Fass ohne Boden

Die Auflösung von IAM Cycling war so vorhersehbar wie vermeidbar. Procycling analysiert die Gründe und wirft ein Licht auf die Abwärtsspirale des Radsports.

 

Im Grunde existiert der Profiradsport, weil er die logische Fortsetzung des Freizeitradsports ist. Der ist im Moment groß in Mode, aber auf höchstem Niveau gibt es eine spürbare Entkopplung zwischen Partizipation und Investition. Offenbar schrecken die Anforderungen die Sponsoren ab, gerade beim derzeitigen Klima. Die Ungleichheit zwischen Reich und Arm wächst und die Radsportteams leiden unter einem finanziellen Blutverlust. Sie bringen ihren Sponsoren drei Wochen Werbung im Juli, aber als Investition sind sie schwer zum Funktionieren zu bringen. Fragen Sie nur mal Michel Thétaz, den Boss von IAM Cycling. Die Geschichte von IAM ist eine oft wiederholte, aber deswegen nicht minder lehrreiche. Einfach ausgedrückt: reicher Geschäftsmann liebt Radsport und beschließt, seiner Leidenschaft zu frönen. Und zwar mit 11 Millionen Euro im Jahr, aber davon kann einiges von der Steuer abgesetzt werden. Er redet sich ein, dass es eine sinnvolle Nutzung des Marketing-Budgets ist und außerdem bald ein zweiter Sponsor auftauchen wird, der einen Teil der Last trägt. Entschlossen, alles richtig zu machen, baut er eine solide Infrastruktur, eine lobenswerte Unternehmensvision und ein hochprofessionelles Team mit ethischen Prinzipien auf. Die Leute wissen all das zu schätzen, und das Team ist wirklich wie ein frischer Wind. Und dann, Monat für Monat, Rennen für Rennen, sieht der Unternehmer sein Geld in dem schwarzen Loch verschwinden, das die WorldTour ist.

Engagements im Radsport waren immer schon kurzlebig. Mit ein paar nennenswerten Ausnahmen (Euskaltel, SC Cuneo, die portugiesischen Fußball-Giganten Sporting und Benfica zum Beispiel) repräsentieren sie keine Regionen oder Leute, erst recht keine Ideologien. Vielmehr sind sie einfach Marketinginstrumente, die von Natur aus unbeständig sind. Die Sponsoren, traditionell europäische Industrielle, die dem Sport, den sie lieben, eng und persönlich verbunden sein wollen, sind nur eine Widerspiegelung der Zeiten. Vor 40 Jahren hatte jeder Einbauküchenhersteller, der etwas auf sich hielt, seinen Namen auf einem Trikot, und Mitte der 80er nutzten japanische Elektronik-Giganten den Radsport, um den Wachstumsmarkt für Videorekorder zu erschließen. In dem Maße, in dem die Einsätze in der World Tour gestiegen sind, sind die produzierenden Betriebe verschwunden, die einst das finanzielle Rückgrat des Radsports waren. Heute ist das Sponsoring die Domäne von Konzernen und Superreichen. Katusha und Tinkoff sind Beispiele für Letzteres, während Astana und Etixx einen Fuß in jedem Lager haben. Der bevorstehende Ausstieg von Lampre, einer Firma für vorbeschichteten Stahl, die der Mailänder Familie Galbusera gehört, fühlt sich an wie das Ende einer Ära. 25 Jahre waren sie ein Bollwerk des Sports, aber sie gehen seit zehn Jahren finanziell an ihre Grenzen. Fünf Millionen Euro von geschätzten sieben Millionen Euro Budget haben keinen Wert mehr, wenn Sky und Katusha angeblich mehr als 30 Millionen Euro ausgeben. Der Sport war immer schon ein Marktplatz, und die mit dem dicksten Portemonnaie setzen sich fast immer durch. Der Unterschied ist, dass die Zahlen jetzt so stratosphärisch sind, dass die Rechnung für mittelständische Firmen nicht mehr aufgeht. Von Fahrrädern abgesehen, stellt kaum einer der Titelsponsoren tatsächlich noch irgendetwas her.

