Geschichte geschrieben

Mit seiner wissenschaftlichen Herangehensweise hat das Team Sky die Konkurrenz in drei manchmal profanen, aber dennoch denkwürdigen Tour-Wochen in den Schatten gestellt. Daniel Friebe findet, dass Bradley Wiggins und Sky jedes Lob verdient haben.

 

Zufällig rollte das Peloton am ersten Donnerstag der Tour kurz nach der Mittagszeit in Richtung Champs-Élysées – nicht auf den „schönsten Boulevard der Welt“, den Mark Cavendish so liebt, sondern in einen Park gleichen Namens an der Ziellinie in Saint Quentin. Mehrere hundert Meter weiter auf einer Parallelstraße hatte eine Reihe von Teambussen geparkt, und eine Hand voll Manager, Pfleger und Pressesprecher stand herum, die Hände in den Hosentaschen, Steinchen tretend und die Zeit totschlagend. Wie immer war Sky Team-Boss Dave Brailsford entspannt und zugänglich, aber entschlossen. Ebenso wie die Journalisten im Presseraum hatte Brailsford bemerkt, dass sein Team auf den ersten vier Straßenetappen nervös und zaghaft gefahren war. Fast möchte man sagen, auf eine Weise, die dazu beitrug, dass Konstantin Sivtsov auf dem Weg nach Boulogne stürzte und Sky damit einen Mann verloren hatte, noch bevor die Berge erreicht waren. „Heute machen wir es anders“, sagte Brailsford überzeugt. „Ich habe ihnen heute Morgen gesagt: Beim Training fahrt ihr ja auch 20 Minuten mit hoher Intensität, warum nicht hier? Wir haben bisher nicht genug Einsatz gezeigt. Damit ist heute Schluss. Von heute an zeigen wir vollen Einsatz.“

In einer Tour, der es an Spannung und Wendepunkten mangelte, war das vielleicht der Schlüsselmoment: Sky hatte die Opposition in Sachen Rekrutierung, Planung und Training überboten und war jetzt im Begriff, die letzten Reste von Lampenfieber auszutreiben. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt des Rennens schrieb Vincenzo Nibali Wiggins schon fast ab. Aus dem Grund, „dass er nervöser als Evans ist, sobald sich RadioShack an die Spitze setzt, hängt sich das ganze Team Sky an ihr Hinterrad, als ob sie sich schon Sorgen um die Verteidigung ihres zweiten Platzes machen würden“. Ein oder zwei Tage später ging es in die Berge, und die Erleichterung von Sky war deutlich zu spüren. „Das ist jetzt unser Teil des Rennens“, verkündete Brailsford am Morgen der Etappe nach La Planche des Belles Filles aufgeregt. „Wir wissen genau, was wir machen: Mick Rogers wird am vorletzten Anstieg Tempo machen, Edvald übernimmt in der Abfahrt und bis zum Beginn des letzten Hügels, dann sind Richie, Froome und Brad an der Reihe.“

Was sich bei der Umsetzung änderte, war nur, dass Rogers Brailsfords Arbeitsplan eintraf und am Schlussanstieg noch eine zweite Schicht übernahm. Am nächsten Morgen machte L’Équipe Sky das zweifelhafte Kompliment eines Vergleichs mit US Postal, während der frühere Festina-Coach Antoine Vayer in einem Artikel für Le Monde unverblümt sagte, das britische Team sei bestimmt gedopt. „Der Wandel im Radsport findet nicht statt. Die Thatcheristen und einige Alliierte sind immer noch zu stark und werden den Rest der Welt dominieren“, schrieb Vayer, wobei ihm die Entrüstung aus der Feder tropfte.
  
