Ein bedingter Erfolg

Die Erwartungen waren hoch für Thibaut Pinot, Romain Bardet und Warren Barguil, die junge Generation französischer Rundfahrer. Alle drei haben sich gesteigert, aber es bleiben Fragezeichen hinter der langfristigen Perspektive jedes Einzelnen.

 

Thibaut Pinot
Rettung in letzter Minute
Unmittelbar nach Romain Bardets Etappensieg in Saint-Jean-de-Maurienne war die Freude bei den Franzosen groß. Hier hatte einer der ihren triumphiert. Doch es gab eine auffallende Ausnahme. Trotz aller Bemühungen der einheimischen Presse konnte Thibaut Pinot nicht aus dem FDJ-Bus gelockt werden, um seinem Landsmann und langjährigen Rivalen zu dessen Erfolg zu gratulieren. Für Pinot war Bardets Sieg der jüngste von vielen Schlägen ins Gesicht. Angefangen mit dem fürchterlichen Sturz seines Aufpassers für die erste Woche, William Bonnet, auf der 3. Etappe über seine Zeit- und Formverluste vor und in den Pyrenäen bis hin zu seiner Niederlage gegen Steve Cummings in Mende schien der FDJ-Kapitän zu einer miserablen Tour verurteilt zu sein, nachdem er ein Jahr zuvor in Paris auf dem Podium gestanden hatte. Die Wiedergutmachung kam bei der letzten möglichen Gelegenheit mit einem brillant herausgefahrenen Etappensieg in Alpe d’Huez. Schon vorher gab es Hinweise, dass der von den FDJ-Trainern Julien Pinot und Fred Grappe vor dem Rennen aufgestellte Plan, der gewährleisten sollte,  dass der FDJ-Star in Topform in die letzte Woche der Tour ging, erfolgreich war. Nach der Niederlage in Mende kostete ihn sein Sturz am Col d’Allos wohl den Sieg in Pra-Loup, während Pinot an Bardets glorreichem Tag auf dem Gipfel des Croix de Fer offenbar mühelos zu seinem Rivalen aufgeschlossen hatte, nur um in der Abfahrt ins Maurienne-Tal abgehängt zu werden. Diese letzten beiden Momente verdeutlichten, dass sie an den Problemen mit Technik und Nerven, die Pinots Tour 2013 ruinierten, noch arbeiten müssen. Weit dringender jedoch muss FDJ-Manager Marc Madiot Pinots Kohorte von Bodyguards für die zunehmend wichtige erste Woche des Rennens verstärken. In Paris betonte FDJ-Sportdirektor Yvon Madiot: „Alle Teams, die aufs Gesamtklassement fahren, haben viele Klassiker-Spezialisten. Bei Sky sind es Thomas, Stannard und Rowe. Bei Tinkoff sind es Tosatto, Sagan und Bennati. Diese Jungs sind 1,80 Meter groß und wiegen 80 Kilogramm. Wir sind leicht, was die Physis angeht.“ Madiots Problem ist, dass FDJ ein französisches Team mit französischen Sponsoren ist, es aber keine französischen Klassiker-Spezialisten gibt, die sich mit diesen Namen messen können. Ausländische Spezialisten zu rekrutieren, ist die Antwort, und Marc Madiot sucht dafür bereits nach einem zweiten Sponsor. Was Pinot angeht, so unterstrichen sein Sieg in Alpe d’Huez und seine anderen starken Vorstellungen, dass er ein Kandidat für das Podium der Tour bleiben dürfte. Er sagt aber selbst, dass die Sterne sehr günstig für ihn stehen müssen, um das oberste Treppchen zu erreichen. Neben seinen eigenen Schwächen und denen seines Teams erkennt er auch die größere Stärke mehrerer Rivalen, darunter Chris Froome und Vincenzo Nibali, an. Sein größter Konkurrent indes ist der gleichaltrige Nairo Quintana. Er ein viel besserer Kletterer und kann auf die Unterstützung eines viel stärkeren Teams setzen.
 
