Auf der Suche nach Vincenzo

Der Toursieg des Sizilianers, der souveränste seit mehr als einem Jahrzehnt, sprach das breitere Publikum nicht an. War Nibali zur falschen Zeit am richtigen Ort?

 

Hören Sie sich in einer italienischen Bar um, oder besser noch, fragen Sie einen Taxifahrer. Die sind, wie man weiß, die wahren Barometer für den Zeitgeist ihres Landes und werden alle dieselbe Antwort liefern. Marco Pantani, wird Ihr Chauffeur Ihnen erzählen, war eine Ikone. Aber wie alle Radrennfahrer nahm er Drogen (natürlich; jeden Tag 250 Kilometer zu fahren, ist absolut unmenschlich) und machiavellische Kräfte – wahrscheinlich „die Behörden“ oder „der Texaner“ – sorgten dafür, dass er umgelegt wurde. Pantani war einfach zu gut, werden sie schwadronieren, und war zu groß für den Sport geworden. Sie mussten ihn irgendwie stoppen und genau das taten sie. Wo Sie schon mal über Sport reden, fragen Sie Ihren Taxifahrer nach dem Ersatztorhüter bei Sampdoria oder allen Schiedsrichtern der Serie A. Wenn er seinen (ebenso leidenschaftlichen wie todlangweiligen) Monolog endlich beendet hat, bitten Sie ihn, den Namen irgendeines aktuellen Radrennfahrers zu nennen. Wahrscheinlich wird er herumdrucksen und dann etwas von dem Sizilianer brummen, der die Tour de France gewonnen hat. Die gebildeteren Taxifahrer werden sich sogar an seinen Namen erinnern, aber stellen Sie dieselbe Frage einer Gruppe von unter 25-Jährigen, und sie werden Sie ausdruckslos anstarren. Es ist die Art von Blick, die man erwartet, wenn man sie aufgefordert hätte, die Quantenfeldtheorie zu erläutern, und das sagt einem alles, was man über den Platz des Radsports in der italienischen Sportlandschaft wissen muss. Betreten Sie schließlich – was noch frustrierender ist – irgendeine Filiale von Mondadori, ein italienischer Hugendubel, dessen größter Anteilseigner ein gewisser Silvio Berlusconi ist. Gehen Sie in die Sportabteilung und versuchen Sie, inmitten von Valentino-Rossi-Huldigungen und der üblichen Fülle an Fußball-Literatur das Radsportregal zu finden. Draußen in den Provinzen wird es keines geben, aber in den Großstadt-Geschäften werden sie etwas im Sortiment haben. Es wird Biografien über die verstorbenen Rennfahrer Fausto Coppi (wahrscheinlich), Gino Bartali (vorstellbar) und Marco Pantani (ab-solut sicher) geben. Die Italiener lieben nichts mehr als eine schmutzige Verschwörungstheorie, erst recht, wenn sie mit Sport zu tun hat. Daher scheint ein Buch über Pantani für einen italienischen Sportjournalisten fast obligatorisch zu sein. Sie haben die Wahl zwischen Pantani ist zurück (Davide de Zan), Pantani war ein Gott (Marco Pastonesi), Mord beim Giro (Paolo Foschi) und Ein Piratenleben (Beppe Conti). Dann haben wir Marcos frühere Managerin über Marco, Marcos Schulfreunde über Marco sowie eine Reihe von kitschigen Low-Budget-Lobgesängen seiner Schüler. Seine eigene Mutter, Tonina, hielt es für angemessen, selbst zwei zu verfassen. Sie heißen Er war mein Sohn und  – passenderweise, da sie ihn offenbar heilig sprechen wollen – Im Namen Marcos. Die Liturgie geht weiter, weil die Pantani-Legende, ähnlich wie die, die sich um Bartali rankt, weiter alle möglichen Interessen bedient.
 
