Ein dankbarer Kannibale

Vor der Klassikersaison 2014 galt es als ausgemachte Sache, dass Peter Sagan nun den Radsport-Olymp erklimmen würde. Zwar verpasste er erneut sowohl bei Mailand – San Remo als auch bei der Flandern-Rundfahrt seinen ersten Sieg bei einem Monument, doch ein solcher dürfte nur eine Frage der Zeit sein.

 

Seit seinem sensationellen Durchbruch bei Paris – Nizza vor vier Jahren wird dem Slowaken zugetraut, jedes Rennen auf dem Kalender zu gewinnen, und wie Procycling feststellte, dürften die Ergebnisse dieses Frühjahrs an seiner glänzenden Zukunft nichts ändern. Erst 24, zerbricht sich Sagan nicht den Kopf über das, was noch kommt: „Wenn man vorher weiß, was passiert, gibt es keine Überraschungen mehr und es macht keinen Spaß.“ Wir trafen ihn in der Toskana, wo er sich darauf vorbereitete, auf dem Kopfsteinpflaster in den Kampf zu ziehen. Für das einstige Liquigas-Team war es der Augenblick, der alles veränderte. Jeder hier weiß noch, wo er war, als ein 20 Jahre alter Neuprofi namens Peter Sagan seine zweite Etappe bei seinem ersten Paris – Nizza gewann – mit der Unbekümmertheit eines Jungen, der nach der Schule durch den Park radelt. Der Pole Maciej Bodnar, der sich einige Wochen zuvor das Schlüsselbein gebrochen hatte und rekonvaleszierend zu Hause saß, erinnert sich, dass ihm das PlayStation-Steuerteil, das er in der Hand hielt, scheppernd auf den Boden fiel. In Italien, bei Tirreno – Adriatico, erklärte der Pressesprecher des Teams, Paolo Barbieri, den Journalisten, sie würden einen campioncino, einen „kleinen Champion“, in den Händen halten, obwohl er nicht ganz sicher war, ob es nur ein Glückstreffer war. Nach dem ersten Schock und Jubel konnte der Sportdirektor des Teams in Frankreich, Mario Scirea, nur noch lachen, als er auf dem Rückweg zum Hotel grüßend in Richtung eines ASO-Autos nickte, das gerade auf ihrer Höhe fuhr. Er fragte Sagan, ob er den Beifahrer erkennen würde, woraufhin dieser ausdruckslos den Kopf schüttelte. Es war Bernard Hinault …

Was Sagan selbst angeht – nun, er schien damals fast so unaufgeregt zu sein wie heute. Bei einem Kräutertee beim viertätigen Trainingslager in Riotorto Vignale in der Toskana in der Woche vor Tirreno – Adriatico scheint die Erkenntnis, dass sein Durchbruch genau vier Jahre her ist, keine Anflüge von Sentimentalität auszulösen. „Ich bin nicht der Typ, der groß über so was nachdenkt“, grunzt er. Seit er vor 20 Minuten vorsichtig einen Stuhl herangezogen hat, ist ziemlich klar, dass Sagan sich diesem Interview so nähert, wie die meisten von uns an eine Wurzelbehandlung herangehen würden, aber er will auch nicht unhöflich wirken. Sobald er seine eigene Frostigkeit spürt, bricht er das Eis mit einem Lächeln, einem Witz oder einem nasalen Kichern. „Sagen wir mal so“, grinst er jetzt, „wenn ich vor vier Jahren gewusst hätte, dass ich jetzt hier sitzen und in einem Interview über meinen ‚großen Durchbruch‘ reden würde, wäre ich ziemlich zufrieden gewesen.“
 
