Es war einmal

… ein ProContinental-Team, das zehn Tage in Gelb fuhr, Vierter im Gesamtklassement wurde, eine der schwersten Etappen gewann und das Weiße Trikot mit nach Hause nahm. War Europcars Fabeljahr 2011 ein Glückstreffer, oder hat sich ein potenzieller französischer Tour-Sieger zu erkennen gegeben?

 

Es war einmal vor langer Zeit, da beschloss ein 25-Jähriger, der so süß und frisch gebacken aussah wie die Brioche, die sein Sponsor verkaufte, auszuziehen und sein Glück bei der Tour de France zu suchen. Das Schicksal war ihm hold, denn nachdem er an einer geglückten Flucht teilgenommen hatte, fand sich unser Held im Besitz des Goldenen Vlies wieder. Wie jeder weiß, hat das legendäre gelbe Vlies magische Kräfte, und es brachte einen Tornister voller Courage mit sich. So kam es, dass unser Held sich dem rechtmäßigen Besitzer zehn Tage lang widersetzte, einem Riesen, von dem jeder wusste, dass er gnadenlos war und starke Beine hatte, und der ihn in die schrecklichen Berge jagte.
Im folgenden Jahr zeigte unser Held seine Tapferkeit bei Turnieren in seinem Heimatland, gewann die Französische Meisterschaft und viele Rennen der Coupe de France. Doch seine Tage im Goldenen Vlies verblassten zu einer Geschichte, die sich die Dorfältesten am Lagerfeuer erzählten.

Sieben Jahre vergingen, und unser Held war nun ein angesehenes – und etwas ledriger aussehendes – Mitglied seines Clans. Als er am jährlichen Tour-de-France-Ritual teilnahm, war ihm die Glücksgöttin wieder einmal wohlgesonnen. Verschiedene Riesen streiften jetzt durch das Königreich, und eine Weile herrschte Verwirrung, wem das Goldene Vlies wirklich gehörte. Unser Held und sein treues Gefolge rechneten damit, in den Bergen hinterrücks überfallen zu werden, aber dennoch: Je weiter sie fuhren, umso länger konnten sie den Angreifern entkommen. Das Vlies leuchtete noch heller, bis die Leute sich fragten, ob nicht vielleicht unser Held der rechtmäßige Besitzer sein könnte. Er griff tief in seinen magischen Tornister, und selbst auf dem schwindelerregenden Gipfel des Galibier konnte ihm der gefürchtete Leoparden-Bruder das Vlies nicht entreißen.

Aber auf dem tückischen Hang von Alpe d’Huez zauderte unser Held. Als er den Leoparden-Bruder und den Esser des verschmutzten Fleisches verfolgte, stellte er fest, dass sein Tornister leer war. Trotzdem sammelte sich sein treues Gefolge und entsandte einen loyalen Diener, der sich wie ein Adler in die Lüfte schwang und eine Etappe für dieses Team gewann. Am nächsten Tag brachte dieser furchtlose Lehrling ein großes Opfer, das ihm ein strahlend weißes Leibchen einbrachte, das nur dem tapfersten jungen Mann verliehen wird. So war eine neue Legende geboren.

Im vergangenen Jahr wurde die Tour de France ein gallisches Sommermärchen dank Thomas Voeckler, Pierre Rolland und ihrer loyalen französischen Teamkollegen von Europcar. Aber wie genau passierte es? Obwohl er damals Französischer Meister war, hatte Voecklers stoische Verteidigung des Gelben Trikots 2004 etwas Draufgängerisches und Underdogmäßiges an sich. Es war einfach eine unverhoffte Abwechslung, bevor Armstrong übernahm. 2011 jedoch war anders, weil seine brillante Vorstellung nicht aus dem Nichts kam. Voeckler war immer ein guter, aggressiver Fahrer – ein puncheur – doch er startete stark ins letzte Jahr und wurde dann noch stärker, gewann unter anderem die 1. Etappe der Mittelmeer-Rundfahrt, die Gesamtwertung der Vier Tage von Dünkirchen, die Tour du Haut Var und zwei Etappen von Paris – Nizza. Es war keine Siegesserie, die die Klassementfahrer um den Schlaf gebracht hätte, aber es war klar, dass Voeckler, der immer schon ein Opportunist war, in Topform und gefährlich war.