Dreck und Geld liegen nahe beisammen und, das muss man sagen, umgekehrt auch. Die allergrößten Mondadori-Läden haben vielleicht auch ein anderes Radsportbuch auf Lager. Es ist jenes, das sie im vergangenen Dezember selbst herausgebracht haben, und es ist tatsächlich sehr gut. Aber es verkauft sich lange nicht so gut wie die oben genannten. Es sind die Memoiren des brillanten italienischen Siegers der Tour de France 2014, jene, an die der Durchschnitts-Paolo-Rossi sich kaum erinnern kann. Im Laufe eines Monats im Herbst erzählte Vincenzo Nibali seine Geschichte dem italienischen Autor Brizzi, der sie zu Papier brachte. Er erzählt von der leidenschaftlichen Rivalität zwischen Nibali und Giovanni Visconti, als sie in Sizilien aufwuchsen, davon, dass er als Teenager in die Toskana zog und sich entwurzelt fühlte, und von seinen Schwierigkeiten, mit dem Fehlenden zurechtzukommen. In vielerlei Hinsicht ist es durch und durch italienisch, der Radsport als Metapher für die südliche Diaspora. Brizzi erinnert sich an ihre ersten vorsichtigen Schritte, die sie zusammen machten: „Ich habe ihn das erste Mal in seinem Haus in Lugano besucht, als er gerade von seiner Kasachstan-Reise im Anschluss an die Tour zurückgekommen war. Wir waren für vier Uhr verabredet, aber er war fünf Minuten zu spät. Er war trainieren gewesen und hatte vier- oder fünfmal angehalten, um Fans ein Autogramm zu geben und sich mit ihnen fotografieren zu lassen. Er rief Rachelle, seine Frau, an und bat sie, sich in seinem Namen bei mir zu entschuldigen. Das – die Tatsache, dass er vollkommen frei von Ego ist – ist sowohl seine Stärke als auch seine Schwäche. Es macht ihn als Mensch noch bewundernswerter, während es ihn gleichzeitig daran hindert, ein großer Star zu sein. Wenn er in der Toskana bei seinem Fanclub ist, ist er wahrscheinlich die stillste Person im Raum. Er ist keine Popkultur-Figur wie Wiggins mit seinen Motorrollern und seiner Gitarren-Sammlung. Er kann dich nicht wie Armstrong manipulieren, hat nicht Pantanis Charisma und Zerbrechlichkeit. Er ist im Prinzip ein sehr einfacher, sehr bescheidener Typ, aber das macht ihn in der heutigen, von den Medien angetriebenen Welt zu einer Art Anti-Persönlichkeit. Er ist ein bemerkenswerter Mann mit einer sehr interessanten Geschichte, aber er ist nicht gut darin, sie zu verkaufen. Im Gegenteil, er spricht so ungern über sich, dass er sich fast dafür entschuldigt, er selbst zu sein.“
 
Derweil geht in Großbritannien das Wiggins-Love-in unvermindert weiter. Sein Toursieg hat den Radsport in seinem Land nach vorn katapultiert wie die Siege von Jan Ullrich und Armstrong in Deutschland beziehungsweise in den USA. Es ist klar, dass Wiggins, genau wie Nibali, ein fantastischer Rennfahrer ist. Aber da enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Die „Wiggo”-Marke sorgt dafür, dass sich die Hagiografien stapelweise verkaufen und dass sehr gute, aber keinesfalls großartige Fahrer wie Stannard, Thomas und Dowsett in aller Munde sind. Daran ist überhaupt nichts verkehrt, auch nicht an der Tatsache, dass Hundertausende am Straßenrand stehen, um Englands bekanntesten Mod drei Tage durch Yorkshire fahren zu sehen. Unterdessen kämpft in Italien Tirreno – Adriatico, ein schönes Rennen von enormer strategischer, historischer und sportlicher Bedeutung, weiter um seine nackte Existenz. Abgehalten vor ein paar verbleibenden Fans und den Presseleuten, dient es als Nachmittags-Fernsehfutter für Italiens alternde und arbeitslose Bevölkerung. Es überlebt, weil der Giro es finanziert und weil RCS Sport viel Geld macht mit Rennen wie der Dubai Tour und der Grande Partenza in Nordirland. Als Nibali im Oktober dem Ministerpräsidenten Matteo Renzi in Rom ein Gelbes Trikot überreichte, sagte der Premier, dass er „Italien stolz gemacht hat mit der Art und Weise, wie er die Tour gewonnen hat. Er holte das Trikot auf der 2. Etappe – was erstaunlich ist – und er verdient unseren Dank.“ Renzis Lob war aufrichtig und vollkommen verdient und löste so etwas wie einen Medien-rummel aus. Nibali trat neben U2 und Reinhold Messner bei Che Tempo Che Fa? – Italiens beliebtester Talkshow – auf, bevor sie ihn beim Musikwettbewerb von San Remo auf die Bühne setzten. Vor einem riesigen Fernsehpublikum war er höflich und gut, ebenso wie bei seiner Foto-Session für das Cover von GQ. Aber irgendwie ist er nicht annähernd so im Mainstream des öffentlichen Bewusstseins angekommen wie seine Vorgänger. Erst wurde Pantani durch seine dopinggetriebenen Heldentaten bei der Tour 1998 zum Megastar, dann schlug sein Sündenfall dem Radsport in Italien den Kopf ab. Darin liegt das wesentliche Paradox der relativen Anonymität seines Nachfolgers. Er wuchs mit Pantani als Idol auf und trotzdem ist die Gleichgültigkeit der italienischen Öffentlichkeit eine direkte Folge der Verfehlungen seines Helden.