Romain Bardet
Nicht zu bremsen
Gegen Ende der letzten Saison sagte AG2R-Sportdirektor Julien Jurdie, die wichtigste Veränderung, die Romain Bardet gemacht habe, um ein glaubwürdiger und beständiger Anwärter auf den Toursieg zu werden, sei, seinen Angriffsinstinkt zu zügeln. „Seine Radsport-Philosophie ist das Angreifen. Wir mussten ihn bei der Tour de France [2014] mehrmals zurückpfeifen. Einfach nur mitzurollen, langweilt ihn, aber er hat sich damit abgefunden, weil er versteht, dass er Erfahrung sammeln und körperlich stärker werden muss“, sagte Jurdie. Nach der diesjährigen Tour sang AG2R-Sportdirektor noch immer dasselbe Lied. Obwohl Bardet sagt, dass er zugehört habe, gibt er auch zu, dass er Schwierigkeiten habe, den Refrain im Kopf zu behalten. Am letzten Tag des Rennens zum super combatif – zum kämpferischsten Fahrer der ganzen Tour – gewählt, erklärte Bardet der L’Équipe: „Dieser Preis passt zu meiner angriffsbetonten Fahrweise. Diese Herangehensweise ist für mich wichtiger als das Gesamtklassement.“ Die Radsport-Fans, die es gerne sehen, wenn Fahrer wie Bardet und Peter Sagan Wattzahlen und Teamorder in den Wind schreiben, werden die Haltung des Franzosen begrüßen, Jurdie und AG2R-Teamboss Vincent Lavenu hingegen werden überhaupt nicht begeistert gewesen sein. Die beiden sagen, dass Bardet in seinem Element ist, wenn er in seinem eigenen Stil fahren kann, erwarten aber statt gelegentlicher spektakulärer Auftritte mehr Beständigkeit von ihm. Jurdie hat klar gesagt, dass Bardet bezahlt wird, um Kapitän des Teams zu sein und den Fokus zu bilden. Das sei und bleibe seine Rolle, betont Jurdie. Und das verträgt sich vielleicht nicht mit wiederholten Ausflügen von der Spitze des Feldes weg. Die Hauptfrage für den AG2R-Fahrer und die Teammanager ist, ob Bardet tatsächlich das Zeug zum Rundfahrtsieger hat. Der Franzose hat drei Frankreich-Rundfahrten bestritten und zu Ende gefahren, ist 15., Sechster und jetzt Neunter geworden, was allerwenigstens seine Ausdauer bestätigt. Seine jüngste Leistung beweist auch seine mentale Stärke, so wie er den hitzeschlagbedingten Kampf auf dem Weg nach La Pierre-Saint-Martin wegsteckte und zwei Tage später am Plateau de Beille Dritter wurde. Doch das allgemeine Gefühl ist, dass der Fahrer aus der Auvergne kein so naheliegender Podiumskandidat ist wie Thibaut Pinot, der ein besserer Zeitfahrer ist und gezeigt hat, dass er länger mit den besten Kletterern mithalten kann. Bardet, ein sehr cleverer junger Mann, der Ende des Jahres vor dem Abschluss seines BWL-Studiums in Grenoble steht, gibt zu, dass er nicht so stark ist wie die ganz großen Klassementfahrer, und sieht auch die Gefahr, die ein obsessiver Fokus auf die Gesamtwertung birgt. Nach seinem Sieg in Saint-Jean-de-Maurienne fand er es furchtbar, wie er sagte, dass Tejay van Garderen auf diese Art aus der Tour aussteigen musste – von Krankheit geplagt, als er auf dem dritten Gesamtrang lag – und nach einem Jahr Vorbereitung fast nichts in der Hand hatte. Bardet hat diese Höhen nie erreicht, ist aber mit einem deutlich gestärkten Ruf aus seinen Frankreich-Rundfahrten hervorgegangen. Jurdie und Lavenu werden diesen Vergleich nicht mögen, aber statt der nächste Hinault oder Fignon scheint Bardet viel eher der neue Thomas Voeckler zu sein: Mutig, aggressiv, intelligent und bereit, jedes Quäntchen Talent und Energie aus seinem Körper herauszuholen, ist Bardet vielleicht nicht der nächste französische Toursieger, aber er hat alle Attribute, um ein Nationalheld zu werden. Voeckler, das darf man nicht vergessen, wäre einst – indem er in typischer Manier fuhr – fast in Gelb in Paris angekommen. Wenn er seinem eigenen Stil treu bleibt, könnte Romain Bardet es genauso weit bringen und genauso schwer abzuschütteln sein.
 
