Den Kannibalen verschlingen

Bernard Thévenet war derjenige, der Eddy Merckx, dem größten Radrennfahrer aller Zeiten, seine erste definitive Niederlage bei der Tour de France beibrachte. Doch war der Sieg über den „Kannibalen“ im Jahr 1975 wirklich seine Sternstunde?

 

Wenn man Bernard Thévenet zum ersten Mal interviewt, ist die obligatorische Frage: War die Tour de France 1975, wo er Eddy Merckx als erster Fahrer seit 1967 bei einer großen Rundfahrt bezwingen konnte, der wichtigste Sieg für ihn? Die Antwort ist nicht die erwartete. Es ist ein festes und entschiedenes Nein. „Es ist seltsam“, sagt er zu Procycling, „dass mein Sieg von 1975 den Leuten im Gedächtnis geblieben ist. Mein schönster Sieg war der bei der Tour 1977, mit nur 48 Sekunden Vorsprung nach einem wirklich epischen Kampf.“ Es ist eiskalt draußen an dem Tag, an dem wir ihn treffen, und drinnen ist es nicht viel wärmer. In einem schwarzen Mantel in einer Ecke eines französischen Cafés sitzend, fällt Thévenet, der jetzt Anfang sechzig ist, nicht weiter auf – und scheint das auch nicht zu wollen. Obwohl er zweifacher Toursieger und seit Langem Kommentator im französischen Fernsehen ist, scheinen ihn die wenigsten zu erkennen. Diese Situation ist typisch für Thévenet. Anders als der verstorbene Laurent Fignon oder Bernard Hinault gehörte er nie zu den extrovertiertesten Radsportstars. Aber selbst heute, wo er sich mehr auf seine Arbeit als Direktor des Critérium du Dauphiné konzentriert, ist er für Millionen von französischen Fans eine respektierte und gewichtige Stimme im Radsport – und nicht nur wegen seiner jahrelangen Arbeit für das französische Fernsehen, das das Rennen offiziell überträgt.
 
Der Sieg des Franzosen über Merckx 1975 war und bleibt ein Wendepunkt – das Ende der drückendsten Überlegenheit, die je ein einzelner Fahrer im Radsport hatte. Dank seines brillanten Gedächtnisses versetzen uns Thévenets Anekdoten zurück in die Ära der Riemenpedale, Schlaghosen, Koteletten und französischen Pop- und Disco-Schnulzen, als Richard Clayderman und Ottawan aus den Transistorradios der Nation schallten. Dass er Merckx, den Unbesiegbaren, schlagen konnte, merkte Thévenet bei der Dauphiné Libéré 1975. Thévenet gewann, während Merckx nicht nur verlor, sondern Zehnter  wurde. „Es war ein Schlüsselmoment“, sagt er. „Denn davor war Merckx so etwas wie ein Außerirdischer – nicht wie der Rest von uns. Er hatte bei der Dauphiné starten müssen, nachdem er den Giro, den er eigentlich fahren wollte, wegen Krankheit verpasst hatte. Der Umstand, dass er dort antreten musste und dann das Rennen nicht so kontrollieren konnte, wie er wollte, nun ja … Wir fürchteten ihn nicht so sehr wie zuvor. Wir rechneten uns eine kleine Chance aus. Es war nicht so sehr das Ergebnis der Dauphiné, sondern was mir dabei klar wurde.“
 
