Die Zeitmaschine

Tony Martin ist bereits dreifacher Zeitfahr-Weltmeister. Was kann jetzt noch kommen außer einer Wiederholung dieses Erfolges?

 

Seltsam, aber wahr: Er mag der beste Zeitfahrer auf dem Planeten sein, aber das einprägsamste Bild, das die internationale Radsport-Welt von Tony Martin hat, kommt von einem Rennen, das er verlor. Es passierte auf der 6. Etappe der Vuelta a España 2013, als Martins 175-Kilometer-Solo damit endete, dass der 28 Jahre alte Deutsche praktisch auf der Ziellinie in Cáceres abgefangen wurde. Wenn je ein couragierter Angriff ein echtes Hollywood-Blockbuster-Ende verdiente, dann dieser.

Wenige Wochen später tauchte Martin erneut auf dem Radar der Radsport-Fans auf, als er sich mit einer ebenso beeindruckenden Leistung seinen dritten Weltmeistertitel in Serie sicherte. Doch dass er Fabian Cancellara und Bradley Wiggins auf der komplett flachen Strecke nach Florenz hinter sich ließ, dürfte die nicht deutschen Fernsehzuschauer weit weniger in Atem gehalten haben. So wird das heroisch verlorene Rennen besser im Gedächtnis bleiben als das, das er so ungefährdet gewann. Die Welle der Unterstützung und Bewunderung, die Martin sich an diesem sengend heißen Tag in Spanien verdiente, war beispiellos für ihn, und das nicht nur, weil Zeitfahren, seine stärkste Disziplin, nicht immer die attraktivste Veranstaltung für die Zuschauer ist. Sondern auch, weil Martin auf den ersten Blick reserviert und emotionslos an den Radsport heranzugehen scheint. Die internationalen Medien wollen gar eine „typisch deutsche“ Art bei ihm bemerkt haben und unter Journalisten gilt er als „schwieriger“ Interviewpartner. Brian Holm, einer seiner Sportlichen Leiter bei Omega Pharma – Quick-Step, sagte einmal gegenüber Procycling: „Er ist nicht gerade Eddy Murphy.“ Holm verpasste Martin auch den Spitznamen „Panzerwagen“, was nicht gerade nach Stimmungskanone klingt – doch dann erfährt man, dass Martin diesen Spitznamen als Kompliment auffasst. Aber ist das Bild von Martin als roboterhafter Zeitfahr-Spezialist angesichts des emotional aufgeladenen Angriffs bei der Vuelta überhaupt das richtige? Und wenn es so falsch ist, den Fahrer in eine Schublade zu stecken, gibt ihm das den Spielraum, um seine Karriere in den nächsten Jahren neu zu definieren?
 
Ein schwieriger Interviewpartner? Im Gegenteil – im Gespräch mit Procycling erweist sich Martin als offen und auskunftsfreudig. Er neigt zwar nicht zu den mäandernden Monologen, die seinen Zeitfahr-Rivalen Fabian Cancellara zu einer ganz anderen Herausforderung machen, aber Martin ist um klare und interessante Antworten nicht verlegen. Selbst eines seiner kürzesten Statements offenbart ein ungeahntes Maß an Ambitionen – auf unsere Frage, wie viele Zeitfahr-Weltmeistertitel er noch holen will, sagt er prompt: „Zwischen fünf und zehn.“ Da das heißen würde, dass Martin jedes Jahr im September dasselbe Rennen gewinnen würde, bis er 35 Jahre alt ist, mangelt es ihm augenscheinlich nicht an Visionen. Und als wäre es noch nicht genug, gegen die Uhr ein Jahrzehnt lang der Maßstab zu sein, offenbart der gebürtige Cottbuser noch weitere Ziele. „Natürlich ist das meine stärkste Disziplin, aber ich bin vielseitiger“, betont er. „Ich habe bei Paris – Nizza gezeigt, dass ich mit den besten Kletterern mithalten kann.“ Was Nicht-Zeitfahrsiege angeht, so hat Martin die Volta ao Algarve, die Tour of Beijing und die Belgien-Rundfahrt je zweimal in seinem Palmarès stehen. Und nicht zu vergessen sein Sieg bei einem sehr schweren Hel van het Mergelland 2008 in Holland. Nachdem er attackiert und sich mit Adam Hansen, seinem Colombia-Teamkollegen, abgesetzt hatte, hatte Hansen einen Defekt, aber Martin wartete auf ihn. Die beiden setzten ihren Angriff fort und fuhren einem Sieg entgegen, der alles andere als klinisch und kalkuliert war.
 