Als 2007 ein schillernder russischer Finanzier namens Oleg Tinkow die Bühne des Radsports betrat, sprachen Radsportjournalisten gerne vom „neuen Geld“. Doch zehn Jahre sind eine Ewigkeit im Radsport, und während Oleg die Bühne mit Tamtam verlässt, stürzt sich ein Petrochemie-Milliardär ins Getümmel. Das Bahrain Cycling Project ist im Prinzip ein Spielzeug für Scheich Nasser bin Hamad Al Khalifa. Der an der britischen Militärakademie Sandhurst ausgebildete Sohn des Königs von Bahrain würde uns gerne glauben machen, dass er damit für gesunden Tourismus werben will, aber es dürften kaum scharenweise europäische Freizeitsportler den Galibier gegen eine einspurige Straße durch die Wüste eintauschen. Die polyglotte Mannschaft wird dem Vorstand von Merida Cycles gefallen, aber der wahre Zweck des Teams scheint eher eine Wochenend-Beschäftigung für ihn und seine ölreiche Verwandtschaft zu sein. Scheich Nasser wird sein jüngstes Spielzeug vielleicht bald langweilig, aber das größere Problem ist die inhärente Instabilität des Systems. Es wird in dieser Zeitung seit einem Jahrzehnt diskutiert und beschäftigt die hellsten Köpfe des Radsports seit 60 Jahren. Es ist ein kompliziertes Netz, und Michel Thétaz hat sich, wie viele vor ihm, darin verfangen. „Wie viele andere bin ich in den Radsport eingestiegen, weil ich ihn liebe und weil ich es konnte“, sagt er gegenüber Procycling. „Wir haben versucht, die Werte des Unternehmens mit denen des Radsportprojekts in Einklang zu bringen, und ich glaube, wir waren erfolgreich. Wir hatten ausschließlich positives Feedback, aber leider konnte ich mein eigenes Geld nicht weiter in dem Maße ausgeben. Ich hätte einen weiteren Sponsor gebraucht, der sieben bis acht Millionen pro Saison beigesteuert hätte, aber aus einer Reihe von Gründen – die Dopinghistorie, das Geschäftsmodell im Radsport – war keine Schweizer Firma dazu bereit. Wir wollten keine halben Sachen machen, da hören wir lieber auf. Ich bin stolz auf das, was wir erreicht haben, und sehe meine Zeit im Radsport positiv. Leider ist es jetzt für Leute wie mich einfach zu teuer.“

Einige sagen, dass die Ausdehnung der WorldTour auf 37 Rennen notwendig sei, andere halten das für kompletten Unsinn. Unstrittig ist, dass allein die Kosten dafür, ein Team an den Start zu bekommen, kolossal sind. Normalerweise wäre das gut, weil mehr Geld in der obersten Etage einer Sportart normalerweise mehr Geld in den darunterliegenden Schichten bedeutet. Aber der Radsport ist, wie IAM-Sportdirektor Mario Chiesa erklärt, keine normale Sportart. „Heute ist die Welt des Radsports keine Leistungsgesellschaft“, sagt Chiesa. „Es ist eine Art Geschäft, aber bei diesem Modell kann es nicht wie eins geführt werden. Radsportteams verkaufen keine Tickets, können keine Fahrer kaufen und verkaufen, bekommen kein Geld aus Fernsehrechten und haben kein Heimstadion. Alles, was sie haben, sind Namensrechte, und selbst das ist instabil. Der natürliche Zyklus für einen Titelsponsor war immer rund fünf Jahre. Danach funktioniert es nicht mehr als Marketinginstrument, umso weniger angesichts der gestiegenen Kosten.“ Chiesa ist einer der Glücklichen, die anderswo einen Job gefunden haben. Er wird Vincenzo Nibali, Giuseppe Saronni und Ernesto Colnago helfen, das Geld des Scheichs auszugeben, aber die mittelfristige Zukunft des Schweizer Radsports sieht auf einmal sehr düster aus. „Das Problem ist“, fährt Chiesa fort, „dass viele Fahrer und Mitarbeiter jung sind. Sie stehen gerade am Anfang und haben keine Kontakte und Erfahrung. Sie waren vier Jahre lang mit Leib und Seele dabei, aber jetzt verlieren sie ihre Arbeit.“ Die Versicherung der UCI, dass sie eine 16 Teams umfassende WorldTour haben will, klingt schön und gut, aber der Trend ist gegenläufig zu den Kosten. 2005 waren es 20, dann 18 und so weiter. Das Auf- und Abstiegssystem ist, als würde man die Katze im Sack kaufen, und die französischen Teams wie Cofidis und Direct Energie brauchen die World-Tour ohnehin nicht. Sie haben die A.S.O. (die wirkliche Macht im Radsport) und können sich daher die Rennen aussuchen, die sie fahren wollen. Es ist kein Zufall, dass an der zur A.S.O. gehörenden Vuelta mehr französische als spanische Fahrer teilnahmen und dass die restlichen Teams scheinbar um einen WorldTour-Platz konkurrieren, den sie weder wollen noch sich leisten können. Einfach ausgedrückt: Keiner der Top Ten der Europe Tour ist gleichzeitig bereit, willens und in der Lage aufzusteigen. Chiesa sagt: „Nach den jüngsten Reformen brauchst du realistisch gesehen 17 bis 20 Millionen Euro, um konkurrenzfähig zu sein. Wer das nicht hat, wird kein Land sehen, und die Mehrheit der ProConti-Teams kann sich das nicht einmal ansatzweise leisten. Ihnen würde vor der Tour das Geld ausgehen.“

