Der Aufstieg der Kolumbianer

Der kolumbianische Fahrer neuen Typs ist ganz anders als der reine Kletterer, wie er vor 25 Jahren auf Bergetappen glänzte. Bergauf so gefährlich wie immer, können die Südamerikaner nun auch zeitfahren, ein Trikot verteidigen – einfach alles. Wie kam diese Transformation zustande?

 

An den meisten Vormittagen wimmelt es auf allen Straßen im Osten von Medellín nur so von Radsportlern. Gerade an den Wochenenden sind hier Rennfahrer unterwegs, die sich die zweispurige Schnellstraße mit gewaltigen Lkw und donnernden Bussen teilen. Die am häufigsten genutzte Route aus der Stadt heraus führt bis auf eine Höhe von 2.550 Meter auf den Alto de las Palmas, das Tal dahinter liegt auf einer Höhe von 2.100 Metern. Für kolumbianische Verhältnisse ist das eher tief. Unter den unzähligen Sportlern sieht man Profis jeglicher Niveaus sowie komplette Nachwuchsteams, die in Zweierreihen hintereinander herfahren, gefolgt von ihrem Sportlichen Leiter. Die Leidenschaft des Landes für den Radsport ist absolut unbestreitbar. Natürlich fahren viele in den Osten, weil sie auf dem Weg in das extrem gebirgige Gelände sind, für das Kolumbien bekannt ist. Doch heutzutage sieht man auch immer mehr junge Fahrer von staatlich geförderten Nachwuchsteams auf ihren Zeitfahrmaschinen. Diese jungen Fahrer schwärmen aus auf der Suche nach flachen Straßenabschnitten, wo sie an ihrer Position auf dem Rad arbeiten und ihre Fähigkeiten gegen die Uhr testen können. Zeitfahrrad und Aerohelm – das hätte man von Fahrern aus diesem Land früher nie erwartet …
 
Kolumbien, 2. Juni 1989. Die Kommentatoren des größten kolumbianischen Radiosenders zählen bei einer Live-Übertragung vom Giro d’Italia aufgeregt die Sekunden. Gelegentlich formuliert einer die Frage, die sich ihre Zuhörer stellen: „Kann Lucho Herrera als erster Kolumbianer das Rosa Trikot tragen?“ Und vor allem fragen sie sich, nachdem er gerade die 207 Kilometer lange Etappe zu den Tre Cime di Lavaredo gewonnen hat: „Kann er das Trikot verteidigen und vielleicht sogar die italienische Landesrundfahrt gewinnen?“ Die Kommentatoren im spanischen Fernsehen waren zurückhaltender. Nüchtern erinnerten sie ihre Hörer daran, dass Herrera nur 13. der Gesamtwertung war – mit 3:26 Minuten Rückstand auf den Spitzenreiter. Im kolumbianischen Radio hingegen wurden euphorisch die Sekunden gezählt, die Herrera auf die Favoriten herausgefahren hatte. Dicker Nebel hüllte die Ziellinie so komplett ein, dass das italienische Fernsehen Grau in Grau zeigte, sodass alle nur raten konnten. Man wartete darauf, dass Laurent Fignon und Spitzenreiter Erik Breukink sich aus dem Nebel lösten. Der Abstand betrug 1:02 Minuten.
 
Herrera hatte die Etappe in großer Manier gewonnen, seinen Rivalen aber nicht annähernd genug Zeit abgenommen, obwohl er sein ganzes Herzblut in den „schwierigsten Anstieg, den ich je in meinem Leben gefahren bin“, gelegt hatte, wie er der kolumbianischen Zeitung El Tiempo am nächsten Tag sagte. Herrera trennten weiter zwei Minuten von Breukink und 22 Sekunden von Fignon. Als er alles aus sich herausgeholt hatte und das Klassement trotzdem nicht anführte, konnten die leicht erregbaren und parteiischen Kommentatoren ihre Enttäuschung kaum verbergen. Niedergeschlagen spekulierten sie, was hätte sein können, stellten ihn als tapferen Underdog dar, übersahen dabei aber einen wichtigen Punkt: Herrera hatte zwar die 13. Etappe gewonnen, doch das restliche Rennen umfasste vier Flachetappen und ein schweres 53-km-Zeitfahren. Wie hätte er – der Archetyp des reinen kolumbianischen Kletterers – das Trikot auf diesen Etappen je verteidigen können? Das war ein bisschen viel verlangt, selbst vom Sieger der Vuelta 1987. Wie sich her-ausstellte, erreichte Herrera beim Giro 1989 nicht einmal einen Top-Ten-Platz und hatte am Ende acht Minuten Rückstand auf den Sieger Fignon.
 
