Michał Kwiatkowski

Mit dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Ponferrada wurde Michał Kwiatkowski zum rechtmäßigen Anwärter auf die Krone des besten Allrounders – ein Titel, der einst Peter Sagan vorbehalten zu sein schien. Der 24-Jährige gewinnt Zeitfahren gegen Tony Martin, hält in den Bergen mit den besten Kletterern mit und ist mit einem angriffslustigen Temperament gesegnet. Dennoch gibt es eine klare Priorität für ihn. Der Pole ist entschlossen, sich auf die Klassiker zu konzentrieren, die er liebt, denn: „Da wird nicht viel kalkuliert – es ist einfach ein Kampf gegen deine Rivalen.“ Wir sprechen mit einem Fahrer, der sich jeder Kategorisierung widersetzt.

 
An dem Montag, nachdem sich Michał Kwiatkowski als erster Pole das Regenbogentrikot des Weltmeisters überstreifen konnte, drehten die Zeitungen in seinem Heimatland durch. Ihr Mann prangte auf allen Titelseiten, die Arme im Triumph ausgebreitet oder die Hände vor Freude und Ungläubigkeit vors Gesicht geschlagen. Die Boulevardzeitung Fakt feierte ihn als Polens neue Sport-Ikone. Für den Fall seines Siegs hatte eine Kamera-Crew von TVN schon vor seinem Elternhaus Stellung bezogen, um mehr über die radsportverrückte Kindheit des jüngsten Sport-Superstars des Landes herauszufinden. Als er zu Hause ankam, drängelten sich die Gratulanten am Warschauer Flughafen, um den Fahrer zu begrüßen, der dem erfolgreichsten polnischen Jahr im modernen Radsport das Sahnehäubchen aufsetzte. Seine Attacke rund sieben Kilometer vor dem Ziel sei spontan gewesen, sagt Kwiatkowski, ein Schachzug, der sich auszahlte. Einige Beobachter hatte die WM-Woche und vor allem der Kurs in Ponferrada kalt gelassen (wegen der durchsichtigen Taktik, zu der er einlud), aber Kwiatkowskis Aktion auf den letzten Kilometern war klassisch: Er schloss zu einem schwächelnden Quartett auf, rollte kurz in ihrem Windschatten mit und trat in dem Moment, als das Verfolgerfeld näher kam, an und holte auf den letzten sechs Kilometern alles aus sich heraus. Beine, Berechnung und Instinkt – es kam alles zusammen. Es war all das plus eine saubere Leistung seines Teams, das lange darauf hingearbeitet hatte – nicht nur die sechseinhalb Stunden vor dem Sieg, sondern die ganze Saison lang.

Der Fahrer von Omega Pharma – Quick-Step war in den Tagen nach seinem Sieg im Schock, wie er sagt. „Ich konnte nicht glauben, dass ich sie gewonnen habe – die Weltmeisterschaft“, sagte er zwei Tage nach seinem ersten Auftritt im Regenbogentrikot bei der Lombardei-Rundfahrt zu Procycling. „Ich habe nicht einmal davon geträumt, ich versuchte einfach nur durchzukommen. Erst als ich allein ankam, hatte ich Zeit zu jubeln. Es war unglaublich, aber ich war wirklich geschockt. Ich hatte danach zwei Tage lang keinen Appetit. Es war kein Stress, in meinem Kopf war nur einfach so viel los.“ Der Sieg war die Krönung einer fabelhaften Saison für den 24-Jährigen, der Mitte Februar bei der Trofeo Serra de Tramuntana (die zur Mallorca Challenge gehört) seinen ersten Sieg feierte. Vor Ende des Monats entschied er außerdem zwei Etappen und die Gesamtwertung der Volta ao Algarve für sich – und konservierte die Form bis zum Strade Bianche Anfang März, das er gewann, indem er 22 Kilometer vor dem Ziel mit Peter Sagan attackierte und den Slowaken im Schlussanstieg zur Zitadelle mühelos abschüttelte. Zwei Tage im Spitzenreitertrikot bei Tirreno – Adriatico zeigten, dass er noch gut aufgelegt war, bevor er in den Bergen einbrach und an zwei Tagen so viel Zeit verlor, dass er auf den 18. Platz abrutschte. Wenn er es in Italien übertrieben hatte, so zeigte seine Formkurve im April, als eine Reihe von hügeligen Klassikern und Etappenrennen anstand, wieder nach oben. Bei der Vuelta al Pais Vasco unterstrich er seine Vielseitigkeit und fuhr bei fünf von sechs Etappen auf den dritten Platz. Dabei war er der Schatten von Alberto Contador in den Bergen, von Michael Matthews bei den Sprints und von Tony Martin beim 25-Kilometer-Zeitfahren. Er war überall.
 
