Die Smaragde in Villach

Barry Ryan, Autor von The Ascent: Sean Kelly, Stephen Roche and the Rise of Irish Cycling’s Golden Generation, erinnert an die Beziehungen im irischen Team, die zu Roches Weltmeistertitel 1987 und einer weiteren knappen Niederlage für Kelly führten.

 

Als Sean Kelly es Mitte der 1970er als Amateur in die irische Nationalmannschaft schaffte, kämpfte er mit seinen Teamkollegen regelmäßig um Trikots. Nicht um Regenbogentrikots, sondern um die schlecht sitzenden Kleidungsstücke, die der Verband damals zur Verfügung stellte. Alan McCormack, mit dem Kelly als Junior oft sprintete, war schmaler gebaut als der robuste Bauernsohn aus Carrick-on-Suir, aber er bekam nie das bestsitzende Leibchen. „Sie waren auf einem Bett ausgebreitet und Sean schnappte sich mein Trikot, weil er es mochte, wenn es eng am Körper anlag“, sagt McCormack. „Herrje, das in Größe M hätte ich als Kleid tragen können, deswegen musste ich darum kämpfen, mein Trikot in S zu behalten. Sie waren aus reiner Baumwolle und saugten sich bei Regen voll.“ Bei der Weltmeisterschaft 1987 im österreichischen Villach hatte Kelly, der in zehn Jahren unaufhaltsam an die Spitze des Profiradsports geklettert war, die kleidungstechnischen Defizite seines Verbands längst kompensiert und sich seine eigenen irisch-grünen Trikots nähen lassen. Die interne Konkurrenz mit seinen Nationalmannschaftskollegen hatte indes größere Dimensionen angenommen.
Kelly kam im September in Österreich an und brannte darauf, sich nach einem enttäuschenden Sommer mit dem Gewinn des Regenbogentrikots zu rehabilitieren. Mit Gesäßproblemen hatte er die Vuelta a España als Spitzenreiter aufgeben müssen, und dann bedeutete ein scheinbar harmloser Sturz in der ersten Woche der Tour de France für ihn das Aus. Obendrein hatte sich 1987 zum Jahr von Stephen Roche entwickelt. Nachdem er schon den Giro d’Italia im Juni gewonnen hatte, fuhr Roche am letzten Julisonntag im Gelben Trikot nach Paris und gewann als erster Ire die Tour. In einem trostlosen Fernsehstudio in Brüssel schaute Kelly mit dem Arm in der Schlinge zu und versuchte, seine aufwallenden Gefühle in den Griff zu bekommen. „Wenn du Roche gewinnen siehst, sagst du dir: Shit, wenn der gewinnen kann, hätte ich es auch gewinnen können“, erzählt Kelly. „Es geht dir in dem Moment so vieles durch den Kopf, gerade zum Schluss, am letzten Tag.“

Die Rivalität zwischen Kelly und Roche war eine weitgehend unausgesprochene. Als Roche, ein redseliger Stadtjunge und drei Jahre jünger als Kelly, 1981 Profi wurde und prompt Paris–Nizza gewann, fand der Ältere lobende Worte für die ausgezeichnete Debütsaison und das Potenzial des Neulings. Am Jahresende aber ließ Kelly seine Beine sprechen und überrundete Roche beim Handicap-Rennen des Carrick Wheelers Club vor Weihnachten. In der folgenden Saison gewann Kelly Paris–Nizza, wurde damit das Etikett als „reiner Sprinter“ los und nahm die Gesamtwertung der Tour in Angriff. Oder wie Roche sagt: „Dieser Typ aus Dublin tauchte auf und gewann Etappenrennen, also sagte er sich: Mensch, ich muss mich ranhalten, sonst läuft mir Roche den Rang ab.“ In den 1980ern trieben Kelly und Roche sich gegenseitig auf größere Höhen. Der für beide Seiten fruchtbare Wettbewerb war intensiver, als sie seinerzeit zugeben wollten, aber weitgehend ohne Feindschaft. Immerhin agierten sie de facto als Kartell, wenn sie mit Organisator Pat McQuaid das Startgeld für ihre Teilnahme am jungen Nissan Classic vor heimischem Publikum verhandelten. Sobald die Fahne unten war, ging die Rivalität wieder los. „Ich wollte Roche schlagen“, sagt Kelly über seinen Nissan-Sieg 1985, und dann grinst er. „Alles andere wäre eine glatte Lüge.“

