Chris Froome – Zweiter Sieger, erster Verlierer

Am letzten Morgen der Tour de France 2012 sieht Chris Froome müde aus. Nein, er ist ausgepumpt. Seine Teamkollegen lächeln von den Balkons ihrer Zimmer im Hotel Campanile in Chartres, wo die englische Presse zu einem privaten Frühstück mit Dave Brailsford und Bradley Wiggins eingeladen ist. Nur Froome, der Mann, der bald Zweiter der Tour werden wird, scheint leer und ohne Schwung zu sein.

 

Wir erwähnen die Vuelta. Froome atmet tief durch. Sehr tief. Wenn es in Froomes Kopf einen Aktenschrank mit Dingen gibt, über die er im Moment nicht sprechen will, so gehört die Spanien-Rundfahrt sicher dazu. Ob er die Tour de France hätte gewinnen können oder müssen, bestimmt auch. In einer Minute werden wir uns den Griff schnappen und die Schublade aufreißen. Aber zuerst noch mehr Fotos. Wie immer ist Froome fast übertrieben höflich – so wie es nach der Meinung einiger Beobachter in den letzten drei Wochen der Fall war.

Vor ein paar Jahren verkündete der italienische Manager von Froomes Barloworld-Team, Claudio Corti, sein „weißer Kenianer“ werde eines Tages in die Top Five der Tour de France fahren oder sogar noch besser abschneiden. Keiner hörte auf ihn. Damals galt Froome nur kraft seiner Herkunft als einer dieser jungen Radsportler, die genug Stoff liefern, damit man einmal in der Saison eine bunte Geschichte über sie schreiben kann, aber nicht viel mehr. Procycling war genauso naiv wie alle anderen. Wir interviewten den damals 23-Jährigen 2008 am Vorabend seines Tour-Debüts in Brest; Froomes Mutter war zwei Monate zuvor an Krebs gestorben. Wegen seiner Trauer, seiner Unerfahrenheit, weil er noch so grün hinter den Ohren wirkte und weil sein Trainer sagte, Froome habe nach dem Tod seiner Mutter sein Rad wochenlang nicht angefasst, rechneten wir damit, dass er sich nur ein paar Tage halten würde. Stattdessen kletterte er in der letzten Woche mit den Führenden nach Alpe d’Huez und wurde 14. im abschließenden Zeitfahren.

Nur weil wir und andere Froome unterschätzten, heißt das nicht, dass jeder das tat. Okay, Luca Scinto, damals Manager des Amateurteams, aus dem später das Profiteam Farnese Vini – Selle Italia hervorging, machte sich nicht einmal die Mühe, zu antworten, als Froome ihm während des Giro delle Regioni 2007 per E-Mail seine Dienste anbot. Aber auf jeden Mann wie ihn kam ein John Robertson, der im Vorjahr auf Froomes Talent aufmerksam geworden war und ihn überredet hatte, sein Studium der Betriebswirtschaft zu unterbrechen, um sechs Monate in Europa bei Konica-Minolta zu fahren. Robertson kehrte von eben jenem Giro delle Regioni 2007 nach Hause zurück und schwärmte über den einen Etappensieg von Froome und einen zweiten, den er hätte holen können, wenn ihm auf den letzten Metern nicht die Kette gerissenen wäre.

In jener Woche trat Froome für das World Cycling Centre der UCI an. „Wenn es schwer wird, ist er sehr stark – besser als der Rest“, lobte ihn WCC-Coach Michel Thèze damals, schränkte jedoch ein, „aber er ist technisch noch nicht so gut. Er ist während des Rennens viermal gestürzt. Zwei seiner Stürze ereigneten sich auf der dritten Etappe und kosteten ihn 1:20 Minuten. Wenn du siehst, dass er in der Schlussabrechnung nur 1:25 hinter dem Sieger ist, kannst du dir leicht ausrechnen, wo er sonst gelandet wäre.“

Was für ein Omen das war! Fünf Jahre später, 15 Kilometer vor dem Ende der 1. Etappe der Tour de France 2012, als das Peloton durch einen Ort in den Ardennen namens Flémalle rollte, kostete ein plattes Hinterrad Froome 1:25 Minuten. Es dauerte nicht lange, bis sich die Leute fragten, ob ihn das nicht auch die Tour de France gekostet habe. Ja, Sky hatte von Anfang an klar gesagt, dass Bradley Wiggins der Kapitän ist, und ja, er gewann schließlich mit mehr als drei Minuten Vorsprung. Aber bestimmt wäre die Situation anders gewesen – und der Druck auf die Kommandokette von Sky größer -, wenn dieses Missgeschick auf dem Weg nach Seraing nicht passiert wäre.