Die Ergebnisse waren ein gutes Vorzeichen für die Ardennen-Klassiker, wo er bei Omega Pharma – Quick-Step der unumstrittene Kapitän war – eine relativ neue Erfahrung, wie er sagte. Er sicherte sich den fünften Platz beim Amstel Gold Race sowie zwei dritte Plätze beim Flèche Wallonne und bei Lüttich – Bastogne – Lüttich. Bei letzterem Rennen, wo er dem gestürzten Dan Martin in der letzten Kurve geschickt auswich, machte er auf dem Podest Bekanntschaft mit Alejandro Valverde und Simon Gerrans – den zwei Fahrern, denen er später auf dem Podium in Ponferrada als Sieger die Hand schütteln sollte. „Rückblickend bin ich mit der ganzen Woche zufrieden“, sagte er anschließend. „Ich wollte für die Ardennen in Form sein und das habe ich erreicht.“ Die hügeligen Klassiker und Strade Bianche spiegelten Kwiatkowskis wachsende Affinität zu aggressiv gefahrenen Eintagesrennen wider. Im vergangenen Jahr, als Kwiatkowski drei Siege verbuchte, war sein einziger Erfolg bei einem Eintagesrennen die polnische Straßenmeisterschaft. „Ich mag die Klassiker wirklich, weil es nicht viel Taktik gibt“, sagte Kwiatkowski. „Es gibt nicht viel Berechnung – es ist ein Kampf gegen Rivalen, ein klarer Wettkampf. Ich liebe es einfach, Rennen zu fahren. Wohl aus diesem Grund mag ich die Klassiker besonders.“
 
Wenn es für Kwiatkowski persönlich eine goldene Saison war, so stellte es auch für Polen insgesamt ein exzellentes Jahr dar. Abgesehen von seinem Sieg im Zeitfahren bei den Landesmeisterschaften steuerte der OPQS-Fahrer acht der 50 internationalen polnischen Siege bei, die meisten seit 2008, als das Land auf 57 Erfolge kam. Während die Statistik die Quantität unterstreicht, ist das Jahr 2014, was die Qualität der Siege angeht, unerreicht. Der letzte Pole, der vor der Saison 2014 auf WorldTour-Niveau gewann, war Sylwester Szmyd beim Critérium du Dauphiné Libéré – im Jahr 2009. In diesem Jahr gab es sieben polnische Siege, darunter zwei Etappensiege und das Bergtrikot der Tour de France durch Rafał Majka (Tinkoff – Saxo Bank) sowie einen Sieg auf der schweren Vuelta-Etappe nach Lagos de Covadonga durch Przemysław Niemiec (Lampre-Merida). Der Fortschritt und die Entwicklung seines Landes ist Kwiatkowski nicht entgangen, der sagt, dass die Breite und Tiefe der Erfolge über die gesamte Saison ganz wesentlich zu seinem Triumph bei der Weltmeisterschaft beitrugen. „Es war eine fantastische Saison und aufgrund dieser Resultate hatten wir genug WorldTour-Punkte, um in Ponferrada mit neun Fahrern an den Start zu gehen. Als Mannschaft waren wir selbstbewusst und wussten, was wir wollten.“
 
Vor dem Rennen hatte die belgische Zeitung Het Nieuwsblad berichtet, dass Kwiatkowski zu Beginn der Woche nicht in der bescheidenen Unterkunft der polnischen Mannschaft wohnte, sondern in dem Hotel, in dem seine belgischen Teamkollegen von Omega Pharma residierten. An dem Mittwoch vor dem Rennen fuhr er 240 Kilometer mit dem belgischen Team und spulte danach noch eine extra Stunde ab. Auch wenn im Peloton kaum jemand an Kwiatkowskis Form zweifelte, so war die Konkurrenz doch von der Stärke und dem Selbstbewusstsein der polnischen Mannschaft überrascht. Obwohl mit vier Fahrern aus kleineren ProContinental-Teams angetreten, dominierte – und dafür gibt es kein anderes Wort – eine Phalanx von rot-weißen Fahrern den mittleren Abschnitt des Rennens. Als die vierköpfige Ausreißergruppe 155 Kilometer vor dem Ziel fast 15 Minuten herausgefahren hatte, setzten sich die Polen geballt an die Spitze des Feldes und fraßen sich gut zweieinhalb Stunden lang in den Vorsprung des Quartetts hinein. Ihre Tempoarbeit schien Australien und Spanien in die Karten zu spielen und warf einige Fragen auf. Auf seiner Website gab Przemysław Niemiec einige Tage die Antwort: „Ich habe gehört, dass man in Italien gemunkelt hat, wir seien gekauft worden. Im Finale kam die Wahrheit heraus.“ Das kam sie in der Tat, und Kwiatkowski, der schlummernd und beschützt und entspannt am Hinterrad seiner Teamkameraden gelegen hatte, ergriff die Chance und attackierte auf der Staudammmauer zwischen den beiden Anstiegen des Rundkurses.