Foto-Shootings, Interviews und mehr Aufmerksamkeit gehen natürlich einher mit Sagans neuem Superstar-Status. Der 24-Jährige ist kein übersprudelnder Redner und betrachtet Medien-Verpflichtungen offensichtlich als notwendiges Übel. „Aber er hat kein einziges Mal ‚nein‘ zu mir gesagt“, betont Paolo Barbieri, der Pressesprecher von Cannondale. Fragen Sie irgendjemanden im Team oder der Entourage des Slowaken und Sie werden dasselbe hören. Sportdirektor Stefano Zanatta erzählt uns beim Frühstück am zweiten Tag in der Toskana, dass Sagan ihn seit 2010 dauernd überrascht hat, und zwar nicht nur auf dem Rad: „Die großen Qualitäten, die die Leute nicht sehen, sind seine Manieren und sein Respekt vor anderen Menschen. Wenn er mich anruft und eine Bitte hat, sagt er immer: ,Darf ich?‘ Und: ,Grazie.‘ Selbst bei einem Rennen – 30 Kilometer vor dem Ziel, wenn er am Anschlag fährt und ich ihm einen Energieriegel aus dem Autofenster reiche – vergisst er nie, sich zu bedanken. Daran sehe ich, dass das tief in ihm verwurzelt ist. Das ist etwas besonders Schönes an der Arbeit mit Peter: zu sehen, dass er sich diese guten, soliden Werte bewahrt hat, trotz seines Images als Draufgänger.“
 
Die beiden Seiten von Sagan mögen wie ein Widerspruch klingen – das höfliche Mauerblümchen und der in Pobacken kneifende Hallodri –, doch sie haben irgendwie einen Weg gefunden zu koexistieren. Unser Foto-Shooting in einem Konferenzzimmer im ersten Stock des Hotels ist ein aufschlussreicher Schnappschuss. Nachdem er brav in unser behelfsmäßiges Studio getrottet ist und sich seine Rennfahrer-Kluft angezogen hat, beginnt Sagan eine unglaubliche Metamorphose. Seine Interpretation der Hulk-Rolle entsprechend den Anweisungen unseres Fotografen ist mindestens so überzeugend und engagiert wie alles, was Ed Norton in der jüngsten Hollywood-Adaption zu bieten hatte. Vielleicht sollten wir nicht überrascht sein: Sagan nahm vorübergehend Schauspielunterricht, als er elf war.
 
Die Hulk-Masche kam natürlich zustande, weil Sagans sportliche Darbietungen etwas Heroisches und Comicmäßiges haben – eine Qualität, die er eifrig kultiviert. Fragen Sie Hinault – wieder der – nach dem Geheimnis seines Erfolgs in den 1970ern und 80ern, und er wird Ihnen erzählen, dass der Radsport für ihn vor allem ein Spiel war: „Wenn du zu spielen verstehst, kannst du fantastische Dinge machen. Nichts kann das schlagen“, sagte uns der „Dachs“ einmal. Sagan teilt diese Einstellung offensichtlich. Sie erklärt seine Art, seine Siege zu zelebrieren, die einige Rivalen als Spott missdeuten: vom Rad zu steigen, als er 2008 die Ziellinie der Cross-Europameisterschaft erreichte, sich umzudrehen und zu schauen, wo der zweite Fahrer bleibt, oder seine Hulk-Verkörperung in Boulogne-sur-Mer bei der Tour de France 2012. Und es zeigt sich auch, als wir das Thema im Interview anschneiden. „Der Radsport ist ein Spiel, oder nicht?“, sagt er schulterzuckend. „Es ist nur hart, wenn du im Anstieg nicht mit dem Feld mithalten kannst und kämpfst, um in der Karenzzeit zu bleiben. Dann denkst du, dass es ein harter Job ist. Aber selbst dann kommst du ins Hotel, legst dich hin, machst Witze mit einem Teamkollegen und denkst, dass es am nächsten Tag besser wird. Wir haben 100 Renntage im Jahr und natürlich kannst du dich nicht jeden Tag gut fühlen. Es geht immer rauf und runter. Das weißt du, und es hat keinen Sinn, negativ zu sein. Du musst nur warten, bis die guten Zeiten wiederkommen. Es mag den Anschein haben, dass es für mich leichter ist, aber so ist das im Leben; wir haben alle unterschiedliche Rollen. Es gibt Leute, die jeden Tag vor einem Bildschirm sitzen und Millionen verdienen, und andere, die wie Sklaven in der Fabrik arbeiten und fast nichts verdienen.“
 
