Machtkämpfe

Der Giro d’Italia bietet jedes Mal ein bisschen mehr an – höhere Berge, extremeres Wetter und faszinierende Kontroversen und Ränkespiele. Procycling blickt voraus auf das Rennen 2016.

 
Einige Tage vor der offiziellen Präsentation des Giro 2016 sickerte die Route des Rennens irgendwie an die Öffentlichkeit durch. Aber es ist ein gutes Zeichen für den Profiradsport, dass dies wohl das größte und peinlichste „Datenleck“ des Rennens war. Vor 20 Jahren hielt eine viel größere Indiskretion nicht nur das damalige Rennen über Wasser, sondern verzögerte auch eine potenziell heilsame Katastrophe für den gesamten Sport. Einige Teams, die von der Grande Partenza 1996 in Griechenland angeblich riesige Mengen illegaler Substanzen auf das italienische Festland mitbrachten, nahmen den langen Weg über den Balkan. Sie hatten einen Tipp bekommen, dass die italienischen Drogenfahnder, die NAS, sie und ihre EPO-Vorräte im Hafen von Brindisi am Absatz des italienischen Stiefels in Empfang nehmen würden.Die NAS-Fahnder kratzten sich am Kopf und der Radsport sollte zwei Jahre warten müssen bis zur Überschreitung seines Rubikons, als Willy Voet, der Fahrer des am Vorabend der Tour de France 1998 an der belgischen Grenze kontrollierten Festina-Dopingmobils, der berühmteste Masseur der Welt wurde. Aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag und ein Jahrestag, den im Mai niemand wirklich feiern will.

Der percorso des Giro 2016, der schließlich im vergangenen Herbst in Mailand offiziell vorgestellt wurde, „geht gegen den heutigen Trend“, sagte Renndirektor Mauro Vegni, soweit die Leinwand jemals den Pinselstrich beeinflusst. Vegni meinte, drei Einzelzeitfahren seien viel für den Giro und zwei mehr als 2015. Man weiß beim Giro nie genau, wer oder was die verführerische Muse ist: Vegni und die künstlerischen Impulse seiner Kollegen, ihr Wunsch, die Schattierungen und Texturen zu zeigen, die Italien zur reichsten Palette des Radsports machen, oder reine wirtschaftliche Notwendigkeit. Dass sie mit einem 9,8 Kilometer langen Zeitfahren in Holland beginnen und zwei weitere Male eine baumelnde Stoppuhr als Köder auswerfen, bevor das Rennen in Turin endet, hat ihnen in Gestalt von Tom Dumoulin einen internationalen Star eingebracht, aber nur Nibali von den vier „Galácticos“ unter den Rundfahrern. Die anderen drei – Froome, Quintana und Contador – schonen sich für die Tour. Nibali selbst drohte bei Tirreno–Adriatico im März nach der Absage der Bergetappe zum Monte San Vicino damit, den Giro auszulassen. Egal, ob es ein Anflug von Gereiztheit oder ein politisches Machtspiel war, hatte Nibali irgendwie recht: Sein Giro-Sieg 2013 wurde verwässert, wenn nicht sogar entwertet durch diverse schneefallbedingte Routenänderungen. Selbst Vegni wird am dritten Samstag zittern, wenn das Rennen über fünf Plus-2.000-Meter-Dolomitenpässe nach Corvara führt. Zum Vergleich: Der Giro wird 2016 zehnmal über die Schwelle von zwei vertikalen Kilometern hinausführen – wo die Pässe in den Alpen wegen Schnee oft bis weit in den Mai hinein gesperrt sind –, während es bei der Tour de France 2015 gerade dreimal der Fall war. Niemand kann Vegni oder dem Giro vorwerfen, dass sie das Risiko scheuen.