Von großen Rundfahrten träumt er jedoch nicht. „Ich bin ziemlich groß, aber ich muss realistisch sein und akzeptieren, dass das Hochgebirge nichts für mich ist. Ich bleibe lieber bei dem, was ich am besten kann. Ich habe schon ein paar gute Resultate bei Rundfahrten und die Gesamtwertung bei kleineren Rennen bleibt ein großes Ziel für mich.“ Oft mit dem jungen Jan Ullrich verglichen, scheint der „Panzerwagen“ nicht den Reifenspuren des „Kaisers“ folgen und eine dreiwöchige Rundfahrt gewinnen zu wollen, „obwohl Ullrich ein Idol von mir war“, wie Martin sich zu betonen beeilt. „Ich weiß noch, wie ich vor dem Fernseher gesessen bin und ihn angefeuert habe. Und egal, was die Leute sagen, er ist ein guter Kerl.“ Auch auf die Kopfsteinpflaster-Klassiker will er sich nicht verlegen, wie es Fabian Cancellara, der als junger Fahrer zu Unrecht als reiner Zeitfahrer bezeichnet wurde, getan hat. „Vielleicht macht es dieses Mal klick, wenn wir bei der Tour über Kopfsteinpflaster fahren, aber als ich das letzte Mal auf dem Pavé fuhr, bin ich gestürzt, deswegen bin ich nicht allzu optimistisch“, sagt er. „Kürzere Etappenrennen liegen mir besser, ehrlich gesagt. Sie sind meine Leidenschaft. Bei einem Rennen wie der Vuelta würdest du mit diesen wirklich steilen Anstiegen zurechtkommen, wenn du 50 Kilo wiegst, aber das ist bei mir nicht der Fall. Im Moment konzentriere ich mich lieber auf Tirreno – Adriatico oder die Vuelta al País Vasco.“ Und das mit Erfolg, wie seine mutige Attacke auf der zweiten Etappe der Baskenland-Rundfahrt zeigte – ein souveräner Sieg nach einer Soloflucht über elf Kilometer. Außerdem gibt es da noch den Stundenweltrekord, sagt er, aber „das ist mittelfristig“.
 
Es mangelt Martin nicht an Selbstbewusstsein, egal, um welches Ziel es geht. Die Prüfungen gegen die Uhr langweilen ihn nicht, denn „wenn ich sie fahre, gewinne ich sie normalerweise. Auf den vorausgehenden Etappen habe ich in den Anstiegen gelitten und andere Fahrer haben mich abgehängt, dann ist diese Zeitfahr-Etappe etwas Besonderes, weil ich dann vorne liege. Dann stehe ich auf dem Podium, das bin ich zu 100 Prozent. Ich habe so viel auf der Zeitfahrmaschine trainiert, es ist ein unglaubliches Gefühl, 50 oder 60 Kilometer Vollgas geben zu können. Und dann hast du das Geräusch vom Scheibenrad – das ist etwas Besonderes. Ich mag das sehr.“ Außer, dass er das surrende Geräusch seiner Laufräder nicht lästig findet, sondern es liebt, hat Martin auch die Leidensfähigkeit, die er als Zeitfahrer braucht. So, wie er es sieht, sind die Strapazen auch ein Verbündeter, kein Feind, wenn es darum geht, ein Rennen zu gewinnen.
 