Im Frühjahr 1987 wurde die Konkurrenz zwischen Kelly und Roche auf der Straße so heftig, dass sie kurz ihre Beziehung abseits der Straße zu zerstören drohte. Roche, der einen großen Sieg abliefern musste, um seinen Vertrag bei Carrera zu rechtfertigen, führte bei Paris–Nizza bis zum letzten Tag, doch als er am Col de Vence einen Plattfuß hatte, kannte Kelly nichts und ließ sein Kas-Team Tempo machen. Sehr zum Verdruss von Roche sicherte sich Kelly an dem Nachmittag seinen sechsten Titel. Es dauerte, bis die Spannung nachließ. „Du konntest es spüren, wenn wir miteinander redeten“, sagt Kelly. „Es hat ein paar Wochen angehalten.“ Aber im September, als Kelly und Roche Erster und Zweiter der Weltrangliste waren, hatte die Animosität nachgelassen. Roche, scheinbar gesättigt von seinem Grand-Tour-Double, kam in Österreich an und versicherte, dass er in den Diensten von Kelly fahren würde, der neben Titelverteidiger Moreno Argentin aus Italien der Favorit für die Weltmeisterschaft war. Roches Pflichten als Domestique de luxe umfassten sogar, am Nachmittag vor dem Rennen den Lockvogel zu spielen. Während er für ein Gefolge von Journalisten in der Hotellobby Hof hielt und die Geschichte seines Giro-Tour-Doubles immer wieder erzählte, hielt Kelly einen Mittagsschlaf.
 
Alan McCormack hatte in den späten 1970ern anfangs einen ähnlichen Weg wie Kelly eingeschlagen, war Profi bei Old Lord’s–Splendor geworden und die Vuelta a España 1978 gefahren, aber danach gingen ihre Wege auseinander. McCormack kehrte sechs Monate später nach Irland zurück und nahm für zwei Jahre wieder Amateurstatus an, bevor er in den USA erneut sein Glück als Profi versuchte. Es war eine gute Entscheidung. In der irischen Radsportszene in der Prä-Internet-Ära fast unbekannt, stieg McCormack jenseits des Atlantiks zum Superstar auf; ihm wurde sogar die ultimative sportliche Auszeichnung zuteil, dass sein Bild auf der Verpackung von Wheaties-Frühstücksflocken erschien. Bei allem Erfolg in den USA sehnte sich McCormack nach Anerkennung in seiner Heimat. Und wie konnte er besser beweisen, dass er ein irischer Rennfahrer war, als mit einem WM-Start für das irische Team? Er war 1985 in Montello dabei, als Radhersteller Motta seine Reise nach Italien zahlte, und er startete ebenso 1986, als die Weltmeisterschaft zu ihm in die USA kam und in Colorado Springs stattfand. 1987 reiste er auf eigene Kosten nach Villach und trat dort mit den vier in Europa beschäftigten Profis von der Grünen Insel an: Kelly, Roche, Martin Earley und Paul Kimmage, die in jenem Jahr alle an der Tour teilgenommen hatten. McCormack hatte in Montello mit Kelly, Roche und Earley zusammengewohnt, die den rückkehrenden Auswanderer begrüßten und ihm seinen Vorrat an M&Ms wegfutterten, den er aus Amerika mitgebracht hatte. Aber dieses Mal lebte die Fab Four des irischen Radsports auf Kosten ihrer Profiteams im gemütlichen Hotel Piber am Rande von Villach, während der fünfte Beatle mit den irischen Amateuren weniger komfortabel in der Innenstadt untergebracht war. „Die Anreise war die Hölle, ich hatte alle möglichen Anschlussflüge und Verspätungen“, sagt McCormack. „Als ich endlich in Österreich war, war ich erledigt. Ich hätte beinahe den Start verpasst.“ Wobei das McCormacks Teamkollegen vielleicht gar nicht aufgefallen wäre. „Ich hatte ganz vergessen, dass er dabei war, weil er nicht zur Gruppe gehörte, überhaupt nicht“, sagt Kimmage. „Ich weiß nicht, ob wir ihm überhaupt ‚guten Tag‘ gesagt haben, was einfach verrückt ist – und falsch.“