Diese letzte Bemerkung verweist auf ein anderes, wiederkehrendes Thema bei Sagan: ein ausgeprägtes Bewusstsein und Dankbarkeit für die Talente, die ihm die Natur in die Wiege gelegt hat. Dabei hilft ihm der implizite Vergleich mit seinem älteren Bruder Juraj, der 2010 mit ihm zu Cannondale ging. Man kann nicht behaupten, dass Sagan senior die Radsportwelt seitdem im Sturm erobert hätte. Nicht, dass sich bei Cannondale jemand beklagen würde; Juraj scheint ein vorbildlicher Profi zu sein, und sein jüngerer Bruder verteidigt ihn vehement. „Ich sage Ihnen eins: Ohne meinen Bruder wäre ich jetzt nicht hier“, versichert uns Peter. „Er hat mich inspiriert, mit dem Radsport anzufangen. Damals, als ich 14 war, langweilte mich der Radsport und ich wollte aufhören. Ich hatte die meisten Rennen, die ich bis dahin bestritten hatte, gewonnen, aber ich fand Motocross, Downhill-Mountainbiking und solche Sachen viel reizvoller. Juraj hat mich überredet, mich wieder auf mein Rennrad zu setzen.“ In den letzten vier Jahren hat der berühmtere Sagan gesehen, wie sein Bruder im Profi-Peloton zu kämpfen hatte, und erfahren, dass das Talent sogar im Gen-Pool derselben Familie ungerecht verteilt ist. Mit außerordentlichen Fähigkeiten geht daher eine große Verantwortung einher. Es ist eine Sache, herumzualbern oder Wheelies abzuziehen, aber es wäre etwas ganz anderes, sein einzigartiges Talent zu verschwenden. Zum Glück muss Sagan das niemandem erklären. Er ist nicht besonders religiös, aber im Laufe des Interviews können wir die „Gott sei Dank“-Ausrufe bei fast jeder Erwähnung seiner angeborenen Fähigkeiten nicht mehr zählen.
 
Ivan Basso und Sagan scheinen an den entgegengesetzten Enden ihrer Karriere und des Persönlichkeitsspektrums zu stehen – Basso, der 36 Jahre alte Beinahe-Mönch, Sagan, der 24 Jahre alte Möchtegern-Punk. Aber wenn es die Art, wie sie in der Toskana interagierten, noch nicht gezeigt hat, sagt uns Basso, dass er von seinem Teamkollegen eine sehr hohe Meinung hat. Genauer gesagt hat er dieselbe Eigenschaft bei Sagan – wie man sein Talent pflegt und nährt – als seinen wertvollsten Aktivposten identifiziert. „Von allen fuoriclasse [Supertalenten], denen ich begegnet bin, ist Sagan vielleicht der hartnäckigste und methodischste“, sagt Basso. „Er ist ein Maschinengewehrschütze, ein Tier. Er ist einer der ersten, die morgens beim Training sind, und einer der letzten, die zurückkommen. Wenn er 20 Rennen im Jahr gewinnt, ist er in der nächsten Saison sogar noch motivierter. Er ist eine Anomalie. Ich habe viele talentierte Fahrer gesehen, aber noch nie einen, der so talentiert und so beharrlich ist wie er. Normalerweise verlassen sich die Supertalentierten auf ihr Talent – niemand will um sechs Uhr morgens aufstehen und auf der Rolle trainieren; jeder, der noch bei Verstand ist, würde das um neun Uhr machen, vor allem, wenn du dank deines Talents etwas entspannter sein kannst. Bei seinen Fähigkeiten wäre es leicht, selbstzufrieden zu werden. Und trotzdem ist er entschlossener als alle anderen.“
 
Wenn man seinen Teamkollegen und auch Sagan selbst in Riotorto Vignale zuhört, kann man sich kaum vorstellen, was seiner totalen Dominanz in der Klassiker-Saison 2014 im Wege stehen sollte. Wer ihm zugeschaut hat, wird zu dem gleichen Schluss gekommen sein. Auf der Straße, bei Trainingsfahrten über die welligen, von Zypressen gesäumten Alleen an der tyrrhenischen Küste, bearbeitete er die Pedale wie ein ausgehungerter Grizzlybär, der das Fleisch von einem gerade erlegten Reh reißt – lässig, aber furchterregend. Abseits der Straße trottete er durch ruhige Hotelflure mit demselben Ausdruck gelangweilter Bedrohlichkeit, die Augen halb geschlossen, die Muskeln unheilverheißend unter den Auswölbungen seiner Jogginghose versteckt. Es gab Ausnahmefahrer, die das Publikum mit ihrem Stil gefangen nahmen (Anquetil), und andere, die durch ihre Klasse definiert wurden (Hinault). Bei Sagan ist es seine Physis, die fasziniert, wie das bei Merckx der Fall war. Trainer und Fans fragen sich instinktiv, welcher physiologische X-Faktor sein einzigartiges Repertoire erklärt: die Sprint-Geschwindigkeit, um mit Cavendish und Kittel zu konkurrieren, das erwiesene Potenzial, Bergetappen und Zeitfahren zu gewinnen, und vielleicht die seltenste und eindrucksvollste aller Fähigkeiten – als Finisseur auf den letzten fünf Kilometern allein aus einem schnellen Feld herauszuschießen wie bei Gent – Wevelgem 2013.
 