„Alle Radsportler sind Schmerzen gewöhnt. Als Zeitfahrer musst du anders damit umgehen können, weil du es nicht aus- und einschalten kannst. Bei einem Straßenrennen hast du immer jemanden vor dir und weißt, wenn du etwas langsamer wirst, verlierst du den Kontakt und das war’s. Aber beim Zeitfahren funktioniert es vielleicht trotzdem. Es hat keinen Sinn, wenn du total in den roten Bereich gehst und nach zehn Kilometern erledigt bist und dir das Laktat bis hier steht“ – er deutet mit der Hand auf die Höhe der Augen –, „es geht darum, es zu kontrollieren und bereit zu sein, so weit zu gehen und vielleicht nicht weiter. Ich glaube, es liegt an meinem Charakter. Es hört sich hart an, aber ich kann nicht in den Spiegel schauen, wenn ich bei einem Zeitfahren nicht alles gegeben habe. Es ist meine Leidenschaft, aber auch mein Job.“ Die Fernsehbilder zeigen ausnahmslos einen Martin, der so ausgepowert ins Ziel kommt, dass er sich nach jedem Zeitfahren auf den Boden plumpsen lässt und mehrere Minuten liegen bleibt. „Die Siege, die mir am meisten bedeuten, sind die bei der Weltmeisterschaft, aber wenn du mich fragst, bei welchem ich am meisten gelitten habe, würde ich sagen, bei allen“, sagt er. „Du gibst immer 100 Prozent. Okay, vielleicht lässt du etwas ruhiger angehen oder spürst die Schmerzen nicht mehr, wenn du eine Minute Vorsprung hast, aber Zeitfahren ist immer reines Leiden – die ganze Zeit. Vielleicht sind es die Rennen, die ich nicht gewonnen habe, wo ich das Gefühl habe, am meisten gelitten zu haben. Du merkst schon auf dem ersten Meter, dass es nicht richtig läuft, aber du hast noch eine Stunde vor dir. Das tut mehr weh, als wenn du die Zwischenzeiten hörst und feststellst, dass alles nach Plan läuft.“ Aber während der Umgang mit Schmerzen zum Job gehört, sind Verletzungen nie Teil des Plans. Nach einem schweren Sturz auf der 1. Etappe der Tour 2013 verlor er hinter der Ziellinie das Bewusstsein und wurde auf einer Bahre ins Krankenhaus gebracht. Als er das Rennen mit sichtbaren Rückenverletzungen und Hautabschürfungen fortsetzte und auf die Zähne biss, konnte man ihm nur die Daumen drücken. Martin hat dieselbe mentale Schmerzkontrolle bei der Tour angewandt, obwohl es diesmal auf einer anderen Ebene war. „Natürlich fragst du dich, warum ich? Warum musste ich stürzen? Ich war enttäuscht, weil ich so viele Pläne für die Tour hatte und es nicht hinnehmen wollte, dass alles wegen eines einzigen Sturzes in Rauch aufgeht.“

 

„Obwohl das Team sagte, dass ich jederzeit aussteigen kann, bin ich mir sicher: Wenn ich aufgegeben und mir den Rest der Tour im Fernsehen angeschaut hätte, hätte ich mich für diese Entscheidung gehasst. Ich musste es weiter versuchen, und natürlich wäre ich ausgestiegen, wenn ich meine Gesundheit damit aufs Spiel gesetzt hätte, aber ich wollte das Rennen fortsetzen. Ich wollte unbedingt bis zum Zeitfahren durchhalten, doch ich wusste auch, dass das Team mich braucht. Irgendwie ging es. Warum also nicht weitermachen?“ Martin gewann das Zeitfahren zum Mont-Saint-Michel vor Chris Froome und hat damit nun weit über 30 Erfolge zu Buche stehen, nachdem er seinen ersten Sieg als 20 Jahre alter Gerolsteiner-Stagiaire bei der Regio Tour 2005 gelandet hatte. „Damit hätte niemand gerechnet“, bemerkt er. Gerolsteiner bot ihm noch am gleichen Abend einen Vertrag an, doch er blieb lieber Amateur und hoffte, dass T-Mobile (zu dem Zeitpunkt schon Columbia) ihn zwei Jahre später kontaktieren würde. Was auch passierte.
 