Die gute Nachricht für Vegni ist, dass er bald seine Höhenlust befriedigen kann, ohne Gefahr zu laufen, Etappen, Geld oder sein Gesicht an das Wetter zu verlieren. Die RCS liebäugelt seit Langem mit einer Rückkehr des Giro auf den alten Platz auf dem Radsportkalender, einem Start Mitte Mai und einem Finale am ersten Juni-Wochenende. Selbst eine noch radikalere Verlegung könnte möglich sein; sollte der Streit zwischen A.S.O. und UCI (und der Velon-Organisation) weitergehen, werden die Grabenkämpfe auf das übergreifen, was wir als „große Rundfahrten“ bezeichnen. Kurz gesagt: Der Giro würde in den Juli umziehen und direkt mit der Tour konkurrieren. Wie sagte der Manager des in Velon organisierten Trek-Segafredo-Teams, Luca Guercilena, unlängst dem italienischen Radsportmagazin Bicisport: „Die Idee, den Giro in den Juli zu verlegen, sieht wie Science Fiction aus, aber es gibt keine Alternativen, wenn die A.S.O. aus der WorldTour aussteigen will.“ Viele Quellen, die an Diskussionen innerhalb der RCS, der UCI und Velon teilnahmen, haben gegenüber Procycling bestätigt, dass ein im Sommer ausgetragener Giro ernsthaft in Erwägung gezogen werde. Kurzfristig, während die Herren in Paris und Aigle ihr Gefecht fortsetzen, könnten der Giro, Velon und ihr neuer Partner Infront Sports & Media bei der Fernsehübertragung einige Innovationen einführen, um die A.S.O. zu zwingen, einer Neuverteilung der TV-Gelder zuzustimmen. Wieder im Klartext: Velon und Infront wollen Rennen wie den Giro mit Grafiken, Onboard-Kameras und anderem Schnickschnack so sexy machen, dass die A.S.O. die Wahl hat, bei der Tour ein minderwertiges televisuelles Produkt anzubieten oder Velon und Infront einzuladen, ihr Ding zu machen und ihnen dafür einen großen Batzen der Fernseheinnahmen zu geben. Die Technologie ist im Mai vielleicht noch nicht so weit und die A.S.O. könnte mindestens noch ein Jahr durchhalten, aber letztlich, so hofft und glaubt Velon, wird die A.S.O. klein beigeben müssen.
 
Kalter Krieg
Während ein Machtkampf im Hintergrund vor sich hinschwelt, wird sich ein anderer auf den Straßen des Giro abspielen – wobei aber nur einer der Kontrahenten tatsächlich fährt. Im letzten Jahr seines Vertrags mit Astana will Vincenzo Nibali seine zweite maglia rosa gewinnen und seinen Status als italienische Sportikone festigen, aber auch seine Vormachstellung gegenüber seinem Team-„Kollegen“ Fabio Aru unterstreichen. Aru soll Astana bei der Tour de France anführen. Nibali wird auf dem Papier als Helfer fungieren und sich auf das olympische Straßenrennen in Brasilien vorbereiten. Dass Aru und Nibali noch nie gute Freunde waren, ist kein Geheimnis. Seit Arus Durchbruch beim Giro 2014 ist Astana praktisch in zwei Clans zerfallen, wobei jede Seite für sich allein trainiert, Rennen fährt und privat wenig Umgang mit der anderen pflegt. Die Anführer der beiden Stämme, Aru und Nibali, haben sich bisher toleriert, ohne sich offenbar je wirklich zu mögen.
Doch die kühle Luft schien in den ersten Monaten des Jahres 2016 zu einem kalten Wind und möglicherweise einem schweren Frost zu werden. In Interviews mit der Gazzetta dello Sport und Bicisport nannte Nibali seinen Landsmann „reizbar“ und „jähzornig“ und bedauerte, dass der Sarde „nie bis zehn zählen kann, wenn er die Beherrschung verliert“.

Dass Nibali das sagt, finden jene Leute amüsant, die die wütende Reaktion des Sizilianers auf seine Disqualifizierung von der letztjährigen Vuelta a España erleben konnten und Arus Gelassenheit in diversen Stresssituationen in den letzten drei Jahren bewundert haben. Nibali würde dem entgegenhalten, dass sein Team mehr Schuld dafür hätte auf sich nehmen müssen, dass es ihn bei der Vuelta den Berg hochzog, und dass ihre Weigerung, dies zu tun, der eigentliche Grund für ihn sei, am Ende der Saison vielleicht zu gehen. Aru und Nibali haben den gleichen Agenten, Alex Carera, und der erzählt eine andere Geschichte. Wie Carera versichert, habe Nibali seinen Vertrag mit dem kasachischen Team nur deswegen nicht verlängert, weil das Angebot, das im Januar gemacht wurde, „nicht unseren finanziellen Forderungen entsprach“. Am Wochenende von Mailand–San Remo schickte Astana-Boss Alexander Winokurow Carera eine SMS aus Kasachstan und stellte dem Manager eine höhere Offerte in Aussicht, sobald er das Ergebnis der Wahlen in Kasachstan an dem Wochenende kenne. „Astana hat immer noch Priorität“, sagte Carera im März gegenüber Procycling. Eingeweihte behaupten jedoch, dass Astana nur Plan B sei, eine Notlösung, sollte das Bahrain Cycling Team, das Nibalis wahrscheinlichste Oase ist, sich als Fata Morgana entpuppen. Das kasachische Team könnte sogar Plan D werden, sollten Trek und Lampre bestehende Angebote verbessern, auch wenn Trek unlängst angegeben hat, aus dem Rennen zu sein.

