Ulles neue Lust am Radfahren

Jan Ullrich ist zurück – bei Marathonveranstaltungen und Radsport-Events, mit großer Offenheit und viel Freude am Radfahren. Wir trafen den deutschen Tour-Sieger am Rande eines Prostyle-Radsportwochenendes im niederländischen Vaals.

 

Der Oberkörper ist massiger geworden, die Beine sind nicht mehr ganz so definiert – aber er ist es, ganz unverkennbar: Jan Ullrich. Der Mann, der in jungen Jahren mit seinem Sieg bei der Tour de France 1997 Sportgeschichte schrieb, der bis heute in einem Atemzug mit Boris Becker, Michael Schumacher oder Steffi Graf zu nennen ist. Gewinner der Tour, der Vuelta und der Tour de Suisse, Weltmeister und Olympiasieger, der Mann, der in Deutschland einen nie dagewesenen Radsportboom entfachte. Ullrichs Karriere endete ruhmlos, doch das und die Häme, die der einstige Vorzeigesportler über Jahre hinweg einstecken musste, sind in Momenten wie diesem vergessen: Gerade ist die Prostyle-Radgruppe um Jan Ullrich und seinen Weggefährten Olaf Ludwig von einer 130-Kilometer-Runde auf den Spuren des Amstel Gold Race zurückgekehrt; frisch geduscht sitzt man im Innenhof des historischen Schlosses Vaalsbroek und amüsiert sich mit dem bizarren Spezialrad mit den zwei Rahmengelenken, das Ludwig mitgebracht hat. „Wir haben ja viel experimentiert, um die Radbeherrschung zu verbessern“, so Ludwig, der Amstel-Gold-Sieger von 1992. Die meisten Gäste trauen sich, eiern unter dem Gelächter der Gruppe über den gepflasterten Hof. Und schließlich steigt auch Jan Ullrich auf, schlägt sich besser als die meisten, stimmt in das Lachen ein wie alle anderen. Ein Radsportler unter vielen, auf Augenhöhe mit den Männern und Frauen, die aber auch seine Fans sind. Der Mann, der viele hier erst zum Radsport gebracht hat, ist in der Mitte der von ihm angestoßenen Sportbewegung angekommen – und er genießt es. Und Zeit für ein Interview hat er natürlich auch …
 
Jan, du hast eine Zusammenarbeit mit Eufemio Fuentes eingestanden. Was hat dich dazu bewegt, darüber zu reden?
Ehrlich gesagt, hat mich die mediale Reaktion auf das Focus-Interview überrascht.  Zu Fuentes habe ich im Grunde nur in anderen Worten das wiederholt, was ich vor 14 Monaten nach meiner Verurteilung bereits gesagt habe.
 
Beschäftigt dich diese Vergangenheit noch? Und war deine Erklärung auch dazu da, damit abzuschließen?
Nein, nicht wirklich. Durch die Medien dann doch. Ich persönlich habe für mich schon nach dem CAS-Urteil einen Schlussstrich gezogen und lebe damit ganz glücklich!
 
Kann man von Jan Ullrichs neuer Lust am Radfahren sprechen?
Das geht ja schon eine Weile, seit über zwei Jahren, dass ich nach meiner Pause, in der ich so gut wie gar nicht gefahren bin, wieder auf dem Rad sitze. Und jetzt ist es wieder ein richtiges Hobby geworden – mit Herz und Leidenschaft.
 
Bist du noch am Profi-Radsport interessiert?
Ich schaue mir die Radrennen der Profis unglaublich gerne im Fernsehen an, wenn ich Zeit habe, bin sonst aber aus dem Profi-Geschäft raus – abgesehen davon, dass ich mit Klödi, Grabschi, Tony Martin und allen, die bei mir in der Gegend wohnen, noch gut befreundet bin. Ansonsten fühle ich mich unheimlich wohl im Jedermann-Bereich.
 
Ist der Radsport vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben einfach nur ein Hobby?
Nööö – das fing ja als Hobby an und war für mich eigentlich ein Hobby bis zu den Amateuren oder fast bis zu den Profis, weil ich mit Leichtigkeit meine Rennen gewinnen konnte und immer der Jüngste war, der alle Rekorde gebrochen hat. Das Profi-Geschäft war dann natürlich knallharte Arbeit; das war 80 Prozent Arbeit und nur noch 20 Prozent Spaß und Hobby. Das ist einfach ein Beruf, der so schwer ist und in den man so viel investieren muss – an Kraft, an Zeit, an Trainingskilometern … Aber jetzt kann ich wieder fahren, wann ich will. Bei meinen Events spreche ich sehr gerne mit Leuten über das Thema, beantworte Fragen – ich habe ja eine 30-jährige Erfahrung in dem Sport, und es ist immer schön, wenn man das weitergeben kann.
 
