Olympia in London

Der Kurs des olympischen Straßenrennens war seit seiner Präsentation Gegenstand vieler Debatten. Um nicht länger zu spekulieren, fuhr Procycling die Strecke ab. Mit dabei: Marcel Wüst.

 

Sie denken, dass es beim Kurs des olympischen Straßenrennens nur um den Box Hill geht? Falsch gedacht. Während sich alle Diskussionen nur darum drehten, ob Mark Cavendish die neunmal hochzufahrende „Zig Zag Road“ überlebt, ist die Realität viel komplizierter. Jedes Jahr gibt es im Vorfeld der Weltmeisterschaft ähnliche Mutmaßungen, wem der Kurs am besten liegt, und da Olympia etwas ganz Besonderes ist, die Strecke ganz neu und die größten Mannschaften nur fünf statt neun Fahrer haben, schießen die Spekulationen ins Kraut. Die einzige Lösung war, sich die Meinungen von Experten einzuholen und den Kurs selbst unter die Räder zu nehmen. Statt nur einen Profi mitzunehmen, haben wir zwei verschiedene Fahrer engagiert, die uns unterschiedliche Sichtweisen liefern – einen Sprinter und einen Rouleur. Die erste Kategorie wird vertreten durch ein Gesicht (und ein paar Beine), die allen Procycling-Lesern vertraut ist: Marcel Wüst, Sieger von 14 Sprint-Etappen bei allen drei großen Landesrundfahrten und vielen anderen Rennen. Obwohl seine Karriere durch eine Verletzung im Jahr 2000 vorzeitig beendet wurde, ist der Kölner noch immer topfit und als Radsport-Insider bestens informiert.

Den Gegenpunkt bildet Erick Rowsell, ein 21 Jahre alter Neuprofi beim Continental-Team Endura Racing und Absolvent der Olympia-Akademie von British Cycling. Er beschreibt sich selbst als Puncheur/Rouleur und untermauert das mit seinem superben ersten Profi-Sieg, den er in der fünften Woche seiner Debütsaison erzielte. Auf der 5. Etappe der Tour de Normandie (Kategorie 2.2) griff er sieben Kilometer vor dem Ziel an und fuhr alleine mit hochgerissenen Armen über die Ziellinie. Was Erick gegenüber Marcel an Rennerfahrung fehlt, macht er mit seinen Ortskenntnissen mehr als wett. Er lebt in Cheam, Surrey, nur zehn Kilometer vom Olympia-Kurs entfernt, und fährt den Rundkurs auf dem Box Hill „fast jeden Tag, wenn ich nicht bei einem Radrennen bin“.
 
Obwohl andere Optionen diskutiert wurden, war es fast unvermeidlich, dass Start und Ziel des Kurses im Londoner Zentrum sein würden, um die Strecke mit so vielen Sehenswürdigkeiten wie möglich zu spicken. Das Rennen beginnt auf der Prachtstraße The Mall vor großen Zuschauermengen und führt auf den ersten zehn Kilometern über die King’s Road, die Putney Bridge und durch den Richmond Park, wo sich bestimmt schon eine ungefährliche Ausreißergruppe mit Fahrern kleinerer Nationen gebildet und das Rennen sich vorerst beruhigt haben wird. Aber sie werden nicht weit wegkommen – aus verschiedenen Gründen. Erstens ist der Rundkurs am Box Hill mit 15 Kilometern (rund 22 Minuten pro Runde) nicht allzu lang, und das Peloton muss Tempo machen, wenn die Gefahr besteht, dass die Ausreißer dem Feld eine Runde abnehmen, was zu Chaos auf den schmalen Straßen führen kann. Bei der Weltmeisterschaft in Geelong 2010 hatten die Ausreißer 23:30 Minuten herausgefahren, und auf dem Rundkurs mussten sich die Mannschaftswagen hinter die Ausreißer zurückfallen lassen.

Zweitens wird es keinen Funkverkehr geben, also wird man die Ausreißer sicherheitshalber an einer etwas kürzeren Leine halten. Drittens wird die Straße nach nur 40 Kilometern schmaler, wenn die Ortschaft Pyrford erreicht wird, sodass die Favoriten und ihre Teams Wert darauf legen werden, im vorderen Bereich zu fahren. Das führt zwangsläufig zu einem höheren Tempo. Die erste wirkliche Herausforderung kommt nach 53 Kilometern, wenn es auf die schmale Staple Lane geht, einen Anstieg der 3. Kategorie, der auch bei der Großbritannien-Rundfahrt auf dem Programm steht. Er ist nicht sehr steil oder lang, wird aber die Herzfrequenz erhöhen, das Feld in die Länge ziehen und vielleicht einige Fahrer überraschen, die sich den Rundkurs nur auf dem Papier angeschaut haben. Die Abfahrt auf der anderen Seite ist eine echte Gefahr, denn sie führt durch den Wald, ist kaum breit genug für zwei Autos und weist dazu eine teuflisch steile Spitzkehre auf. „Hier wird es viele Stürze geben“, prognostiziert Marcel mit einem wissenden Lächeln, denn er kennt den Stress in solchen Situationen.