Mit diesen Gedankenspielen musste sich Froome seit dem ersten Tour-Wochenende bestimmt schon einige Male beschäftigen, und erst recht, nachdem er in La Planche des Belles Filles in den Vogesen vor seinem Kapitän ins Ziel gesprintet war. Trotzdem versuchen wir unser Glück.

Froome lächelt. Er ist auf der Hut. „Wir sollten so fahren, dass …“ Er zögert, fängt von vorne an. „Der Plan war, dass ich Ersatzmann fürs Gesamtklassement bin, für den Fall, dass etwas mit Brad passiert, deswegen habe ich auf der 1. Etappe natürlich mein Bestes gegeben. Dort anderthalb Minuten zu verlieren, war natürlich ein ziemlicher Schlag, aber ich war froh, dass ich nicht mehr verloren habe, als ich sah, dass in den nächsten Tagen Leute stürzten und sich die Knochen brachen. Ich hatte Pech, aber wenn du dir jetzt das Gesamtklassement anschaust, hätten anderthalb Minuten nichts geändert.“ Wenn dem nur alle zustimmen würden.

Chris Froomes unorthodoxer Weg in den Profiradsport ist bereits Folklore, aber es lohnt sich, es kurz für diejenigen zusammenzufassen, die den Anfang verpasst haben.

1984 in Nairobi geboren, blieb er mit seinen englischen Eltern und den drei Brüdern 14 Jahre in Kenia. Sein Vater veranstaltete Safaris, seine Mutter arbeitete als Physiotherapeutin. Einmal, als er angelte, wurde Froome von einem Flusspferd gejagt. Diese Geschichte, das wissen wir, ist bis zum Gehtnichtmehr wiederholt worden. Den Froomes ging es gut, ohne dass sie kolonialen Klischees entsprachen. Chris hatte schon früh Fahrräder. Häufig fuhr er mit seinen Freunden ins Great Rift Valley, der hoch gelegenen Wiege von Generationen großer kenianischer Langstreckenläufer. Mit 13 fuhr er sein erstes Rennen – auf einem BMX-Rad. Als er 14 war, zog die Familie nach Johannesburg. Sie meldeten Chris am St. John’s College an, ein angesehenes Gymnasium, zu dessen ehemaligen Schülern auch der südafrikanische Cricketspieler Clive Rice gehört. Die Schule und ihre Sportteams sind berühmt für ihre Kriegsschreie, ihre Antwort auf den Haka-Kriegstanz des neuseeländischen Rugby-Teams. „Von Kenia aus dorthin zu gehen, war ein großer Schock. In Kenia bin ich auf eine kleine Schule gegangen und war an ein einfaches Leben gewöhnt, nahe an der Natur und den Tieren“, erinnerte sich Froome während der Tour.

„Ich war in Kenia die ganze Zeit auf einer Schule, auf die Weiße und Schwarze gingen. Es ist nicht wie Südafrika. Es ist viel entspannter. Es war ein ziemlicher Kulturschock, als ich nach Südafrika kam und erkannte, wie angespannt die ganze Situation war“, sagte er uns 2008.