Fortunato Cestaro, Sagans Sportlicher Leiter im U23-Marchiol-Team, hat einmal behauptet, nur einen anderen Fahrer gesehen zu haben, der annähernd Sagans Qualitäten hatte, und das war Moreno Argentin. Der frühere Cannondale-Coach Paolo Slongo sagte später, Sagan vertrüge mehr Laktat in den Muskeln als alle anderen, die er je gesehen habe. Als Slongo Cannondale Ende 2013 verließ und seinem alten Schützling Vincenzo Nibali zu Astana folgte, ging das Privileg, Sagans Hochleistungsmaschine zu tunen, an den früheren T-Mobile-, HTC-Columbia- und Katjuscha-Trainer Sebastian Weber. In der Toskana erzählt uns Weber, dass auch er darauf brannte, Sagans Geheimnis zu entdecken, als er ihn im November 2013 zum ersten Mal testete. „Da war eine Sache, die ziemlich schnell klar war und die ich Peter erklärt habe, aber ich weiß nicht, ob er möchte, dass ich Ihnen das sage“, ziert sich Weber. Zu unserem Pech will auch Sagan das Mysterium nicht lüften: „Ich weiß, was er meint. Aber vielleicht erzähle ich das den Leuten erst nach meiner Karriere.“ Zumindest lässt Weber wissen, dass er bei Sa-gans Training „nur Feinjustierungen vornehmen, kein Erfolgsrezept verändern will“. Er schwärmt auch von einer Eigenschaft, die zwar nicht alles erklärt, aber eine häufig übersehene Facette von Sagans Arsenal ist: seine energiesparende Fahrweise bei Rennen und im Training. „Es ist klar, dass er bei Rennen sehr effizient ist“, sagt Weber. „Er wendet sehr wenig Energie auf, wenn er sich im Peloton bewegt, während andere viel verschwenden. Das Zweite ist – und das ist auch etwas, was ich verstehen wollte –, dass er nicht so viel Training braucht, um in eine sehr gute Form zu kommen. Ich sehe das und frage mich dann, wie viel besser er werden könnte, wenn er mehr trainieren würde, denn bisher war sein Arbeitspensum nicht so groß. Ich glaube, er hat sein Potenzial noch nicht annähernd abgerufen.“
 
Weber freut sich darüber, doch für seine Rivalen muss Sagans schiere körperliche Robustheit beängstigend sein. Die meisten seiner Teamkollegen erinnern sich kaum noch an ihre erste Begegnung mit ihm Ende 2009 bei einem Trainingslager in Cecina, aber was ihnen auffiel, war sein übermenschlicher Appetit auf … Nahrung. „Zum ersten Frühstück aß er drei Croissants. Wir schauten ihn an und schauten uns gegenseitig an und fragten uns: ‚Was macht er da?‘“, erinnert sich Maciej Bodnar. „Viele der besten Fahrer haben das – diesen unglaublichen Stoffwechsel“, bemerkt Cannondale-Sportdirektor Stefano Zanatta. Auch Weber war bisher beeindruckt von Sagans Speiseplan. Der Slowake trat beim ersten Test im Winter  mit 77 Kilo an; auf dem Ergometer trat er bei einem Conconi-Test 500 Watt – ein Team-Rekord. Der Cannondale-Mannschaftsarzt Roberto Corsetti sagte Sagan, er habe seit zehn Jahren niemanden mehr gesehen, der über 450 Watt kam.