Im Nachhinein zeugt die zu kurz gekommene Erörterung von Herreras Rundfahrt-Potenzial durch die Experten sowohl von der Überheblichkeit der kolumbianischen Presse als auch vom Unvermögen, einzusehen, dass selbst die besten Fahrer des Landes als Athleten einfach nicht komplett genug waren, um eine große Rundfahrt zu gewinnen. Auf der anderen Seite waren Herreras Leistungen sicherlich ein Weckruf für den Rest der Welt. Europäische Teams fingen an, Kolumbianer unter Vertrag zu nehmen – als Domestiken und Etappenjäger in den Bergen. Wie Pacho Rodríguez, Dritter der Vuelta 1985, betont, gingen die Kolumbianer damals anders an den Sport heran: „Bevor wir nach Europa gingen, hatten wir keine Erfahrung mit langen, flachen Etappen. Seitenwind und Windstaffeln waren Fremdwörter für uns, und auf Zeitfahren bereiteten wir uns nicht groß vor. Wir galten als reine Kletterer, weil wir genau das waren. Aber das hieß, dass wir bei Rennen in Europa wirklich litten.“
 
Daheim in Kolumbien taten externe Faktoren ein Übriges. Die Sponsoren zogen sich zurück, als das Land Anfang der 90er-Jahre eine Wirtschaftskrise erlebte. Ein Problem war, dass die Kaffeepreise um 60 Prozent fielen, als das Internationale Kaffee-Abkommen auslief. Der Getränkehersteller Postobón wandte sich vom Radsport ab und konzentrierte sich stattdessen auf Fußball, zumal sich Kolumbien zum ersten Mal seit 28 Jahren für die Weltmeisterschaft qualifiziert hatte. Wie der kolumbianische Journalist und Kommentator Hector Urrego es ausdrückt, wurde das Land „fußballisiert“ und der Radsport an den Rand gedrängt. Diese Umbrüche koinzidierten mit dem Beginn der Ära Indurain, mit der Betonung auf Zeitfahren und dem entsprechenden teuren Material. Kolumbianische Profis hatten kaum Gelegenheit, Erfahrung im Zeitfahren zu sammeln, und es sollte noch lange dauern, bis sich das änderte.
 
Ganz im Gegensatz zu diesen schweren Zeiten war 2014 bisher ein erstaunliches Jahr für das südamerikanische Land. Das Highlight waren die drei Kolumbianer auf dem Podium des Giro in Triest. Rigoberto Urán wiederholte seinen zweiten Platz von 2013, Nairo Quintana gewann die Gesamtwertung (nach seinem zweiten Rang bei der Tour de France 2013) und Julián Arredondo holte das Bergtrikot. Dabei erwiesen sich Urán und Quintana als echte Klassementfahrer, weit entfernt von den Zeiten, als die Teams Café de Colombia und Postobón sich auf Flachetappen und bei Zeitfahren enorme Rückstände einhandelten. Selbst wenn die diesjährige Strecke die Kletterer begünstigte, schmälert das kaum die beträchtlichen Unterschiede bei den Kolumbianern seit den Zeiten von Lucho Herrera. Obendrein eroberten sowohl Urán als auch Quintana das Trikot unter Umständen, die bemerkenswert sind, wenn man sie im größeren Kontext des kolumbianischen Radsports betrachtet.
 
Uráns viertägiges Intermezzo im Rosa Trikot begann mit seinem Sieg auf der 12. Etappe, einem Zeitfahren. Obwohl der Kurs sehr wellig war, musste der 27 Jahre alte Fahrer sein ganzes Zeitfahr-Training in die Waagschale werfen, das er im Winter absolviert hatte, darunter unzählige Runden im Velodrom von Medellín und viele Stunden im neuen Windkanal von Specialized in Kalifornien. Wie Urán auf der Pressekonferenz nach dem Rennen sagte, war es ein Sieg, der aus einer Vor-bereitung und einer Konzentration erwuchs, wie sie kolumbianischen Fahrern vorher nie zuteil wurde. „Wir haben hart für dieses Zeitfahren gearbeitet. Ich war schon zweimal hier … alles war auf den Giro ausgerichtet.“ Es sei auch festgestellt, dass Urán in einer idealen Ausgangsposition war, um auf der 12. Etappe ins Leadertrikot zu schlüpfen – dank einer sehr starken Leistung im Mannschaftszeitfahren auf der 1. Etappe.
 