Dann geht es auf die breite A25, wo sich das Peloton aber auch nicht lange entspannen kann, da es bis zum Rundkurs nur 14 wellige Kilometer sind. Nach einigen Kreisverkehren auf der zweispurigen A24 geht die Strecke rechts ab, steigt über 300 Meter sanft an und macht dann einen Rechtsknick auf den eigentlichen Box Hill, die „Zig Zag Road“. Hier ist die Straße neu geteert und viel glatter als die bisherige Strecke. Die Steigung beträgt bis zur ersten Spitzkehre nur vier bis fünf Prozent, geht dann auf sechs Prozent hoch, bleibt in der zweiten, viel engeren Spitzkehre in diesem Bereich und lässt dann auf dem offeneren Abschnitt an der Seite des Hügels, wo es in den Wind geht, wieder etwas nach. Wenn das Peloton an diesem Punkt einen ähnlichen Gegenwind hat, dürften jegliche Angriffe unterbunden werden. Um hier zu attackieren, ist der Anstieg auch nicht schwer genug, und das Feld wird schnell genug klettern, um nützlichen Windschatten zu bieten, sodass wahrscheinlich alles zusammenbleibt. Eine Mauer ist das hier nicht.

Erick glaubt trotzdem, dass die Teams hier aufpassen müssen. „Wenn du die vermeintliche Kuppe erreichst, zieht es sich noch einige Hundert Meter hin. Wenn die Fahrer an der Spitze hier ein bisschen Tempo rausnehmen, wäre es eine gute Stelle für Leute wie Thomas Voeckler, um zu attackieren, da alle ein bisschen Gummi in den Beinen haben werden. Hier könntest du eine Lücke reißen, sodass sie dich nicht mehr sehen.“

Auf der Kuppe hört der neue Asphalt auf, weicht einer Oberfläche, die sehr schwer und sehr holprig ist – sogar für bescheidene britische Verhältnisse. Es ist so rau, dass sogar das Trinken stressig ist, und das, ohne in einem dichten Feld zu fahren. Marcel ist nicht angetan. „Es ist scheiße“, fasst er kurz zusammen. Es folgt eine schnelle und knifflige, wenn auch kurze Abfahrt auf der Runde. In unserer kleinen dreiköpfigen Gruppe macht sie Spaß, und wir erreichen 68 km/h – am 28. Juli dürfte es hier um einiges schneller zugehen. Die zweite Abfahrt ist einfacher, hat es aber trotzdem in sich und führt zurück zur A24-Fernstraße, auf der drei Kilometer zu fahren sind. Es ist ein langweiliger Abschnitt, der zumindest vielen Zuschauern die Möglichkeit gibt, sich nahe an die Strecke zu stellen, was auf der Runde sonst leider fehlt. „Es ist einfach kein Platz für Zuschauermengen“, stellt Marcel fest, „und das ist wirklich schade. Es soll doch ein großes Festival werden.“

Komplettiert wird der Rundkurs durch die Old London Road durch Mickleham. Auch sie ist schmal und holprig, bietet aber einen der besten Plätze für Zuschauer auf der ganzen Strecke – die Tische vor dem „Running Horses“-Pub. Am Tag des Rennens wird man dort aber nur Stehplätze bekommen. Die „Zig Zag Road“ erreicht man über eine kurzen ansteigenden Abschnitt, wo die Fahrer um Positionen kämpfen werden, gefolgt von einem abschüssigen Stück zur Kurve in den Hügel hinein, die von dieser Seite aus viel enger ist. Das Risiko von Stürzen ist hier hoch, aber sie werden bei dem niedrigen Tempo nicht gravierend sein, dennoch könnten sie die schmale Straße blockieren und eine Lücke verursachen, die schwer zu schließen wäre. Deswegen wird die richtige Positionierung umso wichtiger sein.