Warren Barguil
Die neue Hoffnung
Zwei Etappensiege bei seinem „Grand Tour“-Debüt bei der Vuelta 2013 und der achte Gesamtplatz bei dem spanischen Rennen im vergangenen Jahr deuteten schon an, dass Giant-Alpecin-Profi Warren Barguil sich zur dritten langfristigen Tour-Hoffnung Frankreichs entwickeln würde. Der 14. Platz des Bretonen verstärkt diesen Eindruck, zumal er nach seinem schweren Sturz in den Pyrenäen das Rennen bereits aufgeben wollte und weiter unter den Folgen litt, gerade auf den letzten beiden Etappen in den Alpen, wo er sich zwei Drittel seines 30-Minuten-Rückstands auf Chris Froome einhandelte. Während man damit rechnete, dass er sich in den Bergen – seinem Lieblings-Terrain – hervortun würde, glänzte Barguil stattdessen in der kniffligen ersten Hälfte der Tour, in der viele andere, viel erfahrenere Klassementfahrer stolperten. Angewiesen, dem Giant-Sprinter John Degenkolb auf diesen Etappen zu helfen, verbrachte Barguil viel Zeit im Wind, um den Wahl-Frankfurter zu beschützen, was einen großen Teil seiner Reserven auslaugte – aber auch bedeutete, dass er meistens an der Spitze des Pelotons in einer relativ sicheren Zone fuhr. Gesamt-Achter und nur eine Minute hinter Froome nach der Etappe nach Mûr-de-Bretagne, wo er der Lokalmatador war, freute sich Barguil besonders über seine Leistung in diesem Teil des Rennens. Aber davon abgesehen, war er oft isoliert. „Am letzten Anstieg war ich oft auf mich allein gestellt. Im Moment ist das kein Problem, aber in Zukunft könnte es eins werden“, sagt er in Paris. „Ich hoffe, dass ich in den Bergen nicht in meiner Bestform war, und ich bin sicher, dass das der Fall war.“ Giant hat von einem Drei-Jahres-Plan für den Franzosen gesprochen, seinen Kontrakt aber nur für eine weitere Saison verlängert. „Wir müssen über die Zukunft sprechen und sehen, ob alles so läuft, wie ich es mir vorstelle“, erklärt er. Der erste Hinweis darauf wird sein, ob Giant sein Versprechen an Barguil einlöst und einen Fahrer verpflichtet, der ihn in den Bergen unterstützt. Die naheliegende Komplikation für den sympathischen Franzosen und sein Team ist, dass Marcel Kittel in dem deutschen Team wohl bald wieder die Hauptrolle spielen wird. Barguil hat sich sicher das Recht verdient, von einer Helferrolle in der ersten Woche der nächstjährigen Tour befreit zu werden, aber wird Giant sich Plätze im Team für den Franzosen und seinen neuen Berg-Domestiken leisten können, wenn der Deutsche 2016 wieder in Bestform ist? Denn bei der Tour sowohl Sprint- als auch Gesamtklassement-Ambitionen zu verfolgen, ohne eines der beiden Ziele zu unterminieren, könnte schwerer denn je sein. Sky hat es nicht geschafft. Tinkoff hat es nicht geschafft. Giant wird es bestimmt versuchen, könnte am Ende damit aber weder Kittel noch Barguil einen Gefallen tun.



Cover Procycling Ausgabe 139

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 139.

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