Wie Urán ging Quintana beim Giro unter Bedingungen in Führung, die man von kolumbianischen Radsportlern nicht erwartet hätte. Auf der 16. Etappe distanzierte er die anderen Favoriten bei Schnee und Regen auf einer gefährlichen Abfahrt. Man kann weiter diskutieren, ob Quintana hätte attackieren sollen oder nicht, da das Rennen angeblich neutralisiert war (oder auch nicht), aber indem er das Trikot eroberte und es verteidigte (sowohl auf der Straße als auch gegenüber der Presse), bewies er, dass er die mentale Stärke hat, mit den schweren Fragen umzugehen, die die Spitzenreiterrolle bei einer großen Rundfahrt mit sich bringt. Vor allem hat er das Image der kolumbianischen Fahrer neu definiert. Was uns zu der Frage bringt, wie es dazu kam. Wie konnte ein Land, das einst für seine reinen Kletterer bekannt war, beim Giro einen fantastischen Doppelsieg abliefern?

 

Wir sind wieder auf diesen Straßen, die aus Medellín herausführen, mit Indeportes Antioquia, dem Nachwuchsteam, bei dem Rigoberto Urán und Carlos Betancur ihr Handwerk gelernt haben. Die Fahrer auf ihren Zeitfahrmaschinen in den Bergen von Antioquia zu sehen, vermittelt eine sehr klare Botschaft: Die kolumbianischen Fahrer wissen jetzt, dass sie mit Kletterkünsten alleine nicht in der Weltspitze des Radsports ankommen. Das ist eine Lektion, die Daniel Jaramillo, ein vielversprechender kolumbianischer Fahrer im in den USA ansässigen Team Jamis-Hagens Berman, bei einem seiner ersten Rennen außerhalb Kolumbiens gelernt hat. Im Frühjahr trug er bei der Tour of the Gila das Spitzenreitertrikot, verlor es aber im Zeitfahren. Er seufzt, wenn er daran erinnert wird. „In diesem Jahr habe ich nur zweimal auf einer Zeitfahrmaschine gesessen – bei Rennen. Daran muss ich arbeiten. Jetzt weiß ich, dass ich eine Zeitfahrmaschine mit nach Hause nehmen muss.“
 
2006 unter dem Namen Colombia es Pasión gegründet, ist 4-72 Colombia das Team, wo junge Fahrer wie Nairo Quintana, Sergio Henao, Esteban Chaves, Darwin Atapuma, Fabio Duarte und Jarlinson Pantano heranreiften, bevor sie den Sprung nach Europa schafften. Seit seiner Gründung sollte das Team anders funktionieren als andere in Kolumbien. Das umfasste das Konzept, komplettere Fahrer auszubilden, statt einfach nur ihre Fähigkeiten auf der Straße zu fördern. Wie Luisa Fernanda Ríos, Teamchefin von 4-72 Colombia, erklärt: „Von Anfang an wurde dieses Team gegründet, um ein neues Kapitel in der Geschichte des kolumbianischen Radsports zu schreiben, statt nur auf die Errungenschaften von Männern wie Lucho Herrera und Fabio Parra zurückzublicken. Wir wissen, dass sich der Sport seitdem sehr verändert hat. Wir würden unseren Fahrern keinen Gefallen tun, wenn wir sie nicht entsprechend vorbereiten würden.“ Luis Fernando Saldarriaga, der Sportliche Leiter des Teams, erklärt ihre Philosophie: „Wir wissen, dass unsere Fahrer starke Kletterer sind, das ist fast selbstverständlich. Also arbeiten wir an den Aspekten, mit denen sie Schwierigkeiten haben werden, wenn sie in Europa Rennen fahren. Schnelle Flachetappen, Seitenwind, Windstaffeln und Zeitfahren. Das sind wesentliche Lektionen, die wir sie gelehrt haben, seit Nairo bei uns war. Unser Ziel ist, gute Allrounder auszubilden, die unter allen Bedingungen fahren können, wissen, wie man trainiert, wie man sich ernährt und wie man auf der Straße Entscheidungen trifft.“
 