Als er auf der 9. Etappe ins Gelbe Trikot fuhr, sagte Voeckler: „Als ich es das letzte Mal trug, wurde gesagt, dass sie mich das Gelbe Trikot hätten holen lassen. Aber dieses Mal habe ich es drauf angelegt. Ich habe eine klare Entscheidung getroffen. Ich habe den Etappensieg geopfert, um es zu gewinnen.“ War Voeckler – rückblickend – überrascht, dass er das Trikot so lange behielt? „Ehrlich gesagt war ich überrascht, auf diesem Niveau zu sein“, sagt er zu Procycling. „In einer Ausreißergruppe zu sein, das Gelbe Trikot zu holen, an deine Grenzen zu gehen und dem Peloton Zeit abzunehmen – dass ich das kann, wusste ich. Aber im Hochgebirge gegen die Besten zu kämpfen und in den Top Five einer großen Rundfahrt zu landen, vor allem der Tour de France? Ich muss zugeben, dass ich angenehm überrascht war.“

Voeckler sagt, er habe sich auf das Rennen 2011 nicht anders vorbereitet als 2010; was also ist passiert? Wie hat er sich vom 76. Platz 2010 auf den vierten 2011 verbessert? War es einfach eine natürliche physische Steigerung, oder war etwas anderes im Spiel? Voeckler hat selbst keine richtige Erklärung dafür, und er weiß, dass in einigen Lagern vermutet wurde, Doping sei im Spiel gewesen. „Jeder kann denken, was er möchte“, sagt er auf der Website seines Teams. „Nach allem, was der Radsport durchgemacht hat, ist es nicht überraschend, dass die Menschen Zweifel haben, aber ich weiß, dass ich ehrlich bin.“

Voecklers Selbstvertrauen war sicher ein wichtiger Faktor. Er bezeichnet sein starkes Critérium du Dauphiné im letzten Jahr (wo er Zehnter wurde und auf vier Etappen in die Top Ten fuhr) als wichtiges mentales Sprungbrett. „Ich habe mit gesagt: Wenn ich bei der Dauphiné in den Alpen mit den Besten mitkomme, dann werde ich in drei Wochen auch nicht ganz schlecht sein.“ Und Voeckler weiter: „Während der Tour änderten sich meine Ambitionen, je länger ich in Gelb blieb. Ich dachte nie an den Gesamtsieg, aber an dem Tag, als ich es schaffte, in Gelb zu bleiben, als Andy Schleck die Etappe in den Alpen gewann, war mein Ziel für den folgenden Tag und für das Zeitfahren ganz klar, auf dem Podest zu bleiben oder sogar auf den zweiten Platz zu kommen, während ich, als ich das Trikot übernahm, gehofft hatte, es mindestens drei Tage – bis in die Pyrenäen – zu behalten. In den Pyrenäen sagte ich mir, vielleicht schaffe ich es, es noch zwei Tage zu behalten, weil ich nicht allzu viel Zeit verlor. Dann, nach dem Plateau de Beille, dachte ich mir, ich arbeite lieber für einen guten Gesamtplatz. Nach dem Galibier dachte ich mir, ich muss aufs Podest kommen. Aber ich dachte nie an den Sieg, weil da zu viele Faktoren waren, wie etwa das Zeitfahren, die für Cadel Evans sprachen.“

Pierre Rolland hingegen war nicht so überrascht über seine eigene Leistung. Während eines Trainingslagers seines Teams in der Schweiz sagte er uns, seine Leistung im letzten Jahr sei „eine logische Fortsetzung meiner Karriere. Sie war immer ordentlich, aber letztes Jahr hat etwas klick gemacht. Dennoch bleibt es Teil eines logischen Fortschritts“. Er verweist darauf, dass er 2010 den Fehler gemacht hatte, seine Bestform zu früh bei der Dauphiné zu erreichen. „Dafür habe ich bei der Tour wirklich bezahlt, während ich das letztes Jahr korrigierte, sodass ich in Topform sein konnte.“

Je länger Voeckler in Gelb blieb, umso aufgeregter wurden die Medien. Wie hat sich das auf das Team ausgewirkt? „Natürlich waren wir euphorisch“, erinnert sich Rolland. „Wir waren ein französischer Zweitdivisionär, und obwohl wir selbstbewusst waren, was unsere Leistung bei der Tour anging – wenn du das Gelbe Trikot hast, erzeugt das eine positive, euphorische Dynamik. Alle unsere Teamkollegen sind an dem Tag über sich hinausgewachsen.“ Die Emotionen hätten sich „verzehnfacht“, verglichen mit den größeren Teams, für die es „eine Gewohnheit“ sei, das Gelbe Trikot zu holen, sagt er.