Ob unbewusst oder nicht, starb der Radsport für viele Italiener mit Pantani und selbst Bewahrer des Glaubens erkennen an, dass dies eine stark nachlassende Sportart ist. Ob es uns gefällt oder nicht: Es wird wesentlich mehr erfordern als ein einziges Gelbes Trikot, um ihn annähernd zu seinem früheren Glanz zurückzuführen. Der fragwürdige Umgang der UCI mit der Astana-„Affäre“ (die eigentlich gar keine Affäre war; im Bericht der Lizenzkommission war von strukturellen Problemen im Teammanagement die Rede, nicht von ethischen) unterminierte Nibalis öffentliche Wahrnehmung weiter. Obwohl er konsequent und nachdrücklich gegen Doping eintritt, war es unvermeidlich, dass im Post-Pantani-Italien etwas von dem Schmutz hängen bleibt. Ungeachtet des Protokolls könnte man argumentieren, dass Nibali und der Radsport etwas Besseres verdient hätten als das öffentliche Scheingericht, zu dem es geriet. Als amtierendes maillot jaune ist er der Bannerträger des Radsports und hat jedes Recht, gekränkt zu sein. (Die Gazzetta dello Sport schrieb, Nibali habe um ein Gespräch mit Brian Cookson gebeten, sei aber abgewiesen worden. Als wir die UCI zwecks Klärung kontaktierten, hieß es, es habe nie irgendeine Korrespondenz gegeben.) Auch wenn Teile der nordeuropäischen Medien die Italiener gerne als moralisch lax abstempeln, entspricht dies nicht der Realität des täglichen Lebens hier. Im Wesentlichen ist die italienische Gesellschaft extrem gesittet und extrem korrekt. Sie legt großen Wert auf „Erziehung“, was nichts mit akademischer Bildung zu tun hat, sondern ganz allgemein die Beachtung eines uralten moralischen Kodexes bedeutet sowie der Werte und Verhaltensweisen, die eine zivile Gesellschaft untermauern. In seiner Bescheidenheit und scheinbaren Einfachheit ist Nibali ein Paradebeispiel. Als genaue Antithese von Medien-Lieblingen wie Armstrong und Wiggins ist er einfach ein sehr netter Mensch, der nichts mehr liebt, als mit seinen Kollegen Rad zu fahren. Auch wenn es klischeehaft klingt, ist Radsport die beste Art, auszudrücken, wer – und was – er ist. Sein Manager Alex Carera sagt: „Um ehrlich zu sein, hatte er nach der Tour so viele zeitraubende Termine, dass sein Rad seine Zuflucht war. Die Tour hat ihn zu einem der wichtigsten Sportler der Welt gemacht und er musste die Folgen akzeptieren. Eine davon ist die Medien-arbeit, aber für einen schüchternen Menschen wie ihn kann das ziemlich belastend sein.“ Man könnte sagen, dass Nibali ein Opfer der Umstände ist, der historischen wie der aktuellen. Glücklicherweise ist er niemand, der sich lange damit beschäftigt, und er hat keinerlei Interesse daran, Kapital daraus zu schlagen. Noch einmal Brizzi: „Das Foto mit Renzi, die Zeitschriften-Cover – das hat er seinem Manager zuliebe gemacht und weil es von ihm erwartet wurde. Er hat es aus einem Pflichtgefühl heraus gemacht, nicht, weil er eine Art kulturelle Ikone werden will. Was er wirklich will, ist zu trainieren und Zeit mit seiner kleinen Tochter Emma zu verbringen.“

 