Die Stimmung hier bei Prostyle ist einfach nur gut, und ich denke, dass viele der Menschen hier erst durch deine Erfolge mit dem Radfahren angefangen haben …
Das ist richtig, und das höre ich immer wieder – etwa wenn ein Tony Martin zu mir sagt, „durch dich bin ich zum Radsport gekommen“. Der Boom aus jener Zeit, der immer noch anhält, ist der Jedermann-Boom, und viele der Profis, die jetzt noch fahren, ob das Linus Gerdemann ist oder Ciolek, sind fast noch Kinder gewesen, als ich meine großen Erfolge hatte, und sind davon sicher auch ein wenig inspiriert worden.
 
Wie erlebst du die großen Marathons und Gran Fondos – ist so etwas für dich nicht ein Spaziergang?
Nicht wirklich – es gibt ein Rennen, vor dem ich sehr viel Respekt habe, das ist der Ötztaler. Da muss ich nur Leute betreuen, nicht auf Zeit oder um den Sieg fahren, aber ich muss trotzdem fit sein – es geht immerhin um fast 6.000 Höhenmeter und 240 Kilometer. Da betreue ich Leute, die teilweise ohne meine Tipps gar nicht durchkommen würden. Dieses Gefühl, durchzukommen, ist ja typisch für die Jedermänner – sonst könnte man ja auch eine Lizenz lösen und Radrennen fahren. Ich betreue lieber Leute, die unerfahren sind und einfach Lust am Radfahren haben. Und da trainiere ich auch schon ein bisschen mehr. Die Zelle erinnert sich sehr schnell an Leistung, an Kraft und an Trainingsreize, aber man muss trotzdem einiges machen, und ich habe inzwischen so viele Events, dass ich alleine damit wieder auf meine paar Tausend Kilometer komme. Und ich trainiere auch gerne nebenher, wenn das Wetter passt.
 
Wie erlebst du das bei den Jedermännern? Kann der Profi-Bereich vielleicht von der Begeisterung profitieren?
Ja, vielleicht – wenn man etwa sieht, dass der Radsport Tausende von Leuten interessiert und auch die Einschaltquoten zur Tour de France entsprechend hoch sind, dann kommen sicherlich Sponsoren. Aber so lange das Thema Doping und die alten Kamellen immer wieder rausgezogen werden,  so lange traut sich auch keiner. Das hatten wir ja im letzten Jahr mit Alpecin, die wirklich bereit waren, ein paar Millionen hinzulegen und ein deutsches Team zu machen. Ich bin der Meinung, dass es noch ein bisschen Zeit braucht. Es gehört ja auch Mut dazu, sich für den Radsport zu entscheiden. Wir hätten das Potenzial, sicherlich – es sind viele Nachwuchsfahrer da. Es fängt da unten an, dass vielleicht mal in zehn Jahren wieder ein Fahrer da ist, der solche Leistungen wie ich bringen kann.
 
Zieht es dich manchmal ins Profi-Business zurück?
Im Moment nicht. Ich telefoniere oft mit Jens Heppner, und der ist ja mehr unterwegs als früher. Er mag das nach wie vor, ich bin lieber bei meiner Familie. Beratend könnte ich mich irgendwo sehen – das Thema kam ja auch bei Alpecin auf.
 
Was müsste deiner Meinung nach passieren, damit der deutsche Radsport wieder richtig auf die Füße kommt?
Wenn du mich fragst, ist das einfach eine Zeitfrage. Das Thema muss mal aus den Medien raus, wir müssen mal eine Zeit lang keinen Skandal mehr im Radsport haben – dann kommen auch die Sponsoren wieder. Da müssen wir alle an einem Strang ziehen. Wir müssen den Fahrern wieder vertrauen; wir müssen auch unten anfangen, den Eltern für ihre Kids Sicherheit geben – und es darf die nächsten fünf bis zehn Jahre kein großer Skandal mehr im Profi-Radsport passieren. Wenn ein Sponsor einsteigt, dann gibt es wieder eine Kettenreaktion, und es steigen wieder mehrere ein. Wir haben die Talente, und es kommen nach wie vor Fahrer nach; jetzt müssen wir eben dranbleiben.Stichwort Talente: Wann gesellt sich zu den deutschen Weltklassesprintern endlich wieder ein Rundfahrer?