„Wir sind ein französisches Team. Viele unserer Fahrer leben in der Vendée nicht weit voneinander entfernt; es ist ein Team mit einer familiären Atmosphäre und echter Freundschaft. Jean-René Bernaudeau hat es ins Leben gerufen. Es ist sein Ding.“ Aber natürlich musste die Euphorie irgendwo enden, und auf der 19. Etappe passierte das, was unausweichlich erschien. Während die bittere Pille, das Gelbe Trikot zu verlieren, durch Rollands Etappensieg versüßt wurde, schien Voecklers Einbruch nur das Unvermeidliche zu sein, das ihn schließlich einholte.

Aber nicht für Voeckler. „Ich habe nie an den Tour-Sieg geglaubt“, sagte er im Dezember der L’Équipe. „Das ist kein Bluff, aber ich habe ernsthaft an das Podest geglaubt.“ Sein Fehler, sagt er, war, Alberto Contador zu jagen, als der am Col du Télégraphe am Beginn der Etappe attackierte. „Ich hätte nicht versuchen sollen, Alberto Contador und Andy Schleck um jeden Preis zu verfolgen“, sagt er. „Wenn ich zeitgleich mit Cadel Evans ins Ziel gekommen wäre … Mir fehlte die Klarheit. Mein Sportlicher Leiter hätte mich stoppen sollen.“

 

Es gibt noch mehr Fehler, über die er sich heute ärgert. „Mein zweiter Fehler geschah in der Abfahrt nach Italien. Ich bin in der Abfahrt sehr riskant gefahren, von der Straße abgekommen und habe 30 Sekunden verloren, aber es hätte schlimmer ausgehen können. Noch einen Fehler habe ich auf dem Weg nach Gap gemacht, wo ich mit dieser Abfahrt im Regen nicht zurechtkam. Natürlich hat man nachher immer gut reden, aber wenn ich drei Dinge ändern könnte, wären es diese drei.“
 
Für Rolland sollte der schwerste Tag derweil noch kommen. „Zu Beginn war mein Ziel das Weiße Trikot und ein Etappensieg gewesen. Dann, als Thomas das Gelbe Trikot bekam, schob ich meine persönlichen Ambitionen beiseite, weil du das verteidigen musst, vor allem, weil er so viel für das Team getan hat. Aber nach den Alpen hatte ich die Etappe gewonnen, das Weiße Trikot geholt und musste es im letzten Zeitfahren behalten. Das hatte mich viel Kraft gekostet, daher war die Herausforderung, nicht zu viel Zeit auf Rein Taaramäe zu verlieren. Wenn ich die Etappe gewonnen, aber das Weiße Trikot nicht mit nach Hause genommen hätte, wäre ich nur halb zufrieden gewesen, aber so war ich wirklich zufrieden mit meiner Arbeit für Thomas, der Etappe und obendrein dem Weißen Trikot.“

Voeckler war zwar der Star im letzten Jahr, doch Rolland ließ erkennen, dass er noch mehr auf Lager hat. „Ich bin der Präsident des französischen Radsports, Pierrot ist seine Zukunft“, hat Voeckler gesagt. Doch ist es ein einmaliges Ereignis, oder repräsentiert Rolland eine neue Welle französischer Talente? Im Moment gibt es einen „Wie kam er dorthin?“-Reflex, wenn französische Fahrer wie Voecklers Teamkollege Sébastien Turgot Zweiter hinter Tom Boonen bei Paris – Roubaix werden, oder sein anderer Teamkollege, Christophe Kern, bei der letztjährigen Dauphiné eine Etappe gewinnt und Sechster wird. Wir haben uns angewöhnt, französische Fahrer, in die Schublade der draufgängerischen Helden vom Schlag eines Jérémy Roy zu stecken, der bei der letzten Tour scheinbar jeden Tag attackierte, aber keine Etappe gewann. Vielleicht ist es an der Zeit, solche „Glückstreffer“ ernster zu nehmen. „In Frankreich gibt es viele Fahrer, die sich trauen zu sagen, dass sie gerne die Tour gewinnen würden oder dass sie das Gepunktete Trikot gewinnen wollen“, sagt Rolland.