Wenn Martin es in seiner Karriere auf insgesamt zehn Zeitfahr-Weltmeistertitel bringen will, darf er sich für den Rest seiner Profi-Laufbahn nicht mit Silber begnügen. „Ich muss realistisch sein“, sagt er. „Wenn der WM-Kurs schwer ist, ist er besser für Froome oder Wiggins, aber wenn er flach oder nur ein bisschen hügelig ist, habe ich immer eine Chance. Und ich will um diesen Titel kämpfen. Zähl’ doch mal, wie viele möglich sind. Fünf ist realistisch, sieben oder acht sind möglich .“ Bis er sein Ziel von zehn Titeln erreicht hat, wird dieser Sieg, den er bei der Vuelta nicht erreichte, ihm die meisten Fans eingebracht haben. „Ich habe Mitteilungen aus aller Welt bekommen. Sie sagten: ‚Danke, dass du uns einen so großartigen Tag beschert hast.‘ Du nimmst das als Fahrer nicht so wahr, deswegen war diese Anerkennung toll. Ich hatte gehofft, dass das Peloton es locker angehen lässt und ich vielleicht zehn oder zwölf Minuten rausfahren kann. Aber als noch 25 oder 30 Kilometer zu fahren waren und ich nur noch 40 Sekunden Vorsprung hatte, dachte ich, jetzt ist alles vorbei. Doch ich war nun mal den ganzen Tag vor dem Feld hergefahren und musste es weiter versuchen. Auf den letzten drei Kilometern habe ich es mir noch einmal anders überlegt und gedacht, dass ich vielleicht doch noch eine Chance habe. 500 Meter vor dem Ziel dachte ich, ich habe eine große, große Chance, aber dann ging es noch ein bisschen bergauf. Ich war nachher wirklich enttäuscht, aber viele Fahrer, nicht nur von meinem eigenen Team, kamen zu mir und sagten mir, wie gut ich gefahren sei. Da begriff ich es. Dann hörte ich das mit Cancellara [dass er bei der Verfolgung Tempo gemacht hatte] und dachte: Okay, bei der Weltmeisterschaft wird er dafür bezahlen. Aber ich war nicht wirklich traurig. Ich wusste, dass die Bedingungen gut gewesen waren, dass es viele zufriedene Fans gegeben hatte und dass der Weg zur Weltmeisterschaft klar war. Ich fühlte mich als moralischer Sieger.“
 
Es geht also nicht immer um Berechnung. Martin gewann die Peking-Rundfahrt 2012 mit einer Attacke, die einige Ähnlichkeit mit der bei der Vuelta hatte: Er setzte sich 25 Kilometer vor dem Ziel ab und fuhr allen auf und davon. „Ich mag es, mich nicht an die Regeln zu halten. Wenn alle mit einem Massensprint rechnen, versuche ich, etwas anderes zu machen. Vielleicht geht es zehnmal schief, aber das sind die Dinge, die den Leuten in Erinnerung bleiben. Es hebt deine Moral. Für mich war es wie ein Sieg.“ Martin wertet Cancellaras Konter als „Zeichen der Angst“, dass Martin ihm vor der Weltmeisterschaft eins auswischen könnte. „Aus welchem anderen Grund solltest du 350 Meter vor der Linie den Sprint eröffnen?“ Wenn Zeitfahren so formelhaft ist, hat die Vorstellung, dass Martin sich hin und wieder nicht ans Drehbuch hält, ihren Reiz, aber wenn es um den psychologischen Motor geht, der die Räder des Panzerwagens am Laufen hält, so ist die einzige Motivation, die er braucht, sein ständiges Streben nach Selbstverbesserung. „Ich weiß nicht, ob ich die Kraft in meinen Beinen verbessern kann, aber mental kann ich noch stärker werden“, sagt er. „Das habe ich schon festgestellt, als ich 2011 zum ersten Mal Zeitfahr-Weltmeister wurde, und jedes Jahr finde ich Möglichkeiten, besser an die Rennen heranzugehen und mich noch mehr zu konzentrieren. Auch beim Material gibt es noch Potenzial für Verbesserungen. Ich bin schon auf einem sehr hohen Niveau, aber ein paar Prozentpunkte kann ich noch herausholen. Ich muss das glauben, sonst ginge meine Moral verloren.“
 
Seine Zeitfahr-Konkurrenten sollten sich also darauf gefasst machen, dass er ihnen das Leben mindestens noch ein paar Jahre schwer machen wird. Und während das WM-Zeitfahren sein größtes Ziel für 2014 ist, denkt Martin schon an Rio de Janeiro 2016, wo er nicht nur olympisches Gold gewinnen, sondern die Fans hierzulande auch wieder für den Radsport begeistern will. Diese Herausforderung muss, nach Jan Ullrich, noch gelöst werden.



Cover Procycling Ausgabe 123

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 123.

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