Unterdessen kamen Kimmage, Kelly, Roche und Earley in Österreich an, nachdem sie bei einer Reihe von Kriterien in Dublin, Wexford und Cork vor den Weltmeisterschaften schon eine Art Ad-hoc-Nationalmannschaft gebildet hatten. Das Feld in Dublin bestand überwiegend aus britischen Profis, die von Kellys Vorschlag, man möge Lokalmatador Roche „gewinnen lassen“, wie es bei Post-Tour-Kriterien auf dem Kontinent üblich war, nichts wissen wollten. Die drei Schaurennen in der Innenstadt entwickelten sich stattdessen zu ausgewachsenen Wettkämpfen. Nachdem Roche in Dublin und Kelly in Wexford gewonnen hatte, setzte sich Kelly in Cork in einem haarsträubenden Sprint am Saint Patrick’s Quay durch, bevor Mark Walsham Roche vorwarf, in der letzten Kurve absichtlich einen Sturz herbeigeführt zu haben. Roche wies den Vorwurf zurück und wandte sich dann grinsend an eine Truppe von Reportern: „Auf jeden Fall steht es zwischen Irland und England 3:0.“ Das irische Quartett freute sich über diesen Satz, als es sich in Cork verabschiedete und getrennte Wege ging, bevor es zehn Tage später in Österreich wieder zusammenfand. „Es war eine verdammt tolle Woche“, sagt Kimmage. „Es gab dort eine große Verbundenheit.“ Im italienischen Hotel versprachen am Vorabend der Weltmeisterschaft die Fahrer, die es auf die Kapitänsrolle abgesehen hatten, ihren Kollegen für den Fall des Sieges irgendeine Belohnung. Im Hotel Piber gab es weder solche Arrangements, noch wurde groß über die Taktik gesprochen. Das irische Team hatte keinen Manager, und sein grob skizzierter Plan war, für Kelly zu fahren. Er hatte auf dem flachen Rundkurs in Villach die besten Karten und Roche litt seit seinem Sturz in Cork unter Knieschmerzen. Außerdem wussten sie, dass es keinen Sinn hatte, einen genaueren Plan zu machen, wenn die zwölfköpfigen Mannschaften aus Italien, Belgien und Frankeich ohnehin die Bedingungen des Rennens diktieren würden. „Bei fünf Mann kannst du nicht von Taktik reden“, sagt Earley. „Ich glaube, der Plan war, einfach so lange wie möglich mitzuhalten und Kelly zu helfen.“

Am 6. September 1987 regnete es in den Gailtaler Alpen in Strömen und das WM-Straßenrennen war sechs Stunden Schwerstarbeit. McCormack hielt 19 Runden durch, bevor er sein Rad ausrollen ließ und sich das Finale im irischen Zelt unweit der Ziellinie anschaute. Zwei Runden vor Schluss bekam er Gesellschaft von Earley, der eine Mammut-Ablösung gefahren war, um eine gefährliche Ausreißergruppe um Argentin einzuholen, und nach getaner Arbeit vom Rad stieg. Kimmage tat sich ebenfalls hervor und arbeitete im rückblickend wohl besten Moment seiner kurzen Profikarriere als Helfer. „Eine Gruppe ging und niemand nahm die Verfolgung auf“, sagt Kelly. „Wir sagten Kimmage und Earley, dass sie fahren sollen. Ehre, wem Ehre gebührt, sie fuhren wirklich gut für Irland. Sie holten diese Ausreißergruppe ein, oder wenigstens fast.“ Kelly und Roche waren unter den 13 Fahrern, die auf der letzten Runde noch im Rennen waren, wo die numerische Unterlegenheit des irischen Teams nicht mehr ins Gewicht fiel. Nur die Holländer waren mit drei Mann besser vertreten. Hingegen hatte Argentin keine blauen Trikots mehr an seiner Seite. Da keine Mannschaft die Gruppe kontrollieren konnte, gab es nur eine sinnvolle taktische Herangehensweise angesichts der unvermeidlichen Flut von späten Attacken, und Kelly und Roche gingen abwechselnd bei den Angriffen mit. „Ich habe mindestens zwei oder drei Attacken gekontert“, sagt Kelly. „Ich bin ein Stück weggekommen und dann wieder eingeholt worden, und dann ging Roche bei der nächsten Attacke mit. Roche ging bei einer mit. Hinten schauten sie sich an, und die Attacke saß.“ Roche, so hatte es den Anschein, konnte in seinem Fabeljahr nichts falsch machen. Drei Kilometer vor dem Ziel – es hatte aufgehört zu regnen – entwischte er von der Spitze weg in Gesellschaft der bald zu schlagenden Teun van Vliet, Rolf Gölz, Rolf Sørensen und Guido Winterberg. Kelly hingegen hatte in seiner schwersten Saison einfach kein Glück. Argentin klebte in der Verfolgergruppe an seinem Hinterrad, und der Regenbogen verblasste. So kann es gehen.