Dieser „Kulturschock“, wie Froome es nannte, war der erste von vielen, die er in den nächsten Jahren erleben sollte, wobei jeder davon irgendwie den offensichtlichen Widerspruch seiner Persönlichkeit verstärkte, der ihn zu so einer interessanten Fallstudie macht. Der Radprofi, mit dem er am meisten gemeinsam hat, der Namibier Dan Craven, erklärt: „Er hat diese entspannte und unbekümmerte Art an sich, die sehr afrikanisch ist, aber er hat auch mehr mentale Stärke als jeder andere, den ich je getroffen habe, wenn es darum geht, sich dem Training zu widmen.“ Froomes alter Barloworld-Boss Claudio Corti kann das bestätigen: Er erinnert sich, dass Froome nach der Coppa Agostoni 2008 erklärte, er würde das Rennen um 70 Kilometer „verlängern“ und mit dem Rad nach Hause fahren. Ein anderer Barloworld-Sportdirektor, Alberto Volpi, nennt Froome einen „Trainings-Fundamentalisten“.

Froomes Problem während eines großen Teils seiner Karriere war, herauszufinden, was er mit seinen ganzen Pferdestärken machen konnte. Craven sagt, es sei nicht überraschend gewesen, dass er sich in den ersten Jahren, als er Rennen in Europa fuhr, schwertat mit der Taktik und dem Timing von Attacken, „weil er vor allem Rennen in Südafrika gefahren ist, wo die meisten dieser Rennen nicht länger als 100 Kilometer sind und meist mit einem Sprint enden“. In seinem ersten Jahr beim Team Sky hatte Froome zusätzlich das Handicap eines Bilharzia-Parasiten, den er sich vermutlich eingefangen hatte, als er seine Hand in einen Fluss in Kenia hielt, und der seine roten Blutkörperchen und seine Leistung verringerte.

Der Wendepunkt für Froome kam, als Sky Bobby Julich als Coach engagierte und ihn für die Saison 2011 Froome zuteilte. Julich erzählt die Geschichte weiter: „Wir haben Anfang des Jahres einige Labortests mit ihm gemacht, und es ergab keinen Sinn. Ich sah die Zahlen und sagte zu Rod [Sky-Coach Rod Ellingworth], die Maschine müsse falsch kalibriert sein, weil das die Zahlen von einem Fahrer waren, der aufs Podest der Tour de France fahren würde. Rod sagte mir, nein, sie sind richtig. Ich war baff.

Aber als wir anfingen zusammenzuarbeiten, erkannte ich sofort, dass Chris an seiner Organisation und Struktur arbeiten musste. Er war immer ein Tüftler – änderte immer seine Schuhe, sein Training, seine Ernährung oder was weiß ich. Er hatte auch zu viel trainiert, sogar, als er diesen Parasiten hatte, was seinem Selbstvertrauen und seiner Energie schadete.

Davon abgesehen ging es im letzten Jahr um die grundlegenden Dinge. Chris wusste nicht, wie man Rennen fährt. Ich musste ihm beibringen, wie man zur richtigen Zeit sein Pulver verschießt. Dazu haben wir versucht, ihn auf den ersten Etappen der Vuelta im letzten Jahr zurückzuhalten, damit er gleichmäßig fährt. Dort funktionierte es und in diesem Jahr haben wir im Prinzip die gleiche Taktik bei der der Tour de Romandie, der Dauphiné und der Tour angewandt.“

 

„Zurückhalten .“
Julich erwähnte Froomes Angriffslust – nicht in Bezug auf Wiggins, aber man kann diesen Eindruck leicht bekommen. In La Planche Des Belles Filles bekam Froome ein 200-Meter-Fenster, um seine Überlegenheit zu demonstrieren, mehr brauchte er nicht. Fünf Tage später, vor dem Etappenstart in Albertville, bat er Sportdirektor Sean Yates bei der Besprechung angeblich um Erlaubnis, drei Kilometer vor dem Ziel attackieren zu dürfen. Yates schloss das nicht aus, sagte Froome aber, es sei schwer, sich ein Szenario vorzustellen, in dem es eine angemessene Taktik sei, Wiggins zurückzulassen. Froome nickte. Einige Stunden später, fünf Kilometer vor La Toussuire, traf er die einsame Entscheidung, trotzdem zu
beschleunigen.