Von den Begleiterscheinungen einmal abgesehen – wie bewerten wir seinen Toursieg im größeren Zusammenhang? Beppe Conti hat sich als Chronist der Radsportgeschichte und in jüngerer Zeit als Kommentar für RAI TV einen Namen gemacht: „Jede Ära ist anders und es ist schwer, Vergleiche anzustellen. Wir können nicht vorgeben, dass Nibali ein Hinault oder ein Merckx ist, und wir sollten auch nicht vergessen, was mit Contador und Froome passiert ist. Aber es ist nicht nur die Anzahl von Siegen, welche die besten Tourfahrer auszeichnet, es ist die Art, wie sie gewinnen. Man könnte argumentieren, dass die Konkurrenz nicht die stärkste war, nachdem die beiden gestürzt waren, aber was unbestritten ist, ist die Qualität seiner Leistung. Er war majestätisch.“ Es wurde viel über die Aufgaben von Froome und Contador 2014 gesagt und geschrieben, aber so ist das nun mal im Radsport. Wenn du nicht heil durchkommst, kannst du nicht gewinnen, und in der abschließenden Analyse sind beide über ihre Defizite bei der Radbeherrschung gestolpert. Beide waren in Sheffield überfordert und Froomes Crash auf der 4. Etappe unterstrich seine Achillesferse. Contador fuhr tapfer über das Kopfsteinpflaster, aber Nibali schlug ihn an jenem Tag vernichtend. Er war einfach stärker und besser und lange vor seinem Sturz auf dem Platzerwasel war klar, dass Contador keine Antwort auf den Sizilianer hatte. Auch wenn Bjarne Riis das Gegenteil behauptete, ist es unwahrscheinlich, dass er im Hochgebirge mit Nibali hätte leben können. Natürlich sind das alles Vermutungen, aber der Vorsprung, mit dem Nibali gewann, war der größte seit 15 Jahren. Außerdem hat seit Hinaults Meisterleistung 1979 kein Gelbes Trikot mehr vier Etappen gewonnen. Nibali triumphierte in den Alpen, Vogesen und Pyrenäen sowie auf einer welligen Etappe in Yorkshire, die sich gewaschen hatte. Seine Vorstellung auf dem Pavé war atemberaubend, sein Sieg in Hautacam der Stoff, aus dem Radsportlegenden sind. Er trug das Gelbe Trikot an jenem Tag und eigentlich hätte er nur mitfahren und sich aus allem rauszuhalten brauchen. Er hatte alles zu verlieren und trotzdem konnte er nicht anders, als seinem Renninstinkt freien Lauf zu lassen. Das Ergebnis war ein grandioser Etappensieg von einer Art, die wir im Zeitalter der Zweckmäßigkeit im Radsport selten sehen. Er erinnert an Eddy Merckx’ Meisterstück 1970 auf dem Ventoux – und ein größeres Lob kann es nicht geben. Es wurde oft gesagt, dass Merckx und Hinault durchschnittliche Rivalen hatten, aber das ist natürlich blanker Unsinn. Der extravagante Vorsprung, mit dem sie gewannen, war wie bei Nibali einfach ein Ausdruck ihrer überwältigenden Überlegenheit.
 
Die Blaupause für große Rundfahrten, von Jacques Anquetil in den frühen 60er-Jahren entwickelt und im Laufe eines halben Jahrhunderts verfeinert, ist grundsätzlich defensiv. Miguel Indurain, der gemeinhin als größter Tour-de-France-Fahrer der letzten 30 Jahre gilt, gewann fünf Gelbe Trikots ohne eine einzige Straßenetappe, während Greg LeMonds drei Triumphe nur zwei beinhalteten. Großer Champion hin oder her – LeMond folgte mehr oder weniger dem Geschehen. Wiggins’ Sieg war der eines Zeitfahr-Spezialisten, der in den Bergen konservativ fuhr, ebenso wie der von Felice Gimondi, der Italiener, mit dem Nibali oft verglichen wird. Auch Gimondi gewann alle drei großen Landesrundfahrten und sein Gelbes Trikot 1965 sicherte er sich in Abwesenheit des großen Anquetil. In mancher Hinsicht gleichen die Umstände beim Sieg eines anderen Italieners, Gastone Nencini, denen bei Nibalis am meisten. Nachdem er drei Jahre zuvor den Giro gewonnen hatte, ging er als Mitfavorit neben Henri Anglade und Roger Rivière in die Tour 1960. Während Anglade früh einbrach und Rivière schwer stürzte, segelte Nencini in die Rekordbücher. Doch Nencini war ein Blut-und-Rotz-Rennfahrer der alten Schule, ein Krieger. Nibali ist viel talentierter und ästhetischer; auf dem Rad erinnert er an den großen Schweizer Toursieger Hugo Koblet oder Laurent Fignon. Der Pariser gewann 1983 und 1984 zwei Gelbe Trikots in Serie und er war ein extrem stilvoller Fahrer. Diese Dinge sind völlig subjektiv, aber ein weiterer Sieg für Nibali wird ihn auf eine Stufe mit Fignon, mit Gino Bartali und mit Alberto Contador stellen. Und das, liebe Leser, ist eine sehr erlesene Gesellschaft.



Cover Procycling Ausgabe 137

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 137.

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