 

Sich seiner Schwächen im Sprint bewusst, drehte sich Roche auf dem letzten Kilometer mehrmals um, um zu sehen, ob Kelly auftauchte, aber bei den Verfolgern herrschte eine ähnliche Pattsituation. Niemand wollte Kelly und Argentin in ein Sprintfinale mitziehen, und es war klar, dass die beiden Favoriten sich nicht halfen. Es lag an Roche, der sich Lüttich–Bastogne–Lüttich im April aus einer ähnlichen Position hatte durch die Lappen gehen lassen. Die Lektion war hart, aber sie hatte gesessen. 400 Meter vor der Linie, als die Straße anstieg, nahm er den Sprint vorweg und quetschte sich zwischen Sørensen und die Absperrung auf der linken Seite. Er sollte nicht eingeholt werden. Die Kelly-Gruppe rauschte heran, aber fuhr nur noch um die Medaillen. Das Regenbogentrikot gehörte Roche, solange er seinen Gang treten konnte. Fünf Meter vor der Linie warf er die Arme hoch. Weltmeister. Instinktiv streckte Kelly gleichzeitig die Arme Richtung Himmel. Statt weiter um eine Medaille zu kämpfen, rollte er als Fünfter über die Linie und boxte dabei dreimal in die Luft. „Das ist echt. Absolut echt“, sagt Kimmage. „Das kannst du nicht vortäuschen.“ „Egal, was alle anderen sagen, egal, welche Zweifel irgendjemand an ihrem Verhältnis hat, das sagt alles“, erklärt Roche. „Wenn Sean unglücklich oder neidisch auf mich gewesen wäre, hätte er das nicht gemacht. Das war spontan. Das kam von Herzen: Ich freue mich für diesen Mann.“ Das Bild sollte später das Vermächtnis von Kelly und Roche in ihrer Heimat definieren. Roche machte die Dreifach-Krone an dem Tag perfekt, aber Kellys Opfer, echt oder vermeintlich, sollte seinen Status als Irlands beliebtester Rennfahrer festigen.

Mitte der 1990er hatte Roche so viel über die heldenhafte Selbstlosigkeit des Teamkollegen in Villach gehört, dass er sich zu einer Gegendarstellung veranlasst sah. „Es ärgert mich, wenn ich das höre. Ich meine, wenn du siehst, wie ich an dem Tag gearbeitet habe, ich habe an dem Tag alles für Sean getan und hatte trotzdem noch die Kraft zu gewinnen“, sagte Roche der irischen Zeitung Independent bei Kellys Abschiedsrennen, das 1994 in Carrick-on-Suir stattfand. Andererseits besaß Roche immer mehr Gespür für Taktik als Takt. Aber trotzdem, auch wenn die Weltmeisterschaft 1987 ihm eine Art Heiligenschein verlieh, war es eine bittersüße Angelegenheit für Kelly. Als Roche an dem Nachmittag aufs Podest stieg, sprach Kelly mit den irischen Reportern, die nach Villach gekommen waren und erwartet hatten, dass er zum Weltmeister gekrönt würde. Er war ein Jahrzehnt lang Irlands Bannerträger gewesen, aber innerhalb eines Sommers hatte er zusehen müssen, wie Roche die drei größten Trophäen des Radsports mit nach Hause nahm. Wären die Karten anders gefallen, hätte das Regenbogentrikot Kelly gehören können. „Es hätte anders kommen können. Es hätte sein können, dass ich bei der entscheidenden Attacke mitgegangen wäre“, sagt Kelly heute, bevor er den Gedanken beiseite wischt, stoisch bis zuletzt. „Aber so läuft das eben.“



Cover Procycling Ausgabe 164

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 164.

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