Wiggins, das muss man sagen, tat nicht viel, um die Skeptiker zu besänftigen, als er an seinem zweiten Nachmittag in Gelb einen Fluch abließ, der Eminem hätte erröten lassen. Es sei daran erinnert, dass Mark Cavendish bei der Tour de Romandie 2010 wegen eines geringen Vergehens – ein umgedrehtes Victory-Zeichen – die Heimreise antreten musste. Hätte der Radsport bei den Briten zu Beginn der Tour so hoch im Kurs gestanden wie am Ende der drei Wochen, wäre das Ausbleiben einer förmlichen Entschuldigung von Wiggins und Sky ein Skandal gewesen. Aber mit jeder Pressekonferenz, jeder leidenschaftlichen (aber von da an ohne vulgäre Vokabeln vorgetragenen) Äußerung zum Doping verringerte Wiggins den Schaden und zerstreute die Zweifel. Gegen Ende der Tour bezeichneten ihn Veteranen, die 30 Frankreich-Rundfahrten erlebt hatten, als überzeugendsten Mann, den sie je auf einer Pressekonferenz gesehen hatten. Nicht schlecht für jemanden, der nach eigenem Bekenntnis wegen seiner „eingeschnappten, sehr defensiven und gleichgültigen Einstellung“ und seiner Leistung das Vertrauen von Brailsford und Sky Ende 2010 fast komplett verloren hätte.

Das war abseits der Straße. Auf dem Asphalt, als das Peloton die Vogesen und den Jura hinter sich ließ, kam Wiggins’ größte Herausforderung nun von seinem Teamkollegen Chris Froome, dessen „Attacke“ (sein Wort, nicht unseres) im Anstieg nach La Toussuire entweder impulsiv und naiv oder bösartig und dazu angetan war, seinen Kapitän zu erniedrigen. Da wir Froome kennen, können wir Letzteres praktisch ausschließen, während wir uns leicht vorstellen können, dass er frustriert war, weil er in den Bergen an einen schwächeren Kletterer gekettet war. Die meiste Zeit, bis zum letzten Tag, als er emotional und körperlich erschöpft aussah und klang, verriet Froomes Körpersprache nur leiseste Anzeichen von Groll. Wie einer der großen Sportlichen Leiter bei der Tour de France, Cyrille Guimard, sagte, „könnten die Probleme kommen, wenn Froome nach Hause kommt, raus aus der Blase, und seine Freunde und Familie anfangen, mit ihm über die verpasste Chance zu reden“.

Das Problem für alle, die die Aussicht auf eine Palastrevolte verlockend fanden – und die große Stärke der Taktik von Sky – war das völlige Fehlen von Zweideutigkeit. Wiggins war der Kapitän, und sein Team behandelte die Tour fast wie ein dreiwöchiges Mannschaftszeitfahren, fast losgelöst von allem, was sonst noch im Rennen passierte. Nicht einmal gerieten sie in Panik, beschleunigten nicht einmal merklich nach einer Attacke eines Rivalen, sei es Nibalis Fallschirmsprung vom Grand Colombier oder Evans’ Mitfahrt im Pickup-Truck von Tejay Van Garderen am Glandon. „Wenn in dieser Woche jemand angriff, wies uns Mick Rogers einfach an, sie fahren zu lassen, weil wir mit 450 Watt fuhren und du 500 Watt nicht 20 Minuten lang treten kannst – außer du hast ein paar Liter Blut extra“, erklärte Wiggins auf seiner letzten Pressekonferenz. Der ehemalige Armstrong-Gefolgsmann Frankie Andreu meldete sich zu Wort und sagte: „Die Leute vergleichen Sky mit US Postal, aber Sky lässt die Ausreißergruppen früh gehen, was Lance nie gemacht hätte. Aber das kümmert Sky nicht – sie wissen, dass sie einfach konstantes Tempo fahren und sie zurückholen können.“