Egal, wie Nibalis Zukunft nach dem Giro aussieht – eine Nebenhandlung des diesjährigen Giro ist seine Auswirkung für Aru. Wird er seiner Favoritenrolle gerecht und hält Landa, Valverde et al. im Mai in Schach, kann Nibali entspannt in die Tour gehen, während sich die Teams darum reißen, ihn und seine Entourage für nächstes Jahr zu verpflichten, und er wird kein Problem damit haben, Aru auf dem Papier in Frankreich zu unterstützen. Floppt er, könnte Nibali um des Stolzes willen für seinen Marktwert und die Möglichkeit fahren, 2017 bei Astana zu bleiben. Ganz zu schweigen davon, dass es auch noch ein paar alte Rechnungen mit Chris Froome zu begleichen gibt. Die Aussicht auf einen Kalten Krieg bei Astana wie zwischen Froome und Wiggins 2012 oder LeMond und Hinault 1986 ist verlockend, um es vorsichtig auszudrücken. Es ist auch eine Möglichkeit, die Carera komplett ausschließt, wie zu erwarten ist. „In diesen Interviews meinte Vincenzo vor allem Fabios Alter, als er sagte, dass Fabio impulsiv und er selbst reflektierter sei. Die Leute bauschen diese Rivalität auf, aber ihr Journalisten schreibt nie, dass sie beide in Lugano wohnen und manchmal zusammen trainieren. Dass sie miteinander reden. Sie haben keine Probleme miteinander.“ Zu Beginn des Jahres musste Nibali aus dem Haus gehen, die Straße überqueren, bei einem Fremden klingeln und den Herrn, der die Tür aufmachte, fragen, ob er freundlicherweise aufhören könne, ihn mit dem Fernglas beim Training auf der Rolle zu beobachten. Dieser Nachbar war nicht Fabio Aru – aber es besteht kein Zweifel, dass sein Astana-„Freind“ jeden Schritt von Nibali beim Giro d’Italia beobachten wird.

 

Die Favoriten
Bevor Nibali zum Start des Rennens im niederländischen Apeldoorn reist, könnte Aru ihm den Gefallen tun, ihm zu verraten, wie man Mikel Landa beim Giro schlägt. Alle drei – Nibali, Aru und Landa – sind im letzten Jahr als Teamkollegen bei Astana gefahren, aber dass Landa Aru fast die Show stahl und das Duo Gesamt-Dritter beziehungsweise -Zweiter wurde, führte letztlich dazu, dass der Baske im Winter seine Flügel spreizen und zum Team Sky wechseln musste. Landas Agent bot ihn in der ersten Woche des Giros für 400.000 Euro im Jahr an. Als Landa am vorletzten Abend unter dem Podium weinte, weil er sich für Aru aufgeopfert und dadurch vielleicht auch den Gesamtsieg geopfert hatte, war die Zahl siebenstellig.
Einige zeigten sich überrascht und besorgt über Landas plötzliches Auftauchen als Rundfahrt-Favorit. Sky-Chef Dave Brailsford war weder das eine noch das andere. Brailsford hatte Landa seit Jahren beobachtet und rechnete damit, dass sein Talent jederzeit aufblühen würde. Das Team Sky verlangte und erhielt Landas biologischen Pass und schickte die Daten an seine unabhängigen Experten. Die Zahlen waren am unteren Ende der Risiko-Skala, wie ein Insider des Teams sagt.
Landas stotternder und krankheitsgeplagter Start in seine Sky-Karriere wäre besorgniserregender, wenn es bei dem 27-Jährigen nicht immer so gelaufen wäre. 2015 fuhr er Ende März sein erstes Rennen. Einige Wochen später kletterte er wie ein Skilift. 2014 das Gleiche, mehr oder weniger. Unterstützt wird er von einem Team, das so formidabel ist wie das von Nibali und in dem ein weiterer Neuzugang, Beñat Intxausti, der selbst zweimal in den Top Ten einer Grand Tour war, bereits für die Rolle des Domestique de luxe gesetzt ist und Ian Boswell, Leopold König (dreimal Top Ten bei einer Grand Tour) plus Sergio Henao (einmal) für Verstärkung in den Bergen sorgen. Ein Vorbehalt ist, dass Landa zum ersten Mal mit der schweren Bürde der Verantwortung und Erwartung fährt. Außerdem hat Landas Vorgänger als Sky-Kapitän beim Giro, Richie Porte, schon gezeigt, dass ein fabelhafter Leutnant es als General nicht immer bringt.