Der Italiener Marco Pinotti, der seine Karriere vor Kurzem beendet hat und jetzt bei BMC als Trainer arbeitet, sieht es ähnlich wie Saldarriaga. Er trainiert gerade den früheren 4-72-Colombia-Fahrer Darwin Atapuma. „Ich finde, er ist sehr reif und weiß, was erforderlich ist, um ein konkurrenzfähiger Fahrer zu sein. Ich hätte nicht erwartet, dass er sich so gut auskennt, ich brauchte seine Ernährung oder sein Training also nicht zu kommentieren oder zu korrigieren.“ In den Augen der Leute, die bei 4-72 Colombia arbeiten, beweisen Pinottis Kommentare neben Quintanas Erfolg in Europa, dass ihre Herangehensweise die richtige ist. Dazu zählt auch, sich um die mentalen und intellektuellen Komponenten zu kümmern. Saldarriaga erklärt: „Wir entdecken und identifizieren Aspekte der Persönlichkeit eines Fahrers, an denen wir arbeiten wollen, und wir haben einen Sportpsychologen engagiert, um ihnen zu helfen.“
 
Mit ähnlichen Methoden hatte das Team Quintana früh als potenziellen Kapitän ausgemacht. „Wir arbeiteten an seiner geistigen Schärfe, seiner Fähigkeit, im Rennen schnelle Entscheidungen zu treffen, und auch daran, ihn dazu zu bringen, frei seine Meinung zu sagen. Wir wollen sichergehen, dass er fähig ist, Entscheidungen zu treffen und diese anschließend selbstbewusst zu vertreten“, sagt Saldarriaga. Das Team bereitet die Fahrer auch auf andere Aspekte des europäischen Radsports vor, wie Teamchefin Ríos erklärt: „Europa sollte kein Schock für sie sein. Wir helfen ihnen, sich sicher zu fühlen und sich nicht von europäischen Fahrern einschüchtern zu lassen, die vielleicht viel größer als sie sind.“ Auch wenn sich dieser letzte Punkt ungewöhnlich anhört, ist das etwas, worauf Quintana in der Vergangenheit hingewiesen hat. In einem Interview mit der kolumbianischen Website Solo Ciclismo, das er nach seinem Sieg bei der Tour de l’Avenir 2010 gab, sagte er: „Wir hatten während des Rennens Probleme mit den Franzosen, den Australiern und einigen Amerikanern, aber wir haben uns nie erniedrigen lassen, wie sie es gerne gewollt hätten. Sie wollten nicht, dass wir an der Spitze des Pelotons fahren, sie bremsten uns aus, sie schrien uns an, behandelten uns schlecht, aber wir haben ihnen die Stirn geboten und es ihnen zurückgezahlt. Wir sind nicht nur aus einem kleinen Land, sondern auch körperlich kleiner. Damit sind wir im Nachteil gegenüber Leuten, die viel größer sind und – als ob das nicht reichen würde – auch noch Rassisten sein können.“
 
Es scheint, als habe Quintana von diesem Ansatz profitiert, obwohl man nicht sagen kann, wie sehr das zu seinem Giro-Sieg beigetragen hat. Aber was ist mit Rigoberto Uráns Aufstieg zu einer ebenso großen Rundfahrer-Hoffnung? Wie Ríos es sieht, hat Urán dieselben Lektionen gelernt, aber auf eine andere, härtere Art. Als er mit 19 nach Italien zog, um für das Tenax-Team zu fahren, wuchs er zu einem vielseitigen Profi heran – ohne den Kulturschock, den kolumbianische Fahrer erleben, wenn sie später im Leben nach Europa gehen. Aber die gelernten Lektionen und in gewissem Maße die Resultate, die diese zeitigen, sind praktisch dieselben. „Der Radsport ist eine globale Sportart“, sagt Saldarriaga, „er wächst und ändert sich. Man kann nur Erfolg haben, wenn man sich dieser Veränderungen bewusst ist – in Sachen Wissenschaft, Technologie und Trainingsmethodik – und gleichzeitig erkennt, dass ein wirklich erfolgreicher Rennfahrer ein kompletter ist.“ Diese Philosophie begeistert Pacho Rodríguez, einen der ursprünglichen kolumbianischen Kletterer aus den 1980ern. „In Kolumbien wird unser Körperbau und die Höhe, in der wir leben, uns als Kletterer weiter begünstigen“, sagt er. „Aber die Vorstellung davon, was ein kolumbianischer Rennfahrer sein kann, wächst jeden Tag.“ Heute können sich die leicht erregbaren Radio-Kommentatoren also vielleicht anfangen zu fragen: „Was kommt als Nächstes?“



Cover Procycling Ausgabe 126

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 126.

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