Das zweite Schlüsselelement für seinen Sieg über Merckx vor der Tour selbst war „der Wechsel des Sportdirektors bei Peugeot. Davor hatten wir Gaston Plaud, der keine Ahnung vom Radsport hatte und uns keinerlei Ratschläge gab. Durch unseren neuen Sportlichen Leiter [den äußerst erfahrenen Maurice De Muer] lernten wir, die Rennen beim Schopf zu packen und zu unserem Vorteil zu gestalten.“ Das galt vor allem für die Tour, wo De Muer die erfolgreiche Taktik vorgab. „Er riet mir zu wiederholen, was ich bei der Dauphiné gemacht hatte, und vor allem die Pyrenäen mit weniger als drei Minuten Rückstand auf Merckx zu erreichen. Er war sicher, dass ich ihm die Zeit bei den Berg-ankünften würde abnehmen können.“ Es war das erste Mal, dass Thévenet eine solche mathematische Berechnung anstellte, und es motivierte ihn, sich nicht abschütteln zu lassen. „In den ersten acht Tagen des Rennens habe ich alles daran gesetzt, mit dem Peloton mitzuhalten“, sagt er. Diese Zähigkeit sollte sich als entscheidend erweisen. Rückblickend glaubt er, dass Merckx auch im Nachteil war, weil ihm ein wichtiger Helfer fehlte. Der zweifache Gewinner von Lüttich – Bastogne – Lüttich, Jos Bruyère, war im Frühjahr bei der Setmana Catalana gestürzt und hatte sich ein Bein gebrochen. Thévenet vermutet, dass sein Fehlen Merckx erheblich beeinträchtigte, „sowohl mental als auch physisch. Jos war in den schwersten Momenten immer für Eddy da gewesen und sein Ausfall muss ein schwerer Schlag für ihn gewesen sein.“
 
IM GELBEN TRIKOT
Natürlich weiß Thévenet, welche Faktoren ihm bei seinem Sieg in die Karten spielten, doch es ist immer noch umstritten, wo genau Merckx die Tour 1975 verlor. War es bei der Bergankunft am Pla-d’Adet auf der 11. Etappe, wo sich der Belgier verkalkulierte, als er Joop Zoetemelk, der zuerst attackiert hatte, folgen wollte, aber 55 Sekunden auf Thévenet verlor, als der Franzose einen Gegenangriff fuhr? Oder war es die 14. Etappe und der Puy-de-Dôme, als Merckx von einem Zuschauer in die Nieren geboxt wurde und Thévenet den Abstand in der Gesamtwertung auf weniger als eine Minute verkürzte? Oder vielleicht der berühmte Moment im Anstieg nach Pra-Loup, vier Kilometer vor dem Ziel, wo Thévenet schließlich an Merckx vorbeizog und sowohl die Etappe als auch das Gelbe Trikot gewann?
 
Nichts davon, sagt Thévenet. „Ich wollte ihm den Rest geben und konnte nur sicher sein, dass er erledigt ist, wenn ich ihm mehr als drei Minuten abnehme. Ich hatte in Pra-Loup 58 Sekunden Vorsprung, was nichts ist, wenn man gegen Merckx fährt. Ich musste auf dem Izoard angreifen, um meinen Vorsprung auf über drei Minuten auszubauen. Psychologisch ist das eine Barriere für die meisten Fahrer. Es sind nicht mehr „bloß zwei Minuten“, wenn du angreifen willst. Da ist etwas in deinem Kopf, das dir sagt, dass drei Minuten zu viel sind, um sie wieder rauszufahren.“ Thévenet brauchte diesen beruhigenden Puffer von drei Minuten zweifellos. In der Nacht, nachdem er das Gelbe Trikot gewonnen hatte, träumte er, dass sich Merckx in sein Hotelzimmer schlich und es ihm wieder wegnahm. Es hat mich so fertig gemacht, dass Merckx so oft im Gelben Trikot war, dass ich mich während der ganzen nächsten Etappe fragte, wann er wieder angreifen würde. Mental macht einen das einfach fertig. In der Nacht bei der Tour bin ich aufgewacht, weil ich mal musste, und habe sofort nachgeschaut, ob das Gelbe Trikot noch auf dem Stuhl im Zimmer liegt. Eddy quälte meine Seele!“

 