Das sorgte für ein banales Rennen und gab Froome keine Chance, sich die Beine zu vertreten, aber es war außerordentlich effektiv – und nur möglich mit einem sorgfältig ausgewählten, gewissenhaft trainierten und sehr disziplinierten Team. Ja, in Zukunft können wir auf mehr Unterhaltung, etwas mehr joie de vivre hoffen. Aber, wie Thomas Voeckler sagte: „Man kann sie kaum dafür kritisieren, dass sie ihr Ziel erreichen und die Tour gewinnen.“ Dabei wird es natürlich nicht leicht sein für Sky, auf der Welle zu surfen. Wird Froome bleiben? Es sieht so aus – aber unter welchen Bedingungen? Insider murmeln, dass Wiggins den Giro anpeilen und dann seinem Teamkollegen in Frankreich helfen könnte. Nächstes Jahr wird es bei der Tour mehr und schwerere Berge geben – aber auch einen gewissen Alberto Contador.

Und keinen Mark Cavendish in einem Sky-Trikot. Denn während es für den Weltmeister aus sportlichen und kommerziellen Gründen sinnvoll war, dabei zu sein, ist es jetzt sinnvoll für ihn, zu gehen. In den ganzen drei Wochen im Juli gab Cav eine isolierte, desorientierte und manchmal missmutige Figur ab, obwohl auch er zu Wiggins stand. Die nicht zu ändernde Realität ist, dass er es sich nicht leisten kann, noch zwei Jahre oder auch nur eins wehmütige Melodien als dritte Geige von Sky zu spielen – und sowohl Cavendish als auch sein Management wissen das. Ohne Cavendish könnte Sky noch formidabler in den Bergen sein, und die gegnerischen Teams werden einfach ein höheres Niveau erreichen müssen. Man hörte von ihren Pressekonferenzen vor dem Rennen, dass sich Vincenzo Nibali, Jurgen Van Den Broeck und Cadel Evans bei ihrer Ankunft in Lüttich die Daumen drückten, ihre Bestform zu finden. Bei Sky gab es diese Unsicherheit nicht, und es hat sie auch das ganze Jahr nicht gegeben.

Nibalis Schwung und seine Spontaneität – die Art, wie er am Ende jeder Etappe praktisch vor dem Liquigas-Teambus eine Vollbremsung machte, sein Bein über das Oberrohr schwang und im Bus verschwand – sorgte für einen reizvollen Kontrast zu Sky, verriet aber auch manchmal die nachlässige Vorbereitung des Italieners. Eine Geschichte machte in der ersten Woche die Runde, wonach Nibali sich optimistisch über seine Chancen auf der 9. Etappe von Arc-et-Senans nach Briançon geäußert hatte – weil er dachte, es sei ein Mannschafts- und kein Einzelzeitfahren. Konnte das stimmen? Selbst wenn nicht – sein erstaunter Gesichtsausdruck und sein Kopfschütteln auf die Frage, ob er die knifflige Abfahrt vom Col du Mollard auf der 11. Etappe kenne oder sie sich vorher angeschaut habe, waren bezeichnend. Sky hingegen hatte, wie Brailsford sagte, „jedes Stück der Strecke, wo wir dachten, dass dort etwas passieren kann“, ausgekundschaftet und auf Video aufgenommen.

Es sollte sich zu einem der Themen der Tour entwickeln: Pragmatismus gegen Romantik, Strategie gegen Improvisation. Skys Wunsch, Cavendish bei Laune zu halten, und das über allem stehende Ziel des Gelben Trikots mit Wiggins. Die draufgängerische Naturgewalt, die Sagan ist, ein bärenstarker Greipel und ein König der Berge, Voeckler, der die französische Renaissance vorangetrieben hat und verkörpert und dessen epische Reiterzüge eine Hommage an die sepiagetönten Frankreich-Rundfahrten der 80er sind, die Voeckler inspiriert haben. Marc Madiots Zögern, Thibaut Pinot in die Feuertaufe zu schicken, gegen das Beharren des Youngsters. Pinot, der sich und seinen Teamkollegen Arthur Vichot als Tom Sawyer und Huckleberry Finn des französischen Radsports sieht, angelockt vom Ruf der Wildnis und der Vogesen – konfrontiert mit Brailsfords Traum, ihn eines Tages zu Sky zu locken, um ihn zum Tour-Sieger umzuprogrammieren.