So viel zum strukturellen Defizit. Das materielle Problem ist, dass die Schweiz, ein reiches europäisches Land mit großer Radsporttradition, kein WorldTour-Team finanzieren kann. Die Echtzeit-Konsequenz davon ist, dass mehr Leute aus der Branche arbeitslos sind, darunter zehn Schweizer Fahrer. Zum Beispiel Jonathan Fumeaux, 28 Jahre alt und Schweizer Meister. „Ich bin kein Cancellara“, sagt Fumeaux. „Aber wenn der Schweizer Meister keinen Job findet, weißt du, dass im Radsport der Wurm drin ist.“ Martin Elmiger hat diesen Titel viermal gewonnen. Obwohl er mittlerweile 38 ist, wurde er vor 18 Monaten Fünfter bei Paris–Roubaix und fühlt sich, wie er sagt, besser denn je: „Ich würde noch gerne ein Jahr fahren oder wenigstens ein halbes. Ich würde gerne bei der Tour de Suisse aufhören, aber das ist unwahrscheinlich. Das Problem sind die Punkte, ganz einfach. Im Grunde sind sie kein genaues Barometer für den wahren Wert eines Fahrers, aber sie sind zur Währung des Radsports geworden. So oder so – mit jeder Woche, die vergeht, wird der Preis, den du verlangen kannst, niedriger und niedriger, und am Ende musst du dir überlegen, ob du für lau fährst.“ Dabei gehen vier talentierte Fahrer (Frank, Naesen, Enger und Chevrier) ausgerechnet zu Vincent Lavenus AG2R-Team, wo Elmiger sechs Jahre war. Die beiden Organisationen sind, wie er sagt, so unterschiedlich wie Tag und Nacht: „Ich habe meine Zeit dort genossen, aber was den Enthusiasmus, die Qualität der Mitarbeiter, des Materials und der Unterstützung angeht, ist es kein Vergleich. Die Kultur und die Werte von IAM sind fantastisch, aber diese Dinge werden nicht belohnt. Was du in der WorldTour brauchst, ist viel Geld, und wenn du das nicht hast, bist du erledigt.“ Simon Pellaud, 23, steht viel weiter unten in der Nahrungskette. Er kam spät zum Radsport, aber in den zwei Jahren, die er bei IAM verbracht hat, sollte er doch anständig verdient haben – oder? „Ich habe mit dem Radsport kein Geld gemacht, ganz im Gegenteil“, erklärt Pellaud. „Für eines der besten Teams der Welt zu fahren, hat mich das Geld gekostet, das ich auf die hohe Kante gelegt hatte. Die Schweiz ist kein billiges Land und ich kann es mir nicht leisten, ein Jahr zu verschwenden und für ein Schweizer Continental-Team zu fahren. Wenn ich weitermache, dann wahrscheinlich bei einem Team von einem anderen Kontinent. Wenn ich durch den Radsport etwas von der Welt sehen kann, lohnt es sich, aber ich muss mir auch etwas aufbauen, ein Leben, eine Karriere. Ich habe insofern Glück, als ich mein Studium wieder aufnehmen kann. Für die Jungs, die Familie haben und einen Kredit abbezahlen müssen, ist es schwer.“

 