Wer die Ereignisse nicht miterlebt hat, wird sich kaum vorstellen können, was Thévenets Sieg damals bedeutete. „Vor 1975 war es bei jedem Rennen, wo ich auf Eddy traf, so, dass ihn irgendetwas rettete, wenn er einen Rückschlag hatte. José Manuel Fuente war das beim Giro 1972 gelungen, als er ihn in der ersten Woche am Blockhaus schlug. Aber dann kam Eddy zurück und räumte ihn aus dem Weg. Wir fragten uns die ganze Zeit, wie in Gottes Namen wir ihn schlagen sollen.“
Seltsamerweise flachte das Geschehen bei der Tour, nachdem Thévenet den Kannibalen „verschlungen“ hatte, irgendwie ab. Merckx nahm an der Frankreich-Rundfahrt 1976 nicht teil, Thévenet war nicht in Form und Lucien Van Impe und Joop Zoetemelk, die anderen beständigsten Tour-Mitfavoriten der Vorjahre, gingen erst in der letzten Phase des Rennens in die Offensive. „Meine Form war gut, ich war Dritter im Prolog, mein bestes Ergebnis bei der Tour überhaupt“, erinnert sich Thevenet, „ich hatte zwei Wochen zuvor die Dauphiné gewonnen und war entschlossen, so gut zu fahren wie im Jahr zuvor. Aber nach vier Tagen bin ich gestürzt, und danach lief es nicht mehr. Ich verlor vier Minuten bei einem Zeitfahren – ich weiß immer noch nicht, warum. Auf dem Anstieg, wo ich im Jahr zuvor 50 Sekunden auf Merckx herausgefahren hatte, verlor ich 17 Minuten.“ Er gab schließlich auf der 19. Etappe auf.
 
Thévenets zweiter Toursieg 1977 – der, der ihm wirklich etwas bedeutet – ist ein vernachlässigter in der Geschichte des Rennens, wahrscheinlich, weil er zwischen zwei Epochen fiel, die von Giganten des Sports beherrscht wurden. Merckx war noch Zweiter, als das Rennen in die Alpen ging, aber ein Schatten seiner selbst, während Bernard Hinault noch ein Jahr entfernt war von seinem ersten spektakulären Sieg. Obendrein überschattete eine ganze Reihe von positiven Dopingtests das Endergebnis. Dass Thévenet das Rennen mit 48 Sekunden gewann – der knappste Vorsprung seit der Tour 1968 –, spricht allerdings dafür, dass diese Tour hart umkämpft war. Thévenet identifiziert die 17. Etappe nach Alpe d’Huez als Knackpunkt. Der Franzose war bei einem Zeitfahren in Morzine in Führung gegangen, während Merckx, der bis dahin nur 25 Sekunden Rückstand hatte, am Tag zuvor auf einer relativ leichten Etappe im Alpenvorland eingebrochen war. Vor der schwersten Bergetappe mit dem Col de la Madeleine, dem Col du Glandon und Alpe d’Huez gab es immer noch fünf Fahrer, die keine zwei Minuten von Thévenet trennten.
 
Das war deutlich unter Thévenets psychologischer „Zeitgrenze“ von drei Minuten und Deutschlands Shootingstar Didi Thurau saß ihm gar mit elf Sekunden im Nacken. Thévenet musste einen ähnlichen Soloritt wie auf dem Izoard hinlegen, doch er hatte zwei formidable Rivalen: den Sieger von 1976, Van Impe, und den Holländer Hennie Kuiper. Van Impe ging als Erster in die Offensive: Auf dem Glandon setzte er sich mit seinem dritten Angriff von der Gruppe der Favoriten ab. Zoetemelk und Kuiper hängten sich prompt an Thévenets Hinterrad und taten bei der Verfolgung von Van Impe keinen Schlag. „Ich habe versucht, sie oben auf dem Glandon abzuschütteln, aber ich bin sie nicht losgeworden“, erinnert sich Thévenet. „In der Abfahrt kamen sie wieder an mich heran und ich musste die ganze Verfolgungsarbeit alleine machen, mit den beiden am Hinterrad bis zum Fuß von Alpe d’Huez.“
Unterdessen hatte Van Impe seinen Vorsprung auf 2:45 Minuten ausgebaut und das Gelbe Trikot virtuell in seinen Besitz gebracht. „Ich hatte ein Problem mit Alpe d’Huez. Ich mochte den Anstieg nicht besonders, weil ich nie wusste, wie ich die ersten Serpentinen in Angriff nehmen sollte. Ich konnte Zoetemelk und Kuiper abhängen und meine einzige Hoffnung war, dass Van Impe nach einem für ihn so ungewöhnlichen langen Alleingang irgendwann einbrechen würde.“
 