Dämmerte es Froome sofort, dass er trotz seines erklärten Ziels, Zeit auf Cadel Evans herauszufahren, gerade in ein ganz großes Wespennest stach? „Nein, nein. Ich meine, nachher habe ich es gesehen“, stottert er jetzt. „Auf der Straße war meine Überlegung, Brad wieder zu Nibali zu bringen, unserem größten Rivalen. Cadel war zurückgefallen. Nibali und ich waren in der Gesamtwertung sehr dicht beieinander, deswegen dachte ich, Brad ist in Sicherheit, wenn er bei Nibali ist. Nibali hatte vorher attackiert und war im roten Bereich,
deswegen dachte ich, er kann nicht mehr gefährlich werden. Es schien der perfekte Zeitpunkt zu sein, um ein bisschen von der Zeit wieder gutzumachen, die ich durch den Plattfuß
verloren hatte. Brad war in Sicherheit, also war es nicht gefährlich, dass ich vorfahre. Aber natürlich – ich ging, es war eine Attacke, und ich wusste, dass ich mich absetzte, dann hörte ich über Funk die Anweisung: ‚Nein, nein, gehe keine Risiken ein. Bleib bei Bradley. Fahr mit ihm ins Ziel und kümmere dich um ihn.‘

Natürlich war ich anfangs ein bisschen hin und her gerissen“, gibt Froome heute zu. „Ich dachte, es sei richtig, dass ich attackiere. Aber das Team ist das Wichtigste, und natürlich ist das Gelbe Trikot wichtiger, als sich Gedanken über die Sicherung des zweiten Platzes zu machen.“

Nicht viele Männer wären glaubwürdig, wenn sie so etwas in seiner Position sagen würden – während sich ein Teamkollege und schwächerer Kletterer im Raum nebenan über die Tour auslässt, die zu gewinnen er im Begriff ist -, aber Froome ist nicht der typische Radprofi, das haben wir festgestellt. „Chris würde nie jemanden blöd anmachen. So ist er einfach nicht“, sagt Ex-Fahrer Tim Lawson, dessen Haus Froome mietete, als er in Belgien für Konica-Minolta fuhr. „Er ist der liebenswürdigste und höflichste Junge, den man sich vorstellen kann“, pflichtet Dan Craven bei. Die negativste Bewertung seines Charakters, die wir hören, ist, dass Froome ein „Tagträumer“ ist – was vielleicht bedeutet, dass ihm der Zynismus
fehlte, um zu erkennen, wie sein ehrlicher Versuch, Zeit auf Cadel Evans herauszufahren und seinen zweiten Platz abzusichern, interpretiert werden würde. Als sie es im Fernsehen sah, ließ Bradley Wiggins’ Ehefrau Cath auf Twitter eine spitze Bemerkung über die Selbstlosigkeit und Loyalität von Richie Porte und Michael Rogers los – spitz, weil sie Froome in der Lobrede nicht erwähnte. Froomes Freundin Michelle Cound reagierte mit einem Wort: „Typisch!“. Am nächsten Tag widmete fast jede Zeitung, die über die Tour berichtete, dem Zickenkrieg der Fahrerfrauen eine Zeile oder eine ganze Geschichte.

Im Gespräch mit Procycling stritt Cound im August nicht ab, dass sie enttäuscht war, als Froome nur wenige Momente nach seiner Attacke im Anstieg nach La Toussuire schon wieder die Beine hochnahm. „Ich wusste, wie stark sich Chris an dem Tag fühlte, und so weit ich wusste, hatten sie vereinbart, dass er auf Etappensieg fahren kann, wenn das Gelbe Trikot nicht in Gefahr ist“, so Cound. „Ich dachte, es geht alles nach Plan, bis Chris das Tempo rausnahm und mit der Hand nach seinem Ohrstöpsel griff. Ich war sprachlos und enttäuscht. Ich denke, dass er nicht nur in der Lage hätte sein müssen, den Etappensieg zu holen, sondern auch Zeit auf seine anderen Rivalen [Nibali und Evans] herauszufahren, um seinen
Platz auf dem Podest zu sichern. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Bradleys Position gefährdet war.“ Das Problem war vielleicht weniger Wiggins’ Position als seine Aura. Bis zu dem Zeitpunkt hatte er unangreifbar gewirkt, jetzt war das dank Froome nicht mehr der Fall. Plötzlich fand sich auch Sky-Teamboss Dave Brailsford mit unablässigen und unangenehmen Fragen konfrontiert – wer denn der Kapitän sein solle, Wiggins oder Froome, und ob das Verhältnis der beiden ähnlich sei wie das ihrer Partnerinnen. „Sie können tun, was sie wollen“, antwortete Brailsford am zweiten Ruhetag in Pau kurz angebunden auf Fragen nach Miss Cound und Mrs. Wiggins. Sowohl Froome als auch Cound erzählen uns, dass Brailsford
nicht versucht habe, Counds Twitter-Mitteilungen zu zensieren.