Bis Landa sich für Sky eine Startnummer angeheftet – und ein paar Gerüchte zerstreut – hat, wird auch noch offen sein, wie gut er sich in dem britischen Team eingelebt hat. Als wir bei einem Rennen in dieser Saison mit einigen ehemaligen Astana-Teamkollegen sprachen, hatte Landa anscheinend seine Abneigung gegen einige Veränderungen an seiner Ernährung ausgedrückt, zu denen er „ermutigt“ worden war. Der Giant-Alpecin-Coach Marc Reef versicherte Procycling im März, Tom Dumoulin wolle das Rosa Trikot nur nach dem Tag eins tragen – nicht in Turin nach drei Wochen. Angesichts der Flops von Porte und Rigoberto Urán in den letzten zwei Jahren dürfte Alejandro Valverde daher die größte Gefahr für Nibali und Landa sein. Valverde ist 36, ein Giro-Debütant und wird Etappen wie den Wolkenkratzer nach Corvara nicht mögen. Aber sein erster Podiumsplatz bei der Tour de France im vergangenen Jahr hat gezeigt, dass der Spanier noch nicht langsamer wird. Kommentare von seinem Movistar-Teamboss Eusebio Unzué zu diesem Thema klingen wie eine Warnung: „Sie sagen, dass es zu spät für ihn ist, dieses Rennen zu entdecken, aber ich sage, dass er wirklich gut fahren und es lieben wird.“ Wir könnten auch eine Offenbarung erleben – einen kometenhaft aufsteigenden Esteban Chaves zum Beispiel – oder dass die Sterne gut stehen für Ilnur Zakarin und Rafał Majka. Aber wie immer könnten die spannendsten Fahrer, Geschichten und Etappen jene sein, die bei der Streckenpräsentation im Herbst am wenigsten Aufmerksamkeit bekamen. Man könnte in der Tat argumentieren, dass der Apennin, der sich der Länge nach über den italienischen Stiefel erstreckt – und nicht die Alpen oder Dolomiten – dort ist, wo sich die Seele des Giro zunehmend befindet; im media montagna, das der Giro passieren wird auf seinem Weg nach Norden, von den ärmeren Regionen des Südens, die sich im letzten Jahr bitterlich beklagten, dass sie ausgelassen wurden. Das ist ein Terrain, das ein echtes Gegengift zu den Wattleistungskriegen ist, die wir bei mit Bergankünften gespickten Rundfahrten zu oft sehen. Diese zerklüfteten Hügel und Täler könnten auch der Ort sein, an dem einige „Favoriten“ den Giro verlieren, wenn auch nicht gewinnen.

Eines steht allerdings fest: Kein Maß an Spannung und nicht einmal ein Sieg von Nibali kann dem Radsport seinen früheren Platz in den italienischen Herzen zurückgeben. Der Schock dieser Erkenntnis ist überwunden und Erfolge wie die der italienischen Bahnfahrer bei der unlängst ausgetragenen Weltmeisterschaft spiegeln einen Bruch mit jener Selbstgefälligkeit wider, durch die sich der Radsport im Bel Paese sein eigenes Grab geschaufelt hat – zusammen mit der Wirtschaftskrise. Trotz dieser positiven Zeichen wird der Giro 2016 keine wiedererweckte Liebe zum Radsport darbieten; klischeehafte Vorstellungen wie die „Leidenschaft der Tifosi“ treffen einfach nicht mehr zu in einem Land, das nur ein vergleichsweise schwaches WorldTour-Team hat und wo einige der Fahrer in den drei Aufgeboten von ProContinental-Rennställen, die zum Giro eingeladen wurden, für ihren Platz „bezahlt“ haben werden, indem sie Sponsoren rekrutiert haben.
Was natürlich alles zu dem Chaos, den Ränkespielen, den Widersprüchen und dem Charme beiträgt. Was wäre der Giro ohne sie, in einem Land, dessen bekanntester zeitgenössischer Journalist, Beppe Severgnini, so scharfsinnig formulierte: „Italien ist ein Ort, wo immer im nächsten Moment irgendetwas passiert. Meistens ist es etwas Ungewöhnliches. Für uns ist es meistens einzigartig.“



Cover Procycling Ausgabe 147

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 147.

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