 

Sagan besitzt also mehr emotionale Intelligenz, als man annehmen würde, und ist ein mindestens so guter Fahrer, wie seine Fans hoffen und seine Rivalen befürchten. Doch scheint es an dieser Stelle angebracht, einige Einschränkungen vorzunehmen: Trotz eines brillanten Angriffs muss sich Sagan beim Strade Bianche dem Polen Michał Kwiatkowski geschlagen geben. Das Duo hatte es übrigens schon bei Rennen in Osteuropa miteinander zu tun, bevor sie Profis wurden. Dabei gewann Kwiatkowski eher die Sprints und Sagan meistens auf hügeligem Terrain. Aber dort, auf der berühmten Piazza del Campo in Siena, gab es eine Vorwarnung: Vielleicht könnte bei den Klassikern doch nicht alles nach seiner Vorstellung laufen. Ein weiteres, noch böseres Erwachen folgte zwei Wochen später, dieses Mal, als es wirklich darauf ankam, bei Mailand – San Remo. Nachdem er auf der Cipressa alles richtig gemacht hatte, die Sprinter und ihre Teams geschwächt hatte, erfror Sagan fast buchstäblich im Regen auf der Lungomare Italo Calvino. Er wurde nur Zehnter.
 
Dies zeigt nur, dass es wenig Gewissheiten im Radsport gibt, selbst wenn man Peter Sagan heißt. Bei Redaktionsschluss lief der Kannibale der Gegenwart noch mit nüchternem Magen umher, was Monumente anbelangt. Wenn das zum Jahresende immer noch der Fall ist, dürfte Sagan weniger wie der neue Merckx sondern mehr wie der neue Edvald Boasson Hagen aussehen. Damit rechnet natürlich niemand bei Cannondale. Stefano Zanatta, der leitende Sportdirektor des Teams, kann nur einen winzigen Riss in Sagans Rüstung sehen und nur eine Stolperfalle auf seinem Weg zum Olymp: „Peter hat schon viel gewonnen, aber hatte nicht diese großen Siege, die es ihm gestattet hätten, sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen. Im letzten Jahr stand er bei vier großen Klassikern auf dem Podest, er hat das Grüne Trikot gewonnen … Aber wenn er in diesem Jahr zwei große Klassiker und die Weltmeisterschaft gewinnen würde, hätte er vielleicht das Gefühl, dass sein Appetit gestillt ist. Wenn Peter das passieren würde, würde er wahrscheinlich eher aufhören, als mit weniger Motivation weiterzumachen. Was Schwächen angeht, sehe ich im Moment nur eine. Er verliert bei Etappenrennen manchmal die Konzentration“, fährt Zanatta fort. „Er sagt, er will Spaß haben auf dem Rad und es fällt ihm schwer, wenn er bei einem Rennen tagelang diese mentale Belastung hat. Wenn er kein klares Ziel hat, wie als er die Polen-Rundfahrt 2011 gewann, kann seine Konzentration nachlassen.“
 
Das ist etwas, was Sagan oft selbst zugegeben hat. Mitten in der letztjährigen Tour de France sagte er L’Équipe, die Inangriffnahme der Gesamtwertung bei einer großen Landesrundfahrt würde ihm „gewaltig auf den Sack gehen“. Trotzdem glaubt Ivan Basso: „Wenn er alles gewonnen hat, was man ihm zutraut, wird er die großen Rundfahrten in Angriff nehmen. Dieser Junge wird Radsportgeschichte schreiben.“ Sagan blickt nicht so weit voraus, verspricht uns aber, dass es in seinem gegenwärtigen Metier genug gibt, um ihn in den nächsten Jahren auf Trab und motiviert zu halten. Weder er noch Weber wollen sein Training und seinen Körper so verändern, dass er möglicherweise über drei Wochen wettbewerbsfähig wäre, und auch wilde Cross- oder Downhillrennen werden ihn nicht reizen. Der Adrenalin-Junkie in Sagan lässt es im Training raus, wo seine diversen Stunts seine Teamkollegen staunen lassen. „Bei einer Ausfahrt in diesem Winter saß er rückwärts auf dem Lenker und fuhr eine Serpentine herunter. Man musste es sehen, um es zu glauben“, schüttelt Bodnar den Kopf.
 