 

Was kommt als Nächstes für Kwiatkowski? Es ist absolut verständlich, dass viele seine Zukunft in den großen Rundfahrten sehen, zumal er ein starker Zeitfahrer und solider Kletterer ist. Aber im Moment, wo der Hype am größten ist, spielt Kwiatkowski seine nächsten Schritte herunter. „Ich glaube nicht, dass jetzt der passende Zeitpunkt ist, um mich für eine Richtung zu entscheiden und nur ein Ziel zu haben, weil ich Erfahrung bei allen Arten von Rennen brauche“, erklärte er. „Ich lerne noch. Und schließlich könnte jemand sagen, dass ich nicht genug Erfahrung habe. Fürs Erste bleibe ich Allrounder. Im Laufe meiner Karriere werde ich mich entscheiden müssen, ob ich mich auf Rundfahrten oder Klassiker spezialisieren will. Wenn du wirklich etwas willst, musst du dich darauf konzentrieren.“ Dass er zögert, sich auf die Disziplin der großen Rundfahrten zu konzentrieren, und Eintages-Klassikern den Vorzug gibt, mag auch an einer enttäuschenden Tour in diesem Jahr liegen, die er nur auf dem 28. Platz beendete, nachdem er 2013 Elfter geworden war.
 
Zumindest 2015 dürfte Kwiatkowski ein ähnlich breites Spektrum abdecken wie ein anderes Supertalent des Jahrgangs 1990: Peter Sagan. Rückblickend ist der sonnige Nachmittag beim Strade Bianche ein Sinnbild für die Saison dieser beiden Fahrer. Als Michał Kwiatkowski sich an der steilen Rampe zur Fortezza Medicea von Sagan absetzte, war das wegweisend für das weitere Jahr. Am schärfsten war der Kontrast in Ponferrada: Sagan ging als einer der großen Favoriten ins Rennen, aber es war Kwiatkowski, der schließlich die Nase vorn hatte. Sagan landete auf dem 43. Platz. Seitdem ist die Debatte intensiver geworden, ob Kwiatkowski Sagan den Rang als bester Allrounder des Pelotons abgelaufen hat. Natürlich sind sie nicht deckungsgleich – Sagan ist immer noch der bessere Sprinter und Kwiatkowski der bessere Kletterer und Zeitfahrer –, aber die Schnittmengen sind groß genug, um Vergleiche zu ziehen und eine Geschichte, vielleicht eine Rivalität fortzusetzen, die bis in ihre Jugend zurückgeht. Bei der Friedensfahrt der Junioren 2008 gewann Kwiatkowski die Gesamtwertung, Sagan wurde Zweiter.
 
Natürlich ist es noch zu früh für ein endgültiges Urteil, wo diese beiden – in Bezug zueinander – eines Tages stehen werden. Bei Cannondale war Sagan in diesem Jahr durch ein schwaches Team und einen Mangel an taktischer Intelligenz gehandicapt – ein Problem, das durch seinen Wechsel zu Tinkoff-Saxo im nächsten Jahr abgestellt sein dürfte. Das heißt aber auch, dass die Bühne vorbereitet ist für einige große Kämpfe bei den Klassikern und selektiven Etappen. Während die beiden als Sportler ähnliche Charakteristika haben, weicht ihr privater Charakter doch deutlich voneinander ab. Wenn Sagan wild und ungezügelt ist, ist Kwiatkowski gelassen, mit der Art von ausgeglichener und ruhiger Zuversicht, die das Produkt von guter Selbstkenntnis und seinem Gefühl für seinen Platz in dieser Welt ist. Und er ist hilfsbereit und höflich: der Junge, der die Laptops und Telefone anderer Fahrer repariert, wenn sie den Geist aufgeben, der Fahrer, der bei sich zu Hause in Torún eine Radsportschule gegründet hat. „Michał lacht und albert zwar herum, aber nicht in den Tagen vor einem Rennen, da ist er ruhig und konzentriert“, sagt Kwiatkowskis Teamkollege und Landsmann Michał Golas, der ihn wahrscheinlich besser kennt als jeder andere im Profi-Peloton.
 
Die gelassene Art erstreckt sich auch auf seinen Stil als Kapitän. Als wir Kwiatkowski fragen, ob er die Kommandos gibt oder das lieber einem „Capitaine de route“ überlässt, entscheidet er sich für Letzteres. „In Ponferrada war Michał [Golas] der Road Captain. Ich konnte mich den ganzen Tag entspannen und musste den Jungs nichts sagen. Wenn es nötig ist, kann ich den Leuten die Anweisungen geben, aber ich bin entspannter, wenn ich nichts sagen muss. Ich glaube, sie wissen, was sie zu tun haben.“ Kwiatkowski weiß sicher auch, was er 2015 zu tun hat. Viele Weltmeister reden von der Verantwortung, dem Trikot Ehre zu machen, und dem Erbe, das es darstellt, aber Kwiatkowski weiß, dass er, indem er es für Polen gewonnen hat, die sportliche Leistungsfähigkeit seines Landes in der Welt vertritt. „Es ist eine große Ehre“, sagt er. „Ich weiß, dass ich mit dem Druck umgehen muss, dass ich jetzt den Radsport in Polen repräsentiere. Das muss ich so gut machen, wie ich kann. Ich muss mir einfach treu bleiben und darf nicht vergessen, wer ich bin oder wer ich war und was ich im Moment am besten kann. Und das ist Radfahren.“



Cover Procycling Ausgabe 130

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 130.

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