„Es war nicht nur im letzten Jahr“, fügt Voeckler an. „Ich sage schon seit Jahren, dass es eine neue Welle von sehr guten französischen Fahrern gibt, die ohne Zweifel besser als meine Generation sind. Wir sind sehr traditionell, wenn es um Radsport geht, weil diese Sportart in unseren Wurzeln verankert ist. Seien wir ehrlich: Wir hinken den Angelsachsen in puncto Trainingstechniken schon eine Weile hinterher – das ist eine Tatsache, die man nicht leugnen kann.“
Vielleicht gibt es bei einigen französischen Teams jetzt eine – zähneknirschende – Bereitschaft, einige dieser „angelsächsischen“ Methoden zu übernehmen. Rolland spricht von den Tests im Windkanal, die er mit seiner neuen Zeitfahrmaschine gemacht hat, die das Team entwickelt hat, und dass dieses Feintuning ihm im Test 30 Watt bringt.

„Wenn ich in seinem Alter wäre und erreicht hätte, was er letztes Jahr bei der Tour erreicht hat, würde ich es genauso machen wie er“, sagt Voeckler über Rollands Vorbereitung. Aber, fügt er hinzu: „Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich ein Fan von solchen Methoden bin. Ich bin jemand, der sehr traditionell ist – eher ein Fahrer von der alten Schule.“

Dass Voeckler lieber bei dem bleibt, was er kennt, gilt auch für sein Team – sein einziger Arbeitgeber, seit er 2001 Profi wurde. Es ist eine Loyalität, die auf die Probe gestellt wurde – ihm wurde ein doppelt so hohes Gehalt angeboten, um woanders hinzugehen, aber Ende 2010, als sein Team seinen Sponsor verlor und kein neuer in Sicht war, hielt er ihm die Treue, weil sein Verbleib Voraussetzung für einen neuen Vertrag war. Voeckler ist völlig unsentimental, als wir ihn danach fragen. „Ich fühle mich einfach wohl in diesem Team. Ich habe nicht das Gefühl, Bernaudeau etwas schuldig zu sein. Es gibt keine familiären Bande, das ist ein viel zu starker Ausdruck für unser Verhältnis. Im Moment lebe ich 20 Kilometer vom Hauptsitz entfernt. Ich kenne die meisten Fahrer, und viele Angestellte sind seit mehr als zehn Jahren dabei. Ich fühle mich in diesem Team erfüllt. Wenn ich eines Tages das Bedürfnis habe zu wechseln, dann werde ich wechseln. Aber wenn es keinen guten Grund gibt, etwas zu ändern …“ Er zuckt mit den Achseln, bevor er fortfährt. „Du weißt immer, was du verlässt, aber du weißt nie, was du anderswo findest.“

Voeckler und Rolland versichern, dass ihr Moment im Rampenlicht im letzten Jahr ihr Leben nicht verändert und ihnen den Kopf nicht verdreht hat – dass sie trotz der Bewunderung, die sie damals ernteten, beide normale Jungs sind, die Rennen fahren wollen. „Man muss mir nicht auf den Rücken klopfen“, sagt Voeckler. „Natürlich ist es nett, wenn dir jemand gratuliert, aber dafür fahre ich nicht. Was mich motiviert, ist das Wissen, dass ich unglaubliches Glück habe, das zu machen, was ich mache. Es ist meine Leidenschaft, aber auch mein Beruf. Natürlich hast du – wie jeder – nicht immer Lust zu trainieren. Manchmal ist es schwerer bei Rennen, wenn es kalt oder gefährlich ist und es Stürze gibt. Aber ich liebe den Radsport trotzdem und habe Glück, dass ich dafür bezahlt werde. Ich hoffe, dass ich nichts bedauere, wenn ich meine Karriere beende. Wenn es dir manchmal schwerfällt, musst du dich nur mal umschauen. Es gibt viele Leute, die den Radsport lieben, aber um fünf Uhr morgens aufstehen müssen, um in der Fabrik zu arbeiten. Das rückt alles ins rechte Licht.“



Cover Procycling Ausgabe 101

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 101.

Heft Bestellen