 

Nachdem wir auf der ersten Runde eine Pause eingelegt haben, um Fotos zu machen, wollen wir die zweite Runde jetzt am Stück fahren, um uns vorstellen zu können, wie es ist, hier ein Rennen zu fahren, und um unsere GoPro-Video-kameras zum Einsatz zu bringen. Dieses Mal tut der Anstieg mehr weh, aber wir fahren 25 km/h. Im Rennen könnten die Fahrer hier in jeder Runde mit 30 km/h hochfahren, wobei sie dann vor den Spitzkehren bremsen werden. Was uns am Rest der Runde am meisten auffällt, ist, dass die schlechte Oberfläche, die schmalen Straßen und eine Handvoll enge Kurven es den Teams wirklich schwermachen werden, Ausreißer einzuholen. „Sie werden sich damit begnügen müssen, die Abstände zu möglichen Ausreißern zu kontrollieren“, schätzt Erick, „und sich die eigentliche Aufholjagd für die Schlussphase aufheben.“

Das sieht auch Marcel so. „Es ist ein echt gemeiner Kurs. Er ist eng, schmal und holprig. Du musst die ganze Zeit vorne fahren, und das ist hart – körper-lich und auch psychologisch. Es gibt einige gefährliche Punkte in Anbetracht des Tempos, das beim Rennen angeschlagen werden wird, vor allem die Kurve zum Hügel.“ Wir fahren nach London in dem Bewusstsein, dass die Straßen für uns nicht abgesperrt sein werden, und stellen uns vor, wie toll es wäre, wenn sie autofrei wären. Als wir The Mall erreichen, flattern noch die riesigen Union Jacks, die zum diamantenen Thronjubiläum der Queen eine Woche zuvor gehisst wurden. Dies ist die Champs-Élysées von London, und wenn man es sich so anschaut, kann man sich keinen schöneren Ort für das Finale des Rennens vorstellen.
 
Was halten Erick und Marcel also von der Strecke? „Die Straßen sind zu breit und schnell, als dass sich ein Fahrer auf der letzten Runde absetzen und durchkommen kann – nicht einmal Cancellara“, analysiert Erick. Marcel sieht das genauso: „Wenn du am Fuß des Hügels attackierst, sind es noch 55 Kilometer bis zum Ziel. Das ist zu lang, um sich auf den flachen Straßen ins Ziel zu retten.“ Sehen sie es also genauso wie die Wetter und Wettbüros, dass Mark Cavendish, eskortiert von treuen Teamkollegen, der aktuelle Favorit ist? Nicht unbedingt. „Neunmal über diesen Rundkurs zu fahren und dranzubleiben, wird für einen Sprinter schwer“, vermutet Marcel. „Und wenn er zum Schluss noch da ist, ist er vielleicht zu erschöpft, um zur Höchstform aufzulaufen.“

Wir fragen ihn, ob er auf diesem Kurs drangeblieben wäre. „Puh, ich weiß nicht. Es wäre wirklich schwer. Cavendishs Problem ist, dass er zu gut ist. Niemand wird der britischen Mannschaft helfen, eine Ausreißergruppe zu jagen, wenn sie einen Fahrer vorn haben. Aber Olympia ist so etwas Besonderes, dass die Teams nicht ruhen werden, wenn ihr Kapitän eine Chance hat und sagt, dass er sich gut fühlt. Es wird interessant, weil die Mannschaften so klein sind.“
Diese Idee greift Erick auf und schlägt eine alternative Taktik vor: „Es wird interessant, die Taktik der Briten mit einer kleineren Mannschaft als bei ihrem WM-Sieg zu sehen – ob sie alle für Cav arbeiten oder jemanden in die Ausreißergruppe schicken, um den Druck rauszunehmen, und Cav einen Mann weniger geben. Geraint Thomas wäre ideal für die Rolle gewesen, wenn er sich nicht auf die Bahn konzentrieren würde. Auch Ben Swift könnte das machen, wenn er in das Fünfer-Aufgebot kommt, und er ist schnell genug, um zu gewinnen, wenn die Ausreißer durchkommen.“

Marcel glaubt, dass es auf einen Zermürbungskrieg hinausläuft, wie bei einem echten Klassiker. „Es könnte darauf hinauslaufen, dass 30 Fahrer in London ankommen, unter denen keine echten Sprinter sind“, vermutet er. „Eine starke Gruppe, in der die richtigen Teams vertreten sind, könnte durchkommen, wenn sie mit nur 40 Sekunden Vorsprung aus dem Rundkurs rauskommt. Dann könnte ein starker Fahrer drei bis acht Kilometer vor dem Ziel angreifen, wie Alessandro Ballan es bei der Weltmeisterschaft in Varese 2008 gemacht hat.“ Erick stellt noch etwas fest, und wir pflichten ihm gerne bei: „Das könnte eines der unterhaltsamsten Rennen des Jahres werden.“



Cover Procycling Ausgabe 102

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 102.

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