Das haben sich vor 1997 schon alle gefragt – warum gewinnt kein Deutscher die Tour? Das war ein Glücksfall, wie ihn Deutschland oder Dänemark oder jetzt England nur ein Mal erlebt haben, weil wir eben nicht die typischen Radsportnationen sind. Das kann man nicht programmieren, da muss alles passen. Ich halte ja immer noch ganz große Stücke auf Andreas Klöden – nicht nur, weil er mein Freund ist. Er ist immer noch der Joker, und ich glaube, jetzt will er’s noch mal wissen. Er hat sehr große Freiheiten, weil alle um sein Können und sein Talent wissen, und diese Karte kann durchaus mal gespielt werden …
 
Wie siehst du sonst die Chancen der deutschen Fahrer?
Tony Martin natürlich – aber nicht für den Gesamtsieg, Tony ist einfach zu lieb. Er arbeitet für seine Sprinter, ist immer da, gewinnt die Zeitfahren – ein unglaublich starker Fahrer, der sich super entwickelt hat, ich mag ihn unglaublich gerne. Und die Sprinter natürlich: Kittel und Degenkolb fahren das erste Mal die Tour – Kittel war ja letztes Jahr ziemlich früh ausgeschieden. Schnell sind sie, das haben sie schon oft bewiesen. Greipel ist heiß, der möchte gern bestätigen – das sind drei Joker gegen Cavendish, auf die ich sehr gespannt bin.
 
So gesehen sieht es für den deutschen Radsport doch ziemlich gut aus.
Diese Leute haben angefangen, als das Team Telekom erfolgreich war, in diesem Radsportboom, und die sind jetzt da. Aber sie fahren alle in ausländischen Teams, weil’s eben keinen deutschen Sponsor gibt. Wie gesagt, es braucht meines Erachtens noch etwas Zeit.

 

Ist das Interesse des Nachwuchses immer noch so groß wie zu jener Zeit?
Wir hatten gestern Kinder so zwischen elf und 16 Jahren da, die von ihren Problemen erzählt haben: dass sie in der Schule keine Unterstützung für ihren Sport haben, Sponsoren fallen aus, alles wird auf freiwilliger Basis organisiert, die Eltern müssen das teure Rad kaufen, die Autofahrten zu den Rennen bezahlen … Das war früher im Osten ein bisschen einfacher, da war es strukturierter. Gegenüber der heutigen Jugend hatten wir es leichter. Die Jungs und Mädchen gestern waren hoch motiviert, haben auch mal nach Sportschulen gefragt – das wären dann Cottbus oder Erfurt, und das ist nicht leicht, mit 14 von Zuhause auszuziehen, so wie wir es gemacht haben, und von Düsseldorf oder Köln nach Cottbus zu gehen. Aber das wäre schon der beste Weg.
 
Selbst die, die diesen Weg gehen, haben es schwer …
Bis es überhaupt so weit ist, einen Profi-Vertrag zu unterschreiben, gibt es schon eine Menge Druck. Die U23 zum Beispiel: Bis dahin müssen die Fahrer sich zeigen, müssen Titel holen, sonst ist es ganz schwer. Bei uns waren damals Profis und Amateure getrennt und du konntest mit 30 auch noch Profi werden. Heute ist es eigentlich fast vorbei, wenn du in der U23 nicht irgendwo ein Team findest; als 24-Jähriger kannst du dann eigentlich eine Lehre machen oder dein Studium fortsetzen.
 
Glaubst du eigentlich, dass die Leute nachvollziehen können, wie ein Radprofi lebt?
Nee. So ein Profi-Leben kann man sich nicht vorstellen. Ich kann es mir nach den sechs, sieben Jahren, wo ich aus dem Business raus bin, schon selbst gar nicht mehr vorstellen, wie hart das war. Du bis in diesen Kreisen drin, du fährst deine 35.000 Kilometer im Jahr, und du bist halt wirklich von morgens bis abends durchgeplant …
 
Rührt die Skepsis gegenüber dem Radsport vielleicht auch von diesem Unverständnis her?
Es ist schon in den Köpfen der Menschen drin. Ich sage jedem, dass ich dem Radsport vertraue, und wenn ich das nicht mache, wer soll’s dann machen? Natürlich sind diese Leistungen fast abnormal – da fahren sie wieder im Schnee beim Giro und so weiter, das können die Leute nicht verstehen. Die setzen sich ein-, zweimal aufs Rad, fahren eine kleine Welle hoch und merken, dass sie nur halb so schnell fahren wie ein Profi – aber so eine Profi-Karriere ist natürlich über 15, 20 Jahre aufgebaut. Diese Leistungen und die Härte, die diese Jungs bringen müssen, dass sie auf alles verzichten müssen – ich glaube, das kann man sich nur wirklich vorstellen, wenn man es selbst gemacht hat.
 
Wie siehst du vor diesem Hintergrund die Leistungen von Breitensportlern, die ihre 6.000, 7.000 Kilometer fahren?
Find’ ich prima – sonst würde ich das hier nicht machen. Ich habe davor den größten Respekt, schließlich arbeiten die ja, und es ist für mich unvorstellbar, wie manche Tausende von Kilometern fahren, um sich auf den Ötztaler vorzubereiten, und Familie und Job in einen Topf kriegen – vor denen ziehe ich absolut den Hut. Radsport fängt ja auch erst dann an, Spaß zu machen, wenn die Form so’n bisschen da ist – und dazu gehört eine Menge Arbeit, auch als Hobbyfahrer.
 
Können die Leute, die bei den Events zu Gast sind, besser verstehen, was zum Profi-Dasein dazugehört?
Auf alle Fälle. Aber warum machen die Leute das? Weil sie den Ausgleich sehen, weil Körper und Geist im Einklang sind, weil sie sich wohlfühlen, auf der Arbeit
kreativer sind. Profi-Rennen zu schauen ist eine reine Unterhaltung, aber selbst zu fahren ist noch einmal etwas Anderes.
Ich spreche hier mit jedem, wir verbringen ja viele Stunden auf dem Rad, und dann ärgern sich welche: „Ah, ich hatte Knieprobleme, konnte nicht so viel trainieren, es ist viel zu schwer …“ Und ich sag dann: „Fahr’ doch langsamer, es soll ja Spaß machen!“ Wenn ich jetzt einen Marathon mitlaufen muss und nur am Anschlag bin, dann laufe ich danach keinen mehr. Wenn ich aber so laufe, dass ich einfach nur ins Ziel komme, ohne Zeitdruck, und es hat Spaß gemacht, dann kann ich über einen zweiten Marathon nachdenken. Und so soll es auch bei meinen Events sein.
 
Hast du inzwischen wieder einen vollen Kalender mit deinen Radsport-Aktivitäten?
Wir haben schon ein durchstrukturiertes Jahr mit unseren Events. Nächste Woche fliege ich nach Amerika zum Mountain-biken in Colorado für sechs, sieben Tage, dann haben wir eigene Events – das läuft jetzt gerade richtig an. Mit Alpecin machen wir einige Sachen, im Ötztal sind wie eine Woche, in Sölden auch. Es werden mehr und mehr, mit Prostyle machen wir auch einige Events – mit Udo Bölts im September etwa. Wir haben schon einen vollen Terminkalender, und mehr muss man da auch nicht reinstopfen, ich möchte ja auch noch meine Familie sehen. Wenn man alles zusammenzählt, liegen wir schon wieder bei 60 bis 80 Tagen.
 
Das ist ja ganz schön viel.
Es wird gut angenommen. Und wenn es gut angenommen wird, fühle ich mich bestätigt, und wenn ich mich bestätigt fühle, habe ich auch wieder Lust auf mehr.
 
Fährst du noch manchmal mit den Radprofis in deiner Gegend?
Aber nur, wenn die Ruhetag haben! Naja, seit zwei Jahren fahre ich wieder ein bisschen, so zwischen 5.000 und 7.000 Kilometer. Mein Ziel ist es, wieder 10.000 Kilometer zu fahren, weil ich dann einfach noch besser drauf, noch ausgeglichener bin. Dann kann ich auch wieder ein bisschen mit Klödi mittrainieren!
 
Denkst du manchmal daran zurück, wie man in der Öffentlichkeit mit dir umgegangen ist – gerade, wenn man deine Bedeutung für den deutschen Sport bedenkt? 
Ach, das ist kein Thema mehr, und mir reicht das auch. Ich bin keiner, der um die Welt reisen und sich seine Bestätigung holen muss. Für mich ist das Leben jetzt genau richtig. Ich habe Anerkennung, ich komme auch wieder raus, habe meinen Beruf zum Hobby gemacht, und mir macht es selbst wieder Spaß, ein bisschen in die Pedale zu treten. Die Sachen, die ich jetzt mache, überfordern mich nicht und ich mache sie gerne; und das ist der beste Weg. Wenn du wieder in so einen Strudel reinkommst, wo überall, wo du auftauchst, die Kameras klicken und die Paparazzi hinterm Baum sitzen – das ist nicht mein Leben.
 
Und das Leben, das du jetzt führst, scheint dir Freude zu machen …
So wie ich denken ja ganz viele, die aufgehört haben. Olaf teilt sich sein Leben ja genauso ein, der ist ja noch länger raus … Aber du bist trotzdem mit Herz und Seele beim Radsport, das verlierst du nicht. Ich bin wieder da, bin Feuer und Flamme, und die Leute sind begeistert – das ist genau das, was wir wollen. 



Cover Procycling Ausgabe 114

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 114.

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