Wie üblich blieb die Diplomatie an Froome hängen. Am letzten Tag der Tour gibt er zu: „Ich habe [Michelle] natürlich gesagt, dass sie aufpassen muss, was sie in der Öffentlichkeit sagt, weil die Leute da etwas hineininterpretieren und das alles unter die Kategorie Klatsch fällt. Aber sie ist nicht anti-Brad oder gegen das Team, sie will nur das Beste für mich. Sie weiß, wie hart ich dafür gearbeitet habe … Aber das haben wir natürlich alle.“

Wenn das Froome ist, der seine ganze Finesse zeigt, so warf Yates ihm „mangelndes Taktgefühl“ vor, als er sich auf der letzten Pyrenäen-Etappe nach Peyragudes abermals von Wiggins absetzte. Als Vincenzo Nibali zurückgefallen war, drehte sich Froome um und schien Wiggins mit einem Wink der rechten Hand auffordern zu wollen. Wiggins starrte auf den Asphalt und reagierte nicht. Wieder musste Froome verlangsamen. Die Journalisten im Presseraum in Luchon stöhnten unisono. „VERDAMMT, GEEEEEH!“, twitterte Cound dieses Mal. Später schrieb sie: „Plötzlich keine große Lust auf Paris am Sonntag, was für ein Witz“, nahm den Eintrag dann aber wieder raus.

Froome erzählt uns zwei Tage später in Chartres, seine Geste mit der Hand sei rein instinktiv gewesen. „Ich wusste, dass Nibali abgehängt war – ich wollte ihm einfach nur sagen, los, häng dich an mein Hinterrad. Lass uns das ausnutzen. Ich wollte ihm damit nicht sagen, los jetzt, beeil dich, du großer Ochse, oder so etwas. So ist das überhaupt nicht“, betont er.

Auch Michelle Cound versichert uns, dass sie nicht nur nach Paris reiste, sondern von Sky auch herzlich empfangen wurde. „Ich hatte ein sehr nettes Mittagessen mit einigen Leuten von Sky und British Cycling. Das Thema Twitter kam zur Sprache, und wir lachten darüber. Keine andere Frau oder Freundin war dabei. Cath oder Brad habe ich noch nicht kennengelernt. Sie scheinen nicht sehr kontaktfreudig zu sein, was irgend jemanden vom Team angeht, um ehrlich zu sein.“ Und Brailsford? „Ich habe Dave nach der letzten Etappe kennengelernt. Keine Probleme – ich denke und hoffe, dass liegt daran, dass er meine Position versteht. Wir haben im Ritz in Paris etwas getrunken und sind dann mit Mark [Cavendish], Bernie [Eisel] und ihren Freundinnen direkt nach London geflogen.“

In Wahrheit brauchten wir Michelle Counds Twitter-Kommentare nie, um uns in ihren Freund hineinzuversetzen. Froome selbst hatte während der Tour zugegeben, dass es „schwer“ sei, an die Teamorder gebunden zu sein, nachdem er vorher poetisch von der „Legende des Mannes, der den Berg hochklettert und nur auf sich selbst zählen kann“ erzählt hatte, ein Bild, das, wie er sagte, auf ihn selbst „gut passte“. 2013 würde Wiggins den Gefallen hoffentlich erwidern, sagte er. „Bradley ist ein ehrlicher Typ. Ich weiß, dass er mir helfen
wird“, zitierte ihn L’Équipe.

