneut zu dominieren. Das Rennen wird ein Kampf zwischen dem Titelverteidiger Sandy Casar und dem König der Kletterer, David Moncoutié, der zuvor ProTour-Siege beim Midi Libre und der Deutschland Tour gefeiert hat. Letztere gilt nun als vierte große Landesrundfahrt, weil das Interesse in Deutschland explosionsartig gestiegen ist. Casar, dessen FDJ-Team durch den Einstieg von Trek als Co-Sponsor erheblich verstärkt wurde, macht den Sieg schließlich im letzten Zeitfahren perfekt.

 


Januar 2009
Bisher eine weitgehend europäische Angelegenheit, begrüßt die ProTour ihre erste amerikanische Mannschaft in Form von Amgen-Livestrong. Als geistiges Kind des 1993er Weltmeisters Lance Armstrong wird das Team von zwei seiner früheren Motorola-Teamkollegen angeführt: George Hincapie ist „Road Captain“, während Frankie Andreu im Mannschaftwagen die Strategie bestimmt. Mit zusätzlichem Sponsoring von Raleigh und dem koreanischen Automobilhersteller Kia hat der amerikanische Rennstall das Budget, um den zweifachen Toursieger Casar und den hochgehandelten Spanier Alberto Contador unter Vertrag zu nehmen. Das unmittelbare Ziel ist der Toursieg, aber das Team ist auch entschlossen, frischen Wind in die vor sich hin dümpelnde US-Szene bringen, die kein einziges Etappenrennen auf höchstem Niveau hat. Sie holen den größten amerikanischen Tourfahrer, Greg LeMond, als Botschafter und geben ihm die Aufgabe, Schwung in das lahme amerikanische Renngeschehen zu bringen.

Mit dem Kamerahersteller GoPro an Bord gehört Amgen-Livestrong auch zu den ersten, die die neueste Kamera-Technik einsetzen. Die kleine Helmkamera, die gemeinsam mit der durch die UCI gegründete Managementgesellschaft, den Rennorganisatoren, Rennställen und Fahrern entwickelt wurde, ist 2008 bei der florierenden WorldTour der Frauen eingesetzt und getestet worden. Sie hat dem Sport ein neues Publikum beschert, nicht zuletzt dank der Aufnahmen von einem spektakulären Crash im Finale von Mailand – San Remo. Der Massensturz – bei dem Yukiya Arashiro unverletzt blieb, bevor sie das Rennen gewann – verbreitete sich auf YouTube wie ein Lauffeuer.
 

Juli 2012
Nach drei Toursiegen in Serie wird Alberto Contadors Erfolgssträhne vom Briten Bradley Wiggins beendet, der im Mai mit dem Gewinn der China-Rundfahrt im Hochgebirge den Grundstein für seinen Erfolg gelegt hat. Das Rennen endet mit einem britischen Doppelerfolg, Mark Cavendish und Lizzie Armitstead gewinnen auf den Champs-Élysées – nur eine Woche vor dem Beginn der Olympischen Spiele in London, bei denen der Radsport sicher zu den Höhepunkten gehören wird.

Das integrative Modell des Radsports, das alle großen Akteure dieser Sportart unter dem Dach einer Management-Gesellschaft vereint, findet immer mehr Resonanz. Funktionäre anderer Sportarten geben zu, dass der Profiradsport ein sehr erfolgreiches System entwickelt hat, von dem andere Sportarten sich eine Scheibe abschneiden können. Bei einem Empfang nach der Tour in Paris sagt ein Gast zu Procycling: „Es ist bemerkenswert, eine Sportart zu sehen, wo alle gleichzeitig an einem Strang ziehen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass der Berufsradsport vor weniger als zehn Jahren ein hoffnungsloser Fall war. Wer hätte das gedacht?“



Cover Procycling Ausgabe 105

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 105.

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