Innerhalb der nächsten Minuten änderte sich das Rennen radikal, als ein ausgepowerter Van Impe von einem Wagen aus dem Begleittross angefahren wurde. Er wurde durch die Kollision von der Straße geschleudert, doch der Belgier fuhr weiter, auch wenn sein cou-ra-gierter Langstrecken-Angriff beendet war. Zu diesem Zeitpunkt schloss Thévenet zwar die Lücke, aber Kuiper zog an dem Franzosen vorbei und entwickelte sich zu seinem größten Herausforderer. „Es lief auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen mir und Kuiper hinaus, und es war sehr eng.“ In der Tat: Kuiper gewann die Etappe mit 41 Sekunden vor Thévenet, dem hauchdünne acht Sekunden Vorsprung im Gesamtklassement blieben.
„Ich hatte mich in Alpe d’Huez selbst in Grund und Boden gefahren, um die Führung zu verteidigen, weil ich unbedingt in Gelb ins letzte große Zeitfahren [in Dijon] gehen wollte, um mich an den Zeiten von Kuiper orientieren zu können“, erinnert sich Thévenet. „Ich wusste, dass Kuiper gleich Vollgas geben würde, also sagte ich De Muer, dass ich das Gegenteil machen würde, vielleicht fünf oder sechs Sekunden verlieren und sie dann gegen Ende wieder rausfahren würde. Und so kam es auch. Kuiper fuhr ein bisschen Zeit auf mich heraus, und dann machte ich den Boden Stück für Stück wieder gut.“
 
Am Ende des Zeitfahrens hatte Thévenet seinen Vorsprung auf Kuiper um weitere 28 Sekunden vergrößert, „was in der Addition nur 36 Sekunden ergab. Doch seltsamerweise hat mich dieser Abstand mehr beruhigt als das Drei-Minuten-Polster, das ich gegenüber Merckx hatte!“ Thévenet verteidigte dieses kleine Guthaben bis Paris, aber nachdem er bei zwei sehr schweren Frankreich-Rundfahrten triumphiert hatte, verlief seine Karriere im Sand. Er gab die Tour 1978 auf dem Col du Tourmalet auf und verließ das Peugeot-Team nach der folgenden Saison. Weder sein Giro-Debüt 1979 noch sein Wechsel zu zwei kleineren Teams – das spanische Teka 1980 und das französische Wolber 1981 – konnten den Abwärtstrend umkehren. 1982 beendete er seine Karriere. „Ich hatte Angst vor den Abfahrten bekommen und konnte nicht mehr mithalten“, sagt er. „Es war schließlich Zeit zu gehen.“
 
Thévenets Karriere ist auch deshalb interessant, weil sie zwei Epochen umspannt – die von Merckx und die von Hinault. Er hatte sogar das Pech, sich mit einer Merckx-Hinault-Allianz auseinandersetzen zu müssen – bei der Dauphiné 1977. „Da habe ich verloren, weil Eddy für Hinault arbeitete, als Dankeschön für einen Gefallen, den Bernard ihm bei einem Kriterium getan hatte“, erinnert er sich lächelnd. „Ich sagte Eddy, dass man Gefälligkeiten durchaus erwidern kann – aber doch nicht bei einem so großen Rennen wie der Dauphiné!“ Bis heute sucht der französische Radsport nach einem neuen Champion, einem Nachfolger für Fignon, Hinault und Thévenet. Von der neuen Generation traut Thévenet das am ehesten dem jungen FDJ-Star Thibaut Pinot zu. „Top Ten und eine Bergetappe bei der ersten Tour-Teilnahme, das ist etwas Besonderes“, betont er. Und bescheiden, wie er ist, erwähnt Thévenet nicht, dass auch er bei seiner ersten Tour 1970 eine Bergetappe gewann.



Cover Procycling Ausgabe 122

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 122.

Heft Bestellen