 

Prudhommes Annahme, dass 100 Zeitfahr-Kilometer die Kletterer zum Angriff zwingen würden – was für ein Wunschdenken das doch war! Prudhomme, der in dem Movistar-Wunderkind Nairo Quintana den Mann sieht, der das Gleichgewicht zwischen den Kletterern und Rouleuren wiederherstellen könnte – und Quintanas Sportlicher Leiter Eusebio Unzué, der uns vier Tage vor Paris riet, keine Wunder zu erwarten, wenn der kleine Kolumbianer nächstes Jahr sein Debüt gibt. „Die großen Kletterer sind in den letzten 20 Jahren verschwunden“, seufzte Unzué. „Sie müssen eine Woche lang mit 42, 44, 45 km/h fahren, und wenn sie in die Berge kommen, sind sie tot. Wenn Sie morgen, am vorletzten Tag einer dreiwöchigen Tour, Nairo in ein 50 km langes Zeitfahren gegen Wiggins schicken würden, würde er eine Woche verlieren.“ 

Aber wer außer Contador sollte Froome und Wiggins 2013 das Leben schwer machen? Fränk Schlecks Form in diesem Jahr zeigte, dass vielleicht sogar seine Zeiten als gefährlicher Außenseiter vorbei sind, und sein positiver Test auf Xipamid am französischen Nationalfeiertag stellt seine Zukunft und in gewissem Maße auch die seines Bruders in Frage. Hat Schleck betrogen, oder wurde er vergiftet? Einige werden lachen, aber die zweite Hypothese ist vielleicht nicht weniger weit hergeholt als die erste – in Anbetracht des Kontextes und der bedrängten Lage seines Teams. Dem französischen Anti-Doping-Experten Jean-Pierre de Mondenard wird oft vorgeworfen, zu schnell mit einem Urteil bei der Hand zu sein, aber sogar ihm fiel es „schwer zu glauben, dass Schleck dieses Produkt absichtlich verwendet haben könnte“. Dieser Fall hat wie die Contador-Saga vor zwei Jahren das Potenzial, sich ewig hinzuziehen.


Die drei neuen Gesichter auf dem Podest in Paris, die Kapitulation von Evans und die Abwesenheit der Schlecks und Contador trugen zum Gefühl eines Generationswechsels bei. Die beiden jüngsten Fahrer des Rennens, Sagan und Pinot, gehörten zu den Besten, und Froome, Pierre Rolland und Van Garderen segelten auf dem gleichen frischen Wind durch das Rennen. Wiggins ist 32. Er könnte noch drei Frankreich-Rundfahrten gewinnen, es könnte aber auch seine letzte gewesen sein. Für ihn wird das keine Rolle spielen. Jedenfalls keine allzu große. „Ich habe mich in den letzten drei Wochen ständig daran erinnert, dass es nur Sport ist“, sagte er am vorletzten Abend in Chartres. „Es geht nicht um Leben und Tod. Bei der Tour kann man diesen Realitätssinn sehr leicht verlieren. In dem Moment, wo ich über die Linie fahre, schieben die Polizisten Leute aus dem Weg, als wenn ein Massenmörder gerade in den Gerichtssaal gegangen wäre oder so etwas, aber das ist nicht real. Es gibt viel wichtigere Dinge im Leben.“

Das stimmt, die gibt es, aber weder Wiggins’ Leistung noch die von Sky sollte übersehen oder geschmälert werden. Vor drei Jahren tauchte das Team im Radsport auf und versprach einen sauberen britischen Gewinner der Tour de France innerhalb von fünf Jahren. Viele von uns lachten damals über Teamchef Brailsford und seine Vision – und auch deswegen können wir vor ihm und Bradley Wiggins nur den Hut ziehen.



Cover Procycling Ausgabe 103

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 103.

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