Das Paradox ist, dass IAM in dem Moment finanziell auf Grund lief, als das Team sportlich endlich Land sahen. 2013 als ProContinental-Team gegründet, wollte es junge Schweizer Talente fördern und gleichzeitig die Karrieren von Dopinggegnern (oder „Minderleistern“) wie Heinrich Haussler, Gustav Larsson und Thomas Löfkvist neu beleben. Aber diese drei lieferten keine Siege und Thétaz machte Bekanntschaft mit der harten Realität des Fahrermarktes. Einfach ausgedrückt: 75 Prozent der Fahrer können sich nie die Hoffnung machen, ein Profirennen zu gewinnen, und bei weiteren 15 Prozent müssen alle Sterne richtig stehen, damit sie eine Chance haben. Das heutige Paradigma bedeutet, dass der Wert des Mannschaftshelfers von Jahr zu Jahr schrumpft, und das erklärt, warum Sylvain Chavanel geholt wurde. Chavanel machte sich ganz gut (er gewann Plouay und ein paar kleinere französische Rennen), aber seine Resultate sind nicht das Barometer, an dem man seinen Anteil an der IAM-Geschichte ablesen kann. Er brachte Punkte mit – und vor allem eine hundertprozentige Garantie für eine Wildcard bei der Tour de France. Sie ist, wie alle wissen, die betörendste Verführerin des Radsports und Michel Thétaz ist auch nur ein Mensch. Die Tour gefiel ihm und er wollte mehr davon, also ging er noch einmal zu Bank. Dann machte er die Kurzreise (geografisch, wenn auch nicht bildlich) von Genf nach Aigle und sein Team IAM ersetzte Jean-René Bernadeaus Europcar in der WorldTour. Die dramatische Kostensteigerung sollte jedoch erhebliche Folgen haben. „Mein Leitsatz war immer, dass man nicht stillstehen kann, sonst geht man unter. Also war es ein natürlicher und logischer Schritt. Ich wusste, dass ich die Kosten im ersten Jahr tragen kann, aber ich wusste auch, dass ich einen Co-Sponsor brauchte“, sagt Thétaz.

Das Problem war, dass der Eintrittspreis alleine ihn daran hinderte, in die Talente zu investieren, die er gebraucht hätte, um konkurrenzfähig zu sein. Aus einer Reihe von Gründen konnten Sebastian Reichenbach und Mathias Frank, zwei Schweizer Fahrer, die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Der italienische Sprinter Matteo Pelucchi gewann zwei Etappen der Polen-Rundfahrt, aber das war die gesamte WorldTour-Bilanz der Truppe. Sie hatte ein schönes Trikot und ein gutes Image, war aber vor allem auffällig, weil sie so unauffällig war. IAM war 17. von 18 Mannschaften in der WorldTour, wobei der Unterschied war, dass MTN-Qhubeka, obwohl sie weniger Punkte sammelten, einen unbezahlbaren Etappensieg bei der Tour feierten. Steve Cummings’ Glanzleistung am Nelson-Mandela-Tag ließ sich in Marketinggold aufwiegen, unterstrich aber auch die Tatsache, dass die WorldTour vor allem übers Fernsehen funktioniert. Die große Bühne, stellte man fest, bot eine extrem steile Lernkurve. 2016 begannen sich endlich Resultate einzustellen. Bis zum Valentinstag verbuchte IAM Cycling vier Siege, aber mittlerweile war die Suche nach einem Co-Sponsor eine Frage von Leben und Tod geworden. Zwar versichert Thétaz, die Gespräche seien „konstruktiv“ verlaufen, doch die potenziellen Geldgeber schienen die Kosten von sieben bis acht Millionen Euro zu scheuen. „Ich hatte Leute, die den Radsport mögen, die damit verbunden sein wollen. Aber aus irgendeinem Grund wollten sie sich auf diese Investition nicht festlegen. Das alte Dopingthema, die Kosten … Anscheinend fanden sie, dass sie für ihr Geld nicht genug bekamen.“

Das Team fuhr ein anständiges Frühjahr, aber da Thétaz eine Rückstufung auf ProConti-Niveau ablehnte, tickte die Uhr. Als die Ankündigung am 23. Mai kam, überraschte es niemanden. Zwei Tage später sprintete Roger Kluge beim Giro d’Italia in Cassano d’Adda zum ersten Grand-Tour-Etappensieg des Teams. Bis zum Ende der Woche hatte der Veteran Dries Devenyns, zuvor sieben Jahre erfolglos, einen Sieg bei der Belgien-Rundfahrt gelandet. Dann, als der Druck, Punkte zu holen – und mithin einen Vertrag – stieg, kamen die Resultate. Jarlinson Pantano, der sensationell eine Etappe der Tour de Suisse gewann, war fraglos die Entdeckung der Tour. Er fährt nächstes Jahr für Trek, während Devenyns sich mit seinem Sieg bei der Tour de Wallonie für eine Rückkehr zu seinem alten Team Etixx empfahl. Jonas Van Genechten gewann zur rechten Zeit eine Etappe der Vuelta (drei Wochen später sollte er bei Cofidis unterschreiben) und Frank holte eine weitere am letzten Mittwoch des Rennens. Nennen Sie es Vorsehung – aber in dem Moment, wo dem IAM Cycling Team auf der Bank das Geld ausging, waren seine hungrigen Fahrer auf der Straße ganz vorn. Es ist schon öfter passiert und es wird wieder passieren.



Cover Procycling Ausgabe 154

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 154.

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