Sagan wird sagen, dass er sich mit solchen Tricks halt bei Laune hält. Dasselbe gilt für Wheelies mitten im Rennen, die Hulk-Posen und dass er einem Podiumsmädchen bei der Flandern-Rundfahrt vor einem Jahr in den Po kniff, wobei er schnell merkte, dass er damit zu weit gegangen war. Ein altes Sprichwort sagt, dass man unter dem Vergrößerungsglas der Medien schnell erwachsen wird, und das hat für Sagan in den letzten zwölf Monaten sicher gegolten. Zu Hause in der Slowakei starrt sein Gesicht überall in der Hauptstadt Bratislava von Citroën-Werbetafeln, in seiner Heimatstadt Žilina kann Sagan nicht auf die Straße gehen, ohne angeglotzt zu werden. Grundsätzlich geht er jetzt nicht mehr ans Telefon, wenn er die Nummer des Anrufers nicht kennt, und lässt seinen slowakischen Manager die Flut von Telefonanrufen bewältigen. Sein Status in seiner Heimat und die damit einhergehende Behelligung veranlassten Sagan, Ende 2013 nach Monte Carlo zu ziehen. „Als ich mir das erste Mal Wohnungen angeschaut habe, habe ich es gehasst“, sagt er. „Der Verkehr, die Art der Leute, die da leben … Dann fand ich eine Wohnung, die mir gefiel, und bin ein bisschen in der Stadt herumgekommen. Jetzt sehe ich, dass dort auch normale Menschen leben, und ich fühle mich dort heimisch.“
 
Das Leben im Fürstentum ist Lichtjahre entfernt von Sagans Kindheit in Žilina als viertes und jüngstes Kind von Lubomir, einem Pizzeria-Besitzer, und Helena, die bis vor Kurzem ein Lebensmittelgeschäft betrieb (wie Merckx’ Eltern übrigens). Aber neben den naheliegenden Vorteilen für Steuern und Privatleben ist mit Monaco ein weiterer Aspekt verbunden, der Sagan gefällt. Der Ort ist ein Synonym für Geschwindigkeit. Schnelles Leben und schnelle Autos – wie die, die Fernando Alonso fährt, der den Grand Prix von Monaco zweimal gewonnen hat. Wird Sagan Ende des Jahres zu Alonsos bisher namenlosem und geheimnis-umwittertem neuem Team gehen? Wir waren von Cannondale höflich gebeten worden, das Thema in der Toskana nicht anzuschneiden, aber das brauchten wir auch nicht: Sagan dementiert seit Wochen, für vier Millionen Euro pro Saison bei Alonso unterschrieben zu haben. Ebenso wischt er Gerüchte beiseite, Oleg Tinkov habe ihn abgeworben.
 
Klar ist, dass Sagans Entscheidung sich weniger auf sein Bankkonto als auf seinen Palmarès auswirken wird. Seine Vielseitigkeit als Fahrer ist ein zweifelhafter Segen, denn rivalisierende Teams zögern, mit seinem eigenen zusammenzuarbeiten – bei fast jedem Renn-Szenario und auf jedem Terrain. Sagans Waffen sind so potent, dass er trotzdem oft Lösungen gefunden hat – man denke an seine erfolgreichen Attacken bei Gent – Wevelgem, dem Pfeil von Brabant und dem GP de Montreal in 2013 –, aber er weiß auch, dass es die Verhinderungstaktik seiner Gegner für seine Mannschaften in Zukunft immer schwerer machen wird. „Meine Mindestansprüche sind, dass ich der Kapitän für die Klassiker bin und das Grüne Trikot bei der Tour“, betont Sagen am Schluss unseres Interviews. Es wird immer schwerer für mich zu gewinnen, wegen der Art, wie andere Teams fahren, und deswegen brauche ich in Zukunft eine noch stärkere Mannschaft.“ Bei Cannondale hofft man sicherlich, dass er zum Bleiben bewegt werden kann. „Er ist beliebt bei seinen Teamkollegen, weil er gelernt hat, etwas zurückzugeben“, sagt Zanatta. „Er weiß: Wenn er bei einem der kleineren Rennen für einen Teamkollegen arbeitet, wie für Moreno Moser beim Strade Bianche im letzten Jahr, werden sie sich viel bereitwilliger für ihn opfern.“
 
Sagan mag es nicht, in die Zukunft zu schauen, sagt er mit breitem Lächeln, denn: „Wenn du vorher weißt, was passiert, gibt es keine Überraschungen mehr – und keinen Spaß.“ Das ist seitdem so geblieben, und Bernard Hinault würde uns versichern: Wenn das so bleibt, wird Peter Sagan weiter fantastische Sachen machen.



Cover Procycling Ausgabe 123

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 123.

Heft Bestellen