Aber gleichzeitig haben viele von uns, wenn wir uns seine Verstimmung vorgestellt haben, vielleicht übersehen, dass Froome Gründe hat, mit seiner diesjährigen Tour sehr zufrieden zu sein. Als zwölf Monate zuvor sein Zwei-Jahres-Vertrag mit Sky ausgelaufen war, hatte er wenig Erfolge auf dem Konto, einen geringen Marktwert und nur zwei bescheidene Angebote für die kommende Saison auf dem Tisch. Sein Agent Alex Carera erinnert sich: „Wir hatten konkrete Angebote von Garmin und Cofidis. Ich fragte Chris vor der Vuelta, was er denkt, wie er fahren würde, und er sagte, er fühle sich gut, also warteten wir ab. Damals sprach Sky auch von einer Verlängerung des Vertrags – aber nur für rund 100.000 Euro. So, wie die Vuelta sich entwickelte, waren wir in der Tat sehr froh, gewartet zu haben.“

Froomes Vertrag mit Sky, wo er dem Vernehmen nach einen siebenstelligen Betrag verdient, läuft noch zwei Jahre. Aber Carera will sich am Ende der Saison mit Brailsford treffen, um entweder über einen ganz neuen Vertrag oder eine Gehaltserhöhung und Verlängerung zu sprechen. „Chris fühlt sich dort im Moment sehr wohl, aber um ihn glücklich zu machen, müsste man langfristig in ihn investieren“, sagte uns Carera im August.

Es sei auch daran erinnert, dass es noch vor ein paar Monaten unsicher war, ob Froome die Tour 2012 überhaupt fahren würde. Bei der letztjährigen Vuelta hatte er eine Sonnenallergie entwickelt, bei der sich auf Armen und Beinen, nachdem sie der Sonne ausgesetzt waren, juckende Quaddeln bilden. Bei der Volta ao Algarve im Februar zog er sich eine Erkältung zu, aus der „fast eine Lungenentzündung geworden“ wäre, wie Cound sagt. Nachdem im März wieder der Bilharzia-Parasit diagnostiziert wurde, begann Froome im April eine medikamentöse Behandlung und verlor noch eine Trainings- und Rennwoche. Wie es seine Freundin ausdrückt, haben sein Selbstvertrauen und sein Körper im Frühjahr „schwer gelitten“.

Froomes Ergebnisse in diesem Sommer sind vor diesem Hintergrund sogar noch bemerkenswerter. Deswegen glaubt auch sein Coach Bobby Julich, dass er noch viel, viel mehr auf Lager hat. „Er hat das alles nach nur 18 Monaten intensiver Arbeit erreicht“, lobt Julich. Aber an der Größe seines Motors bestanden auch nie Zweifel. Andererseits: Wie Wiggins während der Tour sagte, könnte alles schwerer sein, wenn Froome unter dem Druck steht, eines der hochkarätigsten Teams eine Saison lang anzuführen, wenn er mit den damit einhergehenden externen Ablenkungen und Verpflichtungen klarkommen muss und als Favorit in die Tour geht.

Froome weiß das und sagt, dass ein Jahr als Ersatzmann für Wiggins die perfekte Lehre war. „Für mich es einfach eine fantastische Erfahrung, bei der ich viel gelernt habe“, sagt er uns. „Ich war ganz vorne im Rennen, genau da, wo die Post abgeht, genau da, aber ich hatte nicht den ganzen Druck, den Brad als Spitzenreiter hatte. Diese Erfahrung war für die Zukunft sehr wertvoll für mich. Es war wie ein Fenster, durch das ich sehen konnte, wie es ist, wenn man bei der Tour führt, ohne mit irgendetwas umgehen zu müssen, das damit einhergeht.“

Bei unserem Redaktionsschluss war Froome im Begriff, uns bei der Vuelta a España zu zeigen, wie viel er in dieser Situation gelernt hat. Wie groß Dave Brailsfords Dilemma bei Tour de France 2013 ist, sollte vom Ergebnis dort abhängen.



Cover Procycling Ausgabe 104

Den vollständingen Artikel finden Sie in